Mittlerweile dauert der schreckliche Krieg in der Ukraine ein Jahr an. Rostislav Stasjuk ist Sprecher der Ukrainischen Bibelgesellschaft und an ihrem Sitz in Lwiv auch für viele Koordinationsaufgaben zuständig. Der Rest seiner Familie musste fliehen, aber Rostislav ist geblieben. Er setzt sich dafür ein, dass noch mehr seiner Landsleute die Möglichkeit haben, Hoffnung in den Worten der Bibel zu finden. Wir haben ihn gefragt, was der Krieg mit ihm gemacht hat und wie er es schafft, trotz allem durchzuhalten.
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Wie geht es dir, nach einem Jahr im Krieg? Wie fühlst du dich?
Ein Jahr lang mitten in einem heftigen Krieg zu leben, macht einen fertig, selbst wenn man nicht an der Front ist. Unser ganzes Volk ist betroffen, die ganze Nation ist mobilgemacht und keiner kann sich raushalten oder mal eine Pause vom Krieg einlegen. Manche Menschen, die ich kenne und die sehr engagiert sind, hatten einen Herzinfarkt oder Schlaganfall oder andere gesundheitliche Probleme, einfach weil sie es sich nicht leisten können, auch mal langsam zu machen. Die Nöte um sie herum sind einfach zu groß. Wir als Zivilisten sind nicht darauf vorbereitet worden, mit dieser Art von Stress umzugehen. Die Gefühle, mit denen man täglich zu tun hat, können einen zerstören.
Irgendwann wird uns allen klar, dass wir versuchen sollten, uns einigermaßen gut um uns zu kümmern, damit wir länger durchhalten können. Wir mussten von einer Sprint-Mentalität zu einem Marathon-Denken umschalten.
Andererseits findet man Kraft, von der man nie dachte, dass man sie haben könnte – ähnlich wie wenn man sein erstes Kind bekommt. Beim Einsatz für Menschen gibt es keine größere Motivation, als zu wissen, dass jede Mühe zählt: Jede Bibel, die wir weitergeben, hat die Kraft, die aktuelle Situation und die Zukunft von jemandem zu verändern. Aber es laugt einen aus, deshalb sehnen wir alle den Tag herbei, wenn der Krieg vorbei ist und wir alle eine Pause machen können.
Vor was hast du am meisten Angst?
Die größte Angst ist für mich, dass der Krieg zu lange dauert. Dass wir unsere Vorkriegsidentitäten aufgrund der Gewalt und der täglichen Tragödien verlieren, und dass es mit unserer Nation einfach nur bergab geht. Um das zu verhindern, glaube ich, dass es keinen anderen Weg gibt, als uns dazu zu zwingen – einzeln und gemeinsam -, mit der Quelle von Menschlichkeit und Führung verbunden zu bleiben: der Bibel
Wie hat der Krieg dich verändert (und die Art und Weise, wie du über Gott und den Glauben denkst)?
Leider hören wir manchmal auf, für den Schmerz– in uns und in anderen Menschen – sensibel zu bleiben, um das Leid irgendwie überleben zu können. Es gibt zu viele Todesopfer, zu viel Schmerz; man hält das nicht durch, wenn man seinen Gefühlen immer freien Lauf lässt. Deshalb sind wir weniger von Emotionen getrieben (obwohl sie die meisten von uns immer noch von Zeit zu Zeit übermannen) und mehr von dem Wissen, was zu tun wir berufen sind.
Wenn man andererseits miterlebt, wie zerbrechlich das Leben ist, richtet man seine Gedanken automatisch auf Gott, auf die Ewigkeit, auf geistliche Dinge. Auch die Wunder mitzuerleben, die um einen herum geschehen, bringt einen näher zu Gott. Und schließlich schätzt man ganz grundlegende Dinge wieder und wird für sie dankbar: Licht und Wärme im Haus, eine durchgeschlafene Nacht oder ein ruhiger Morgen ohne Sirenen, Zeit mit der Familie, Zusammenkommen mit Geschwistern im Glauben und viele, viele andere Dinge.
An was fehlt es euch am meisten? Was brauchen die Leute am meisten?
Als Bibelgesellschaft geht es uns vor allem darum, genügend Bibeln zu haben. Jedes Mal, wenn unsere Teams in die Frontgebiete und kürzlich befreiten Gegenden fahren, gehen die mitgenommenen Bibeln leider viel zu schnell aus. Es gibt immer jemanden, der keine Bibel mehr bekommt. Der Bedarf übersteigt unsere Bestände bei Weitem, weshalb wir finanzielle Unterstützung brauchen. Wir haben ein unglaubliches Netz an Kirchen und Organisationen, die sich um die Opfer des Krieges kümmern. Was wir also wirklich brauchen, sind mehr Bibeln, damit wir sie in die richtigen Hände weitergeben können.
Und dann gibt es natürlich einen großen Bedarf an Essen, Hygieneartikeln, Medizin, warmer Kleidung. In vielen Gegenden brauchen Menschen Taschenlampen, Powerbanks, tragbare Herdplatten usw.
Hast du gerade einen Lieblingsbibelvers, der dir Stärke gibt und dich leitet?
Es gibt eine Reihe von Versen, die mir helfen, wenn ich entmutigt bin, zum Beispiel: Philipper 4,6-7 (meine Nummer 1), Psalm 118,6-7, Römer 8,31, Psalm 91, 5. Mose 31,6, Josua 1,9.
Es ist unglaublich, denn einige Verse, die ich schon lange kenne, haben in dieser Situation eine ganz neue Bedeutung für mich gewonnen. Die Bibel ist wirklich wunderbar, denn man findet immer etwas, das in besonderer Weise zu einem in die aktuelle Situation hineinspricht – aber dazu muss man natürlich eine haben. Deshalb ist unsere vorrangige Aufgabe, so vielen Menschen wie möglich Zugang zur Bibel zu verschaffen.