Deutsche Bibelgesellschaft

Ambiguität

Schlagworte: Ambiguitätstoleranz; Ambiguitätsintoleranz; Ambiguitätsmanagement

(erstellt: März 2024)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400027

1. Einführung in didaktischer Perspektive

Die eingehendere Beschäftigung mit religiösen, sozialen und ethischen Fragen führt oft nicht zu unabweisbaren, eindeutigen Klärungen. Tiefergehenden Antworten ist vielmehr eine gewisse Offenheit eigen; so erlauben gewählte Sprachformen, Bilder und Erfahrungen häufig unterschiedliche Deutungen, in anderen Fällen führen die Fragen zu weiteren Fragen ohne eine letzte Lösung. Während in der Schule beispielsweise naturwissenschaftliche, mathematische oder in den Fremdsprachen auch grammatikalische Aufgaben praktisch durchgehend zu Lösungen führen, die entweder richtig oder falsch sind, bleiben Fragestellungen und Deutungen in sozialen Konstellationen oder eben auch in religiösen Traditionen unterschiedlich auffassbar, ambig bzw. gegenüber einem Eindeutigkeit anstrebenden Weltzugang widerständig. Das sollte als solches auch didaktisch reflektiert werden.

Im Verbund mit dieser schulbezogenen Feststellung lassen sich gegenwärtige allgemeingesellschaftliche Veränderungen als Aufbrechen von Ambiguität beschreiben: Alte binäre Strukturen (z.B. männlich-weiblich) werden relativiert, Ordnungskategorien (z.B. behindert-nichtbehindert) und Gewissheiten (z.B. Fakten oder Fake; Recht und Unrecht) stehen in Frage, religiöse Zuordnungen (christlich oder nichtchristlich) bleiben vielfach offen und so weiter. Angesichts dessen lassen sich zwei Tendenzen feststellen: Einerseits können die Offenheit und Unbestimmtheit als Chance begrüßt werden; andererseits gibt es gleichzeitig gerade politische und religiöse Strömungen, die demgegenüber feste Regeln und definitionsartige dogmatische Aussagen setzen, um auch bei ambigen Befunden Eindeutigkeit herzustellen (so z.B. viele fundamentalistische politische und religiöse Gruppen unterschiedlicher Couleur).

Sowohl im Sinne einer Fundamentalismusprävention (→ Fundamentalismus/Biblizismus, bibeldidaktischer Umgang) als auch und vor allem zum rechten Verständnis unterschiedlicher sozialer Probleme, ethischer Konfliktlagen und religiöser Phänomene mit der Bandbreite möglicher Deutungen ist eine didaktische Auseinandersetzung mit Ambiguität im Religionsunterricht (und darüber hinaus) unerlässlich. In diesen Zusammenhang gehört die Klärung von Kompetenzen mit Bezug zur sogenannten Ambiguitätstoleranz (Frenkel-Brunswik, 1949) oder spezifischer zum Ambiguitätsmanagement (Meyer, 2019), auf das wir in Kapitel 5 zurückkommen werden.

2. Definition und Erklärungsansätze

Der Begriff Ambiguität stammt vom lateinischen Adjektiv ambiguus und bedeutet: sich zu zwei Seiten neigen, unentschieden. Damit verbunden kann es auch bei Worten Zweideutigkeit und bei Vorhaben Ungewissheit bezeichnen. Im heutigen Sprachgebrauch wird Ambiguität darüber hinaus mit Uneindeutigkeit und Mehrdeutigkeit verknüpft.

