Deutsche Bibelgesellschaft

Ausblick: Biblische Theologie

Begriff

Die Bezeichnung „Altes Testament“ stammt aus dem Neuen Testament, sie wurde von Paulus geprägt (2Kor 3,14) und hat sich in den christlichen Kirchen durchgesetzt. Neben dem im Christusgeschehen begründeten neuen Bund gibt es Paulus zufolge den einen alten Bund, den Gott mit Israel am Sinai geschlossen hat. Damit wird der Anspruch der hebräischen Bibel, Zeuge dieses Gottesbundes zu sein, ernst genommen. Gleichzeitig erhält der Sinaibund aber die Bewertung, alt, veraltet und für Christen nicht mehr gültig zu sein. So entsteht die Frage, welche Bedeutung das Alte Testament innerhalb der gesamten Bibel hat. Dabei ist auch zu bedenken, welche eigene Aussage dieser erste Teil der Bibel hat. Der Horizont dieser Überlegung ist die Tatsache, dass das Judentum nur den Tanach als Bibel einschätzt.

Urchristentum

Zunächst ist festzuhalten, dass den ersten Christen das Alte Testament selbstverständlich als heilige Schrift galt. Dies ist darin begründet, dass ihnen, die ja Juden waren, Jesus als Christus galt, also als der in der hebräischen Bibel geweissagte Messias. Im Gespräch mit anderen Juden mussten sie diese Überzeugung aus der Schrift begründen. Folglich zogen sie bestimmte Texte der Bibel zum Beweis heran. Die sicher bekannteste Stelle mit einem solchen Weissagungsbeweis findet sich in Mt 1,21-23, wo die Jungfrauengeburt Jesu nach Jes 7,14 erwiesen werden soll. An anderen Stellen wird mit dem Modell der Typologie zwischen Altem und Neuem Testament gearbeitet: Nach Röm 5,12-21 ist durch Christus als erstem Auferstandenen das Leben in die Welt gekommen, wie durch Adam seinerzeit der Tod kam. Adam ist also ein negatives Gegenstück (wörtlich: Vorbild, gr. typos) Christi. Ein drittes Modell ist das des allegorischen Verstehens: Die Texte des AT haben danach einen tieferen Sinn, der erst durch das Christusgeschehen erfüllt wird. So soll sich nach Mt 2,17f. das Weinen der Rahel um ihre Kinder aus Jer 31,15 auf den Kindermord in Bethlehem beziehen, diesen vorhersagen.

Voraussetzung dieses Umgangs mit der Schrift ist der Gedanke, dass nicht nur die offen gebliebenen Verheißungen des Alten Testaments im Neuen ihre Erfüllung finden. Das AT weist vielmehr als Ganzes auf das NT hin, ist ohne es unvollständig. Dies führte in der Alten Kirche zu Parallelisierungen zwischen Altem und Neuem Testament, die heute nicht mehr unmittelbar einleuchten. Ein gutes Beispiel dafür ist die oben erwähnte Überzeugung, dass die von Ezechiel gesehenen Wesen Vorabbildungen der vier Evangelisten seien.

Historischer Zugang

Seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Erforschung der Bibel ist dieses unmittelbare Verständnis eines Zusammenhangs zwischen AT und NT nicht mehr problemlos möglich. Wenn man vor allem die Frage in den Mittelpunkt stellt, was der Text zu seiner mutmaßlichen Entstehungszeit sagen wollte, verschieben sich die Horizonte. Es muss nun davon ausgegangen werden, dass die hebräische Bibel eine eigene Aussageabsicht besitzt, die nicht einfach mit der der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament identisch ist. Innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft hat sich nach dieser Erkenntnis die Forschungsrichtung der Theologie des Alten Testaments gebildet. Sie bemüht sich darum, die eigene theologische Aussage der hebräischen Bibel zu beschreiben.

Mitte des AT?

Damit stellte sich aber die Frage, was als angemessene Beschreibung gelten kann. Noch schärfer formuliert, wurde gefragt, ob es überhaupt eine einheitliche Aussage des AT gebe. Verschiedene Entwürfe haben dieses Problem so beantwortet, dass es eine gedankliche Mitte des AT gebe, um die sich die einzelnen Schriften ordnen lassen. So wurde vorgeschlagen, als Mitte des AT den Bundesgedanken, die Bekanntgabe des JHWH-Namens, das erste Gebot oder die Erwählung Israels durch Gott zu sehen. Gegen solche Versuche hat sich besonders Gerhard von Rad gewandt, der keine einheitliche Theologie des AT akzeptieren wollte. Im Kanon gebe es vielmehr sehr unterschiedliche Traditionen mit je eigener Aussageabsicht („Kerygma“), die es darzustellen gelte. Die einzig legitime Form einer Theologie des AT sei daher das Nacherzählen der alttestamentlichen Stoffe (G. von Rad, Theologie des AT, Bd. 1, 1957).

Religionsgeschichte Israels

Eine ähnliche Beschreibung der Aussagen der einzelnen biblischen Schriften oder Schichten unter Verzicht auf Herausstellung einer Leitidee unternehmen auch Versuche, eine Religionsgeschichte Israels zu formulieren. (So etwa der Entwurf von R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 2 Bde., 1992.) Dabei wird die Entwicklung der israelitischen Religion von ihren frühesten Anfängen an nachgezeichnet, dies unter ausdrücklicher Einbeziehung religionsund sozialgeschichtlicher Fragestellungen. Bei solchen Versuchen besteht der Anspruch eher darin, das vorhandene Material beschreibend vorzustellen als zu interpretieren. Schwierig ist bei diesem Ansatz auch, dass die alttestamentlichen Schriften ja in der Regel sehr viel später als die in ihnen beschriebenen Ereignisse abgefasst wurden. Man muss also die spätere Aussageabsicht berücksichtigen, wobei man die konkrete Datierung der Texte meist nur vermuten kann. Der Vorteil eines solchen historischen Zugangs kann allerdings darin gesehen werden, dass sich die Geschichte der Religion Israels so offen darstellen lässt, dass sie dem Faktum des doppelten Ausgangs der hebräischen Bibel in Judentum und Christentum gerecht wird.

