1. Mose 22,1-14(15-19) | Judika | 17.03.2024
Einführung in das 1. Buch Mose
1. Einführung und Gliederung
Das 1. Buch Mose
Markantestes Gliederungssystem des überlieferten Textes und zugleich Spezifikum der Genesis gegenüber den anderen Büchern des Pentateuch ist die (priesterschriftliche) Aufteilung in Geschlechterfolgen (תּוֹלֵדוֹת tôledôt), wonach die einzelnen Teile jeweils die Nachkommensgeschichte der in der Genealogie genannten Person(en) oder Größe(n) berichten: 2,4a; 5,1; 6,9; 10,1; 11,10; 11,27; 25,12; 25,19; 36,1/9; 37,2. Die Geschichte des biblischen Israel wird so als Nachkommensgeschichte Jakobs (37,2) verstanden.
2. Entstehung
Obige Rede vom „biblischen Israel“ (im Unterschied zum „historischen Israel“) deutet an, dass die Genesis, ja die fünf Bücher Mose, der Pentateuch
- 1.zahlreiche Texte von Anfang an für ihren literarischen Kontext des werdenden Buches in Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Texten geschrieben wurden, dass
- 2.der Untergang Israels (also des „Nordreichs“) 722 v.Chr. und erst recht der Untergang Judas (also des „Südreichs“) 587 v.Chr. Katalysatoren für Verschriftlichung und Komposition der Texte darstellten, und dass
- 3.das bis in die 1970er Jahre zwar nicht unbestrittene, aber maßgebliche Quellenmodell (mit den vier Quellenschriften Jahwist, Elohist, Deuteronomium und Priesterschrift, die in sukzessiven Redaktionsprozessen miteinander verbunden wurden) den Textbestand der Genesis und des Pentateuch insgesamt nicht hinreichend erklären kann.
Entsprechend wird seit den 1970er Jahren immer stärker eine Kombination von Quellen-, Fragmenten- / Erzählkranz- und Ergänzungs- / Fortschreibungsmodellen zur Erklärung der Theologiegeschichte der Genesis (und des Pentateuch insgesamt) vertreten:
Dabei gilt als relativ konsensfähig, dass der Jakob-Esau-Laban-Erzählkranz aus Israel (Gen *25
Erstmalig kombiniert wurden die Urgeschichte, die Erzelternerzählung sowie die Exoduserzählung von der Priesterschrift im 5. Jh. v. Chr., deren Erzählzusammenhang von der Schöpfung
Während im klassischen Quellenmodell die große Masse der Texte vor-priesterschriftlich eingeordnet wurde, wird in der aktuellen Forschung die nach-priesterschriftliche Entstehung vieler Texte erkannt und mit dem Ergänzungsmodell erklärt. Dies gilt in besonderer Weise, aber bei Weitem nicht ausschließlich, für die ehedem dem Elohisten zugewiesenen Texte in Gen 15; 20; 21; 22.
3. Wichtige Themen
Die Genesis stellt