Deutsche Bibelgesellschaft

Die Qumran-Schriften und das Alte Testament

Fund

Am westlichen Ufer des Toten Meeres liegt südlich von Jericho und nördlich von En-Gedi eine Chirbe (Ruinenhügel), die von den Beduinen dieser Gegend Qumran genannt wird. Der Überlieferung nach fand in einer Höhle nahe bei Qumran um 1947 ein Beduinenjunge mehrere Leder-Schriftrollen, die auf Umwegen in den Antikenhandel und dann in die Hände israelischer Forscher gelangten. Sehr bald wurde deutlich, dass es sich um Texte von außerordentlich hohem Alter handeln musste. Von 1951 bis 1958 gab es (neben der anhaltenden Suche der Beduinen) mehrere wissenschaftliche Untersuchungen im Gebiet von Qumran, bei denen in insgesamt 11 Höhlen die zeitweise stark umstrittenen Texte und Fragmente geborgen wurden.

Handschriften

Insgesamt wurden im Gebiet um Qumran ca. 900 Handschriften gefunden, die aber in sehr unterschiedlicher Weise erhalten sind. Manche Schriftrollen sind in so gutem Zustand, dass sie als nahezu vollständig gelten können; von anderen haben nur briefmarkengroße Fragmente überlebt. Ausschlaggebend für den unterschiedlichen Erhaltungsstand war das Material der Handschrift (Leder oder Papyrus), der Lagerort und teilweise die Verpackung (Tonkrug, Stoffsäckchen).

In der modernen Forschung hat sich ein eigenes Referenzsystem zur Benennung der Rollen eingebürgert: Zunächst wird die Höhle genannt, aus der die Handschrift stammt, darauf folgt ein ,Q‘ für Qumran als Fundlage darauf eine Kurzangabe des Inhalts oder die Fundnummer. Eine römische Zahl kann dann die Kolumne, eine arabische Zahl die Zeile bezeichnen. 1QpHab VIII,1 verweist also auf die 1. Zeile der 8. Kolumne der aus Höhle 1 stammenden Schrift päschär Habakuk (= Kommentar zum Buch Habakuk).

Publikation

Die Mehrzahl der großen, gut erhaltenen Schriftrollen wurde in sehr kurzer Zeit nach Fund, Entzifferung und Bearbeitung veröffentlicht. Dafür war ein international besetztes Forscherteam zuständig; eine eigene Publikationsreihe, Discoveries in the Judaean Desert (DJD), wurde gegründet. In den Folgejahren geriet der Publikationsprozess jedoch ins Stocken. Dafür waren verschiedene Faktoren verantwortlich: Schwierigkeiten bei der Entzifferung und Zuordnung der Fragmente, die schwindende finanzielle Förderung des Projekts und persönliche Probleme der Forscher, keinesfalls jedoch ein wie auch immer gearteter Einfluss der römischen Kirche. Nach weltweiten Protesten wurde zu Beginn der 90er Jahre das gesamte Publikationsverfahren neu organisiert, so dass die offizielle Publikation in den DJD-Bänden inzwischen abgeschlossen ist.

Datierung

In Qumran wurden hebräische, aramäische und griechische Texte gefunden, die aus der Zeit des 2. Jh. v. Chr. bis ca. 68 n. Chr. stammen. Einige Texte sind möglicherweise noch älter. Für die Sammlung dieser Texte war nach gegenwärtiger Mehrheitsmeinung eine Gruppe verantwortlich, die sich wohl um 150 v. Chr. von der Tempelgemeinde in Jerusalem abgesondert hatte. Es ist wahrscheinlich, dass diese Gruppe bei verschiedenen antiken Autoren, vor allem Plinius und Josephus, unter dem Namen Essener erwähnt wird.

Gegenwärtig wird aber auch die These intensiv diskutiert, dass die Ruinen in Qumran nichts mit den in der Nähe gefundenen Rollen zu tun haben. So sei die Siedlung etwa zur Parfümherstellung oder als Landgut genutzt worden. Die Schriften stammten dagegen aus Jerusalem und wurden in der Zeit des jüdischen Aufstands gegen die Römer in den Höhlen am Toten Meer versteckt. Allerdings lässt diese These so viele Fragen offen, dass die bisherige Überlegung plausibler ist, wonach die Schriftrollen von den in Qumran lebenden Menschen aufbewahrt und zum Teil auch geschrieben worden sind. Recht eindeutig ist demgegenüber der archäologische Befund, wonach die Siedlung in Qumran um ca. 100 v. Chr. gebaut und dann im Jahre 68 n. durch die Römer zerstört wurde.