AT – NT

Im Horizont eines christlichen Zugangs zum Alten Testament bleibt damit aber ungeklärt, welche Aspekte des vielfältigen Zeugnisses beider Teile der Bibel den inneren Zusammenhalt der Testamente ermöglichen. Selbst bei oberflächlicher Lektüre ist ja festzustellen, dass sich die Themen der beiden Bücher nicht immer entsprechen: Während beispielsweise im AT die Schöpfungsthematik einen großen Raum einnimmt, wird das Thema im NT einfach vorausgesetzt, nicht eigens bedacht. Die Erwartung der Auferstehung, die im NT für Jesus Christus als Tatsache und für alle Christen als Hoffnung formuliert wird, ist im AT hingegen nur ansatzweise feststellbar. Es entsteht hier das Zusatzproblem der Weiterentwicklung alttestamentlicher Traditionen in der sogenannten zwischentestamentlichen Literatur.

Die Septuaginta

Hinzu kommt, dass die ersten Christen ihre Bibel nicht nur in hebräischer Sprache, sondern vor allem in Gestalt der Septuaginta lasen. Diese griechische Übersetzung weist nun an einer ganzen Reihe von Stellen vom hebräischen Original ab. So ist in Jes 7,14 nur in der LXX von der „Jungfrau“ die Rede; der hebräische Text spricht von einer „jungen Frau“, womit gemeint ist, dass sie noch kein Kind geboren hat. Die Weissagungen des Sehers Bileam (Num 22-24) werden in der griechischen Bibel so übersetzt, dass sie vom Kommen des Messias reden, vgl. 24,17: „Ein Stern wird aufsteigen aus Jakob und ein Mann auf(er)stehen aus Israel“. Nur vor dem Hintergrund dieser neu akzentuierten Aussagen wird etwa die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland (Mt 2,1ff.) verständlich. Das Alte Testament der Christen ist also nicht einfach identisch mit der Bibel des Judentums.

Biblische Theologie

Vor dem Hintergrund solcher Fragen sind in der letzten Zeit verstärkt Versuche unternommen worden, das Nebeneinander von alt- und neutestamentlicher Theologie durch eine übergreifende Biblische Theologie zu überwinden. Dabei wird beispielsweise nach einer inhaltlichen Mitte für beide Testamente gesucht, zum Beispiel das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu und die Vorformen dieser theologischen Aussage. Andere Forscher sehen die Einheit der Biblischen Theologie darin, dass es eine Traditionsbildung vom AT zum NT hin und über das NT hinaus gebe. Ein dritter Entwurf fragt nach gemeinsamen Grundfragen menschlicher Existenz, die sich im AT und im NT angesprochen finden. Eine solche Frage wäre die nach der Schöpfungsordnung Gottes, die die Welt zu umfassender Gerechtigkeit führt. Ein weiterer, gänzlich anders gearteter Entwurf möchte nur die Endgestalt des biblischen Kanons Alten und Neuen Testaments als maßgeblich für eine biblische Theologie gelten lassen. Einer Rückfrage auf frühere Traditionen oder Schichten wird keine Bedeutung mehr zugemessen.

Andere Zugänge

Neben diesen Ansätzen gibt es auch Zugangsweisen, die nicht von den Voraussetzungen der historisch-kritischen Exegese ausgehen. Von ihnen soll hier nur auf wenige hingewiesen werden: die feministische Perspektive, der befreiungstheologische Zugang und die tiefenpsychologische Bibelauslegung. Hier wird jeweils bewusst ein eigener Zugang gewählt, um über die Leitfragen der Methode zu einem ganzheitlichen Verständnis der Bibel kommen zu können. Besonders die ersten beiden Perspektiven sind in jüngster Zeit durch die Veröffentlichung der „Bibel in gerechter Sprache“ auch von einer breiten Öffentlichkeit intensiver diskutiert worden.

Persönlicher Zugang

Die wissenschaftliche Diskussion über diese Fragen dauert noch an. Doch jede/r einzelne Bibelleser/in wird nicht umhin kommen, sich selbst bei der Lektüre die Frage zu stellen, vor welchem Hintergrund er/sie die jeweilige Schrift liest. Mit welchen Fragen nähert man sich dem Text? Sucht man religionsgeschichtliche Information oder persönliche Wegführung und Erbauung? Wie geht man selbst mit der Zweiteilung der Bibel um? Die in der wissenschaftlichen Literatur formulierten Modelle können nie Ersatz für das eigene Denken sein oder bruchlos für die eigene Existenz übernommen werden. Sie können nur dazu anleiten, den eigenen Zugang zur Bibel zu überdenken und – im Glauben – eigene Antworten zu versuchen. Wenn dies gelingt, ist die Theologie ihrer Aufgabe gerecht geworden.

Literatur

Jahrbuch Biblische Theologie, Band 6: Altes Testament und christlicher Glaube, 1991; Band 10: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? 1995.

Chr. Dohmen, T. Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer Theologie, 1995.

H. Spieckermann, R. Feldmeier, Der Gott der Lebendigen: Eine biblische Gotteslehre, 2011.

K. Schmid, Gibt es Theologie im Alten Testament? ThS 7, 2013.

Deutsche Bibelgesellschaftv.4.26.9
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