Ob man Ambiguität eher als eine Eigenschaft versteht, die Phänomenen inhärent ist, ob man sie als kognitives Konstrukt bzw. Ergebnis von sozialen Konstellationen sieht oder ob man sie als Phänomen sprachlicher Kommunikation betrachtet, ist zunächst offen. Katharina Wörn unterscheidet fünf Erklärungslogiken (Wörn, 2022, 45):

  • Ambiguität kann als Charakteristikum des Mediums Sprache erklärt werden, die in aller Regel eine gewisse Offenheit mit sich bringt und bei der charakteristischerweise Sender und Empfänger nicht immer von identischen Gehalten ausgehen, was bei Poesie beabsichtigt ist, aber in der Alltagskommunikation auch Quelle von Missverständnissen sein kann (Wörn, 2022, 20).
  • Man kann sie vorsprachlich als Phänomen des Bewusstseins verstehen und z.B. kognitionswissenschaftlich an sie herangehen (siehe unter 6.1 zu Vereindeutigungen kognitiver Mechanismen) oder auch philosophisch (generelle Bedingtheit und Begrenzung unseres Weltzugangs durch Sinnesorgane, Kontexte, Kognitionsmechanismen und Prägungen).
  • Eine etwas andere Ebene ergibt sich durch einen subjektorientierten Blick auf widersprüchliche Reaktionen und innerpsychische Vorgänge in einem Individuum wie gegensätzliche Emotionen (mit Übergängen zum Begriff der Ambivalenz).
  • Da sich vieles in der Welt nicht eindeutig festhalten lässt, kann man Ambiguität als etwas ansehen, das auf den Menschen mit seinem Weltbezug von außen zukommt, also als vorfindliche Wirklichkeitsstruktur aufgefasst werden kann.
  • Schließlich kann man sie handlungsorientiert als Ergebnis von Praktiken bzw. Vollzügen von Individuen und Gruppen begreifen (z.B. bei sozialen Kontakten, die gezielt Vagheit herstellen, oder bei gesellschaftlichen Strömungen mit uneindeutiger Dynamik etc.).

Je nach Phänomen können die unterschiedlichen Zugriffsweisen und Erklärungsansätze durchaus miteinander kombiniert werden.

3. Gottes- und Offenbarungsfrage sowie die Religionskultur

Gottes- und Offenbarungsfragen (→ Gott; → Offenbarung) können als Spezifikum der Theologie bezeichnet werden. Die ihnen inhärenten Ambiguitäten lassen sich einerseits den beschriebenen fünf Zugriffsweisen zuordnen, bringen jedoch eigene Charakteristika mit sich.

Religionswissenschaftlich (→ Religionswissenschaft) lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: zunächst die Ebene von Gottes- und Offenbarungserfahrungen als solche und zweitens deren (sekundäre) Verarbeitung in Erzählungen, Dogmen sowie Lehrmeinungen, aber auch in volkstümlichen Ansichten. Changierend zwischen diesen ist in der Religionspädagogik das Feld individueller Gottesbilder zu sehen, das sich neben Erfahrungen und (populären) traditionellen Systematisierungen auch aus soziokulturellen und psychologischen Voraussetzungen speist. In jedem dieser Felder gehört Vagheit und das Fehlen einer letzten Ausdeutung notwendig zum Verständnis.

Diese Offenheit resultiert zunächst aus dem Gottesverständnis per se, zu dem zentral die Unverfügbarkeit des Göttlichen gehört. In praktisch allen monotheistischen Traditionen wird davon ausgegangen, dass Gott sich nicht von menschlichem Handeln abhängig macht bzw. machen lässt. Vorstellungen, in denen das anders war, konnten klassisch mit dem negativ konnotierten Begriff des Götzen verbunden werden (vgl. auch in der Antike die Hoffnung, durch Opfer Götter zu beeinflussen). Die Offenheit rührt als Zweites aber auch von besonderen religiösen Erfahrungen her, die in der → Religionspsychologie oder auch in den Biographien besonderer religiöser Protagonistinnen und Protagonisten immer wieder berichtet werden. Im Kleinen kann dies das Gefühl des Berührtseins von einer Gottheit sein, in großem Zusammenhang das einer Offenbarung, göttlichen Vision, eines mystischen Erlebnisses etc. All dies ist in der Regel (mindestens von außen betrachtet) mehrdeutig und entzieht sich einer letzten Vereindeutigung. Dies gilt ebenso für viele abgeleitete Folgerungen (vgl. z.B. die Verklärung Jesu neben Mose und Elia und ihre Interpretationen zu Mt 17,1-9 par.).

Unter dem Begriff der Ambiguität wird das in den religiösen Traditionen in einzelnen Studien rezipiert. So lässt sich in älteren muslimischen Traditionen eine regelrechte „Kultur der Ambiguität“ (Bauer, 2011) identifizieren und religionspädagogisch als „produktive Herausforderung [...] einer subjektivorientierten Islamischen Religionspädagogik in der Postmoderne“ (Yavuzcan, 2017, 204; → Religionspädagogik, islamische) bezeichnen. In der christlichen → Religionspädagogik finden sich solche Pointierungen etwa bei Katharina Wörn (2022) im Rückgriff auf Tillich und in einem Sammelband von Marlene Deibl und Katharina Mairinger (2022) unter Anmahnung eines Desiderats.

4. Empirische Forschung zu Ambiguitätserleben und Ambiguitätsintoleranz

Die empirische Ambiguitätsforschung der letzten Jahrzehnte ist von religiösen oder gar religionspädagogischen Fragestellungen fast vollständig unberührt. Maßgebliche Wurzeln hat Ambiguitätsforschung in sozial-psychologischen Studien von Frenkel-Brunswik (1949). Diese prägte den Begriff der Ambiguitätstoleranz, genauer der Ambiguitätsintoleranz. Ihr zufolge beruhte Letztere u.a. auf einem autoritären Erziehungs- bzw. Führungsstil, dessen katastrophale Folgen sich unter der Nazi-Herrschaft gezeigt hatten. Ein charakteristischer Auswuchs ist eine „tendency to resort to black-white solutions“ (Frenkel-Brunswik, 1949, 115). Aufgegriffen wurde das Konzept in den 1960er Jahren u.a. in der einflussreichen Skala von Stanley Budner, der folgendermaßen akzentuierte: „In-tolerance of ambiguity may be defined as ‘the tendency to perceive (i. e. interpret) ambiguous situations as sources of threat’, tolerance of ambiguity as ‘the tendency to perceive ambiguous situations as desirable’” (Budner, 1962, 30). Diese binäre Verständnisweise („threat“ gegenüber „desirable“) prägt zunächst die Ausrichtung, wurde im Folgenden jedoch kritisiert (z.B. Durrheim/Foster, 1997). Sie geht darüber hinweg, dass es kontextabhängige Varianten gibt und Ambiguitäts-Wünsche („desirable“) nicht in allen Fällen angebracht sind, vielmehr auch Vereindeutigungsinteressen von ambigen Phänomenen und Konstruktionen ihr Recht haben können (nicht zuletzt in der Pädagogik). Entsprechend ist zu differenzieren, welche Konsequenzen Vereindeutigungen (z.B. im Sinne einer pädagogisch begründeten altersbedingten → Elementarisierung) einerseits und das Aushalten oder gar die Vertiefung von Mehrdeutigkeit, Vagheit etc. andererseits in unterschiedlichen Settings mit sich bringen. Letzte Klärungen hierzu stehen jedoch aus; entsprechend wurden und werden Skalen mit eindeutigen Polen (→ Toleranz versus Intoleranz) konstruiert. Dabei ergibt sich zum Teil, dass unterschiedliche Bezugs- und Themenfelder eine hohe → Korrelation im Blick auf die jeweiligen Toleranzwerte aufweisen (zuletzt u.a. Lauriola/Foschi/Mosca/Weller, 2015 und Meyer, 2022b). Die empirische Frage, ob und wieweit domänenspezifisch unterschiedlich tolerante Auffassungsweisen gegenüber Ambiguität zu finden sind oder ob es eine umfassende, eventuell charakterbedingte Umgangsweise von Individuen gibt, bleibt daher offen. Von der Frage nach der jeweiligen Toleranz hebt sich die normativ-thematische Frage ab, wo, wann und wieweit (z.B. in der Pädagogik) einerseits vertiefte Klärungen von Ambigem und wo, wann und wieweit andererseits Vereindeutigungen in bestimmten Konstellationen nahezulegen sind.