Bibelhandschriften

Die erhaltenen Schriften weisen einen sehr unterschiedlichen Charakter auf. Die für die alttestamentliche Wissenschaft zunächst wichtigste Gruppe ist die der Bibelhandschriften. Von allen biblischen Büchern (Ausnahme ist möglicherweise Ester) finden sich Exemplare oder Fragmente. Damit stehen der Forschung Texte zur Verfügung, die um 1000 Jahre älter sind als die bisher grundlegenden hebräischen Bibelhandschriften der Masoreten. Das durch diese Handschriften gewonnene Bild ist überraschend: Einerseits finden sich Texte, die praktisch dieselbe Textform aufweisen wie der jüngere Masoretische Text. Dies zeigt, wie genau die jüdischen Texttradenten im Mittelalter gearbeitet haben. Andererseits finden sich aber auch Textformen, die der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, nahestehen. So belegen Texte aus Qumran den sonst nur in der LXX erhaltenen kürzeren Text des Jeremiabuches. Andere biblische Texte stehen der samaritanischen Tradition nahe oder haben kein erkennbares Vorbild. Daraus ist zu folgern, dass es im Judentum zu dieser Zeit keine verbindliche Textform biblischer Schriften gegeben hat. Der für uns heute maßgebliche Masoretische Text ist erst im Lauf einer bestimmten Entwicklung im zweiten Jahrhundert als Standardtext etabliert worden. Er ist also nicht unbedingt in allen Fällen der älteste oder zuverlässigste Text.

Kanonfrage

Hinzu kommt ein weiteres Faktum: Die Qumran-Gemeinde hat offenkundig auch Bücher als verbindliche Schrift gewertet, die nicht in den späteren Kanon aufgenommen wurden. (Dies gilt auch für die neutestamentliche Gemeinde.) Im Gegenzug sind wohl andere Schriften, die vom späteren rabbinischen Judentum für kanonisch erklärt wurden, nicht mit dieser Autorität behandelt worden. Das führt zu der Frage, ob nicht die Verwendung des Begriffs „Kanon“ für diese Zeit ganz vermieden werden sollte. Es scheint so, als haben einzelne Gruppen innerhalb des damaligen Judentums ihre Sammlung von Rollen heiliger Schriften unabhängig voneinander definieren können. Abgesehen von der Tora gab es also eine allgemein verbindliche Bibel nicht. Hinzu kommt: Selbst wenn verschiedene Gruppen dasselbe Buch in Ehren hielten, konnte die Textform bei beiden Gruppen sehr unterschiedlich sein. Daraus folgert zusätzlich, dass es ein einheitliches Judentum, von dem in der Forschung so oft ausgegangen wird, nicht gegeben hat.

Nichtbiblische Schriften

Auch die in Qumran gefundenen nichtbiblischen Schriften haben das Wissen wesentlich bereichert. Dabei ist einschränkend anzumerken, dass oft nicht klar zu erkennen ist, ob die betreffende Schrift von der Qumran-Gruppe selbst stammt und dort in irgendeiner Weise maßgeblich war, oder ob sie dort nur zum Studium in der „Bibliothek“ aufbewahrt wurde. So geben die Texte, die als sicher von Essenern verfasst gelten, Aufschluss über das Leben dieser Gruppe (so die Schrift 1QS, die sog. Sektenregel, und CD, die sog. Damaskusschrift), ihre Endzeiterwartung (1/4QM, die Kriegsrolle) oder ihre Bibelexegese (1QpHab, s. o.).

Andere Schriften lassen Vorstellungen erkennen, die bekannte alttestamentliche Traditionen weiterentwickeln: So ist eine Ausdifferenzierung der auch im Danielbuch greifbaren Engellehre festzuhalten: Nach dem in verschiedenen Exemplaren erhaltenen Buch der Sabbatopfer-Liturgie (4Q400-407; 11Q5-6) vollziehen die Engel im Himmel einen Gottesdienst, der als Vorbild des irdischen Gottesdienstes gilt. Die Tempelrolle (11QT) korrigiert das deuteronomische Gesetz an einigen Stellen und war möglicherweise als Zusatz zur Tora gedacht. Viele andere Texte deuten biblische Bücher oder nur einzelne Bibelstellen aus, so das aramäische Genesis-Apokryphon (1QApGen) oder das an Gen 6,1-4 angelehnte Gigantenbuch (2Q26; 4Q203). Mit dem Wissen um diese Texte werden jetzt wesentliche Verständnislücken des Traditionsprozesses vom Alten zum Neuen Testament geschlossen. Das gilt besonders für die Weiterentwicklung messianischer und eschatologisch-apokalyptischer Vorstellungen.

Ergebnisse

Es ist festzuhalten, dass die Funde von Qumran wesentliche neue Einsichten für die alttestamentliche Wissenschaft bringen. Dies gilt besonders für die Spätzeit des Alten Testaments, für Fragen der Textüberlieferung und der Traditionsbildung in der zwischentestamentlichen Zeit. Wegen der Fülle der Details ist das Bild aber unübersichtlicher geworden, so dass die durch Qumran aufgeworfenen Fragen noch immer nicht angemessen diskutiert werden.

Literatur

Textausgaben: F. García Martínez, E. J. C. Tigchelaar (Eds.), The Dead Sea Scrolls. Study Edition, Vol. I, 1997; Vol II, 1998 (hebr./aram.-engl.).

J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Band I-III, 1995-1996 (nur deutsche Übersetzung).

Deutsche Bibelgesellschaftv.4.26.9
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