5. Ambiguität als pädagogische Anforderung

Gerade in didaktischen Klärungsprozessen stellt sich der Lehrperson also nicht einfach die Frage nach Toleranz, sondern auch danach, was eine vertiefte Beschäftigung mit Ambiguität bzw. demgegenüber die Setzung von Eindeutigkeit an Kompetenzen, an gebotener Klarheit, an Sensibilität für ein Problem etc. mit sich bringt. Nicht zuletzt aufgrund dieser didaktischen Frage ist in (religions)pädagogischer Perspektive der Begriff des „konstruktiven Ambiguitätsmanagements“ vorgeschlagen worden (Meyer, 2019, 272;287). Der Bezugspunkt eines solchen konstruktiven Ambiguitätsmanagements ist zunächst „ein Bündel an Phänomenen, denen gemeinsam ist, dass ihnen der klare, einfache Ausschlag zu nur einer Seite, mithin Eindeutigkeit und Gewissheit oder auch Klärbarkeit [...] fehlt. Die Rede von Management bezieht sich [...] darauf, nicht nur Eindeutigkeit, aber auch nicht nur Komplexität und Vielfalt zu wünschen, sondern situationsangemessen [...] konstruktiv mit ihnen umgehen zu können“ (Meyer, 2019, 289); es zielt auf „die Fähigkeit, [...] für sich und für andere klären zu können, [...], wann Eindeutigkeit für mich und andere angebracht ist“ und wann In-der-Schwebe-Lassen auch im Lehr-Lern-Prozess weiterführt (Meyer, 2019, 288). Dazu gehört in pädagogischen Settings u.a. die besagte Abwägung von Optionen der Vertiefung oder der Vereindeutigung. Generell vorausgesetzt wird, dass auf Seiten der Lehrperson gesteuert, aber auch auf Seiten der → Schülerinnen und Schüler gelernt werden kann, den Umgang mit Ambigem sachgemäß zu managen.

6. Die Tendenz zur Vereindeutigung im Gegenüber zum Aushalten und Vertiefen von Ambiguität im Rahmen von Lehr-Lernprozessen

Auf der Ebene der Hintergründe von Lehr-Lernprozessen stehen dem Aushalten oder mehr noch dem Vertiefen von Ambiguität insbesondere zwei Konstellationen entgegen, die durchaus ihre (partielle) Berechtigung haben. Das Erste ist eine Tendenz kognitiver Prozesse der menschlichen Informationsverarbeitung. Das zweite ist eine Ausrichtung der schulischen Logik.

6.1. Vereindeutigungstendenzen in kognitiven Verarbeitungsprozessen

Kognitionswissenschaftlich können zwei Denksysteme in der menschlichen Verarbeitung von Wahrnehmungsphänomenen unterschieden werden: ein schnelles, mehr oder minder automatisches Denken und ein langsames, aufwändiges u.a. abwägendes Denken. Die duale Prozesstheorie redet von System 1 und System 2 (Kahneman, 2012, 513). Das schnelle Denken des Systems 1 ist als evolutionärer Vorteil nicht zu unterschätzen: „Die Komplexität unserer Außenwelt ist so groß, dass wir sie kognitiv reduzieren müssen, um [rasch] handlungsfähig zu sein. […] Biologisch betrachtet dient das Ausblenden von Reizen, die in einer Situation irrelevant sind, dem Überleben“ (Haß, 2020, 107). Entsprechend stehen unter System 1 eindeutige Verortungen von Phänomenen zur Verfügung, die unmittelbares Handeln erlauben. Das Denken unter System 2 wird demgegenüber als anstrengend bzw. aufwändig empfunden und kostet Zeit, hilft aber – auch hier biologisch betrachtet –, statt Impulsen zu folgen, beispielsweise strategisches Vorgehen zu planen bzw. das eigene Handeln insgesamt zu reflektieren. Die jeweilige Zugriffsweise und die Koordination beider Systeme resultieren u.a. aus Lernprozessen. Die Aktivierung oder Nichtaktivierung von System 2 hat dabei nicht unmittelbar mit Intelligenz zu tun; auch hoch intelligente Menschen können bei bestimmten Phänomenen (und Themen) im automatischen, impulsorientierten System 1 verharren. Die Widerständigkeit dieses Verharrens ist für pädagogische Belange in Rechnung zu stellen und wird z.B. bei fest verwurzelten Vorurteilen deutlich, auf die ‚automatisch‘ zurückgegriffen wird. Festzuhalten ist auch, dass Vertiefen von Ambiguität als vergleichsweise anstrengend erlebt wird: Es bedeutet, willens und motiviert zu sein, Impulse aus System 1 zurückzustellen, um auf rasche Vereindeutigungen zu verzichten (detailliert: Meyer, 2022a).

6.2. Vereindeutigungstendenzen in der Schullogik

Auf ganz anderer Ebene ist gleichfalls eine gewisse Widerständigkeit zu berücksichtigen. Im schulischen Lernen finden sich zwei gegenläufige Tendenzen. So ist schulisches Lernen einerseits dadurch gekennzeichnet, sich der Mühe von Reflexionen auch im Blick auf Mehrdeutiges zu unterziehen, andererseits aber auch dadurch, in Sicherungen, Bündelungen, Definitionen oder gar tabellarischen Überblicken am Ende einer Stunde oder am Ende einer Unterrichtseinheit Eindeutigkeit herzustellen. Dies dient nicht zuletzt der Möglichkeit, Wissensbestände abprüfen zu können. Dezidiertes In-der-Schwebe-Lassen oder Aspekte des Schulstoffes als letztlich-nicht-klärbar zu charakterisieren, wird nicht zuletzt auch von den Lernenden in der schulischen Lernhaltung als unbefriedigend empfunden. Genau dies ist aber ein spezifischer Aspekt von Ambiguitätstoleranz.

7. Unterschiedliche didaktische Zugänge zu Ambiguität auf den Ebenen der Welterschließungsmodi

Neben den oben genannten Erklärungsmustern von Wörn hilft im Zusammenhang didaktischer Differenzierungen die Unterscheidung von Welterschließungsmodi, die hier im Anschluss an Baumert (2002) aufgenommen werden, um sich schulspezifisch Zugangs- und Herangehensweisen an Ambiges strukturiert vor Augen zu führen:

  • Zugänge zu Ambiguität nach dem ästhetisch-expressiven Modus der Welterschließung bezeichnen den Umgang mit künstlerischen bzw. gestalterischen Phänomenen, wie z.B. die Interpretationen von Poesie und bildender Kunst bzw. die eigene Gestaltung von entsprechenden Werken: „Wie begegnet mir [künstlerische Deutung von] Wirklichkeit? Wie kann ich Wirklichkeit [selbst expressiv] ausdrücken?“ (Herget/Pfeufer/Rößner/Weidinger, 2008, 1, im Anschluss an Baumert; übernommen u.a. von Konz, 2019, 115). In der Moderne steht dabei ein offenes Verständnis von Kunst im Hintergrund (u.a. nach Eco, 1977). Einerseits können schon in der Genese eines Kunstwerks weite Interpretationsspielräume intendiert sein oder sich auf ganz anderer Ebene durch den historischen Abstand und die damit verbundene Zurückhaltung gegenüber eindeutigen Zuschreibungen als unvermeidliche Vagheit ergeben. Schülerinnen und Schüler können entsprechende Mehrdeutigkeit ins Auge fassen oder auch selbst gezielt vieldeutige Werke schaffen.
  • Der normativ-evaluative Modus schulischen Lernens erfasst im Zusammenhang religionspädagogischer Klärungen den Zugriff auf moralische, ethische und soziale Fragen: „Wie ist die soziale Welt verbindlich zu ordnen?“ (so die Interpretation von Baumert bei Herget/Pfeufer/Rößner/Weidinger, 2008, 1 und Konz, 2019, 115). Hier sind es (nicht nur für Schülerinnen und Schüler) schwer durchschaubare soziale Konstellationen und Situationen, sondern insbesondere auch Dilemmata, in denen Ambiguität im religionspädagogischen Zusammenhang unmittelbar vor Augen tritt. Darüber hinaus können jedoch auch übergeordnet Wertefragen und -hierarchien als ein Komplex betrachtet werden, der sich generell einer letzten Klärbarkeit entzieht, mithin ambige Züge trägt und gleichwohl vertiefter Beschäftigung bedarf.
  • Als Kontrast dazu ist spezifisch im schulischen Lernen der kognitiv-instrumentelle Zugang zu nennen. Die Leitfrage „Wie geht es?“ (Herget/Pfeufer/Rößner/Weidinger, 2008, 1 und Konz, 2019, 115) zielt auf Eindeutigkeit (auch wenn zwei oder drei Lösungswege möglich sind). Dass auch naturwissenschaftliche Zugänge auf ihre Weise mit Vagheit, Unklärbarkeit und mit den Limitierungen menschlicher Kognition umgehen, wird in der Schule kaum je in den entsprechenden Fächern thematisiert. Mindestens für die Oberstufe wären hier auch ganz grundsätzliche Fragen für ein umfängliches Verständnis der Naturwissenschaft (z.B. bildhafte Rede in der Physik) pädagogisch sinnvoll.
  • Der letzte Modus der konstitutiven Rationalität bildet Klärungen um die Grundorientierung des Zugriffs auf die Welt ab: „Was ist wirklich, wozu bin ich da?“ (Herget/Pfeufer/Rößner/Weidinger, 2008, 2); dies umschließt auch die Auseinandersetzung damit, wie auf diese Fragen zugegriffen werden kann. Damit ist das Kerngebiet religiöser Fragen berührt. Mehrdeutigkeit, Ungewissheit und letzte Unklärbarkeit gehören grundlegend zu einem gebildeten Gesamtverständnis philosophischer, religiöser und theologischer Belange gleich welcher Tradition, die nicht in Fundamentalismen abdriften. Auf das Gottes- und Offenbarungsverständnis war oben unter 3. schon eingegangen worden.

Im Sinne Baumerts betrifft insbesondere Letzeres das Fach Religion. Je nach Thema können jedoch auch andere Modi relevant sein, wenn es z.B. in religionspädagogischen Zusammenhängen um Kunstwerke, Poesie oder ethische Fragen geht. In allen Fällen bleibt auch immer die Frage, wann Vereinfachungen und Eindeutigkeit gegenüber Mehrdeutigkeit für Kinder und Jugendliche zielführender sind.

8. Ambiguität in religionspädagogischen Konzeptionen

Auch wenn die Begriffe Ambiguität und Ambiguitätsintoleranz in älteren religionspädagogischen Werken eher zufällig genutzt werden und „in der Religionspädagogik bisher keine explizit tragende Rolle“ innehatten (Meyer-Blanck, 2022, 179), finden sich gleichwohl durchgehend Auseinandersetzungen mit Fragen um Mehrdeutigkeit religiöser Phänomene in größeren didaktischen Entwürfen. Am weitgehendsten beschäftigt sich Bernhard Dressler mit „Ambiguitätstoleranz als religionspädagogische[r] Aufgabe“ (Dressler, 2018, 107-110) nicht zuletzt als Problem „in religionspluraler Kultur“ (Dressler, 2020, 217; weiterführend 217-228). Generell geht es mit seinem performationsorientierten Ansatz auch im Zusammenhang von Ambigem darum, den „Modus von Religion [...] durch ihre Kommunikationsgestalten bestimmt zu sehen“ (Dressler, 2020, 109) und zu einem „urteilsfähigen Umgang mit Mehrdeutigkeiten“ zu gelangen (Dressler, 2020, 223).

Einen Überblick über weitere religionspädagogische Rückgriffe auf diese Begrifflichkeit bietet Stefanie Lorenzen (2022). Sie unterscheidet generell ethisch-soziale (inklusive diversitätsorientierte) Rezeptionen von Ambiguitätskonzepten (Lorenzen, 2022, Abschn. 2) und ästhetisch-theologische, bei denen sie insbesondere auf die Symboldidaktik sowie semiotische und performative Ansätze verweist (Lorenzen, 2022, Abschn. 3). Dabei schlägt sie im Anschluss an die Religionenerschließungsmodi von Meyer (a) einen forschenden, (b) einen selbst-reflektiv theologisierenden, (c) einen situativ-sozial oder mental managenden und (c) einen lokal-global verbindenden Blick vor, der angesichts der Überkomplexität vieler weltweiter Fragen auch lokale Klärungsmöglichkeiten nutzt (Lorenzen, 2022, Abschn. 4). Die Vierteilung war von Meyer im Zusammenhang interreligiösen Lernens (→ interreligiöses Lernen) entwickelt worden (Meyer, 2019, 289-302).

In jüngster Zeit sind zwei Sammelbände erschienen, die sich ausschnittartig mit Einzelaspekten zu Ambiguität beschäftigen. In der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (ZPT 74 (2022) 2) sind dies u.a. Klärungen zur literarischen und theologischen Qualität exemplarischer Bibelstellen in ihrer Mehrdeutigkeit (Nicklas, 2022), philosophische Erörterungen im Anschluss an Bauman und Lyotard (Diergarten, 2022), Darstellungen sprachlicher Ambiguitätstypen (Winkler, 2022) und ein religionspädagogischer Blick auf kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse (Meyer, 2022a). In der einschlägigen theo-web-Ausgabe finden sich Untersuchungen zu Schulbüchern (Schwarz, 2022), Einzelstudien zu religionspädagogisch ethisch-sozialen und ästhetisch-hermeneutischen Konzeptionen (Lorenzen, 2022) sowie die Entwicklung einer Skala zu Ambiguitätstoleranz, die auch für Jugendliche geeignet ist (Meyer, 2022b).

Insgesamt ergibt sich jedoch eher ein Bild diverser Einzelfunde und ‑überlegungen, bei denen die Zusammenführung oder konzeptionelle Verbindung bislang eher angedeutet ist (so am ehesten bei Dressler, 2020 und Meyer, 2019).

9. Bündelung mit Blick auf Zielperspektiven

Auf verschiedenen Ebenen hat die Moderne zu einem erheblichen Schub an Ambiguitätsphänomenen beigetragen: Das betrifft Sozialkonstellationen (Verständnis von Geschlechterrollen, Familien etc.), auf gänzlich anderer Ebene das Verständnis von Kunst (als offenes Kunstwerk, Eco) und generell Umgangsnotwendigkeiten gegenüber Diversität, die alten Dichotomien aufbrechen (männlich-weiblich, behindert-nichtbehindert etc.).

Es liegt daher im Interesse eines weiten Bildungsverständnisses (→ Bildung; → Bildung, ästhetische; → Bildung, diversitätssensible), generell Anstöße zur produktiven Aufnahme von Ambigen zu geben. Das betrifft nun, wie oben gesehen, auch in besonderer Weise religiöse Themen. Nach den bisherigen Ausführungen kann es didaktisch und sachlich weder darum gehen, jeder Ambiguität nachzugehen, noch immer zu eindeutigen Bündelungen, Merksätzen etc. zu gelangen. Sinnvoll ist ein pädagogischer Ansatz, den man als „Ambiguitätsmanagement“ (Meyer, siehe oben Abschnitt 5) bezeichnen kann. Die Aufgabe ist damit eine andere, als schlicht Ambiguitätstoleranz und mithin das Dulden oder Aushalten von Ambigem zu schulen. Sie besteht vielmehr darin, sachgerecht zu unterscheiden, wo und wann Vertiefungen weiterführen oder auch nicht. Sie stellt sich sowohl mit Blick auf didaktische Entscheidung der Lehrenden als auch als Lernaufgabe auf Seiten der Lernenden und beinhaltet die Kompetenz, begründet sowohl Prozesse angemessen vereindeutigen zu können als auch Vagheit, Mehrdeutigkeit und Unklärbarkeit tolerieren und in sachlich gebotenen Fällen das damit Verbundene In-der-Schwebe-Halten als Chance zum Weiterdenken schätzen zu können.

Literaturverzeichnis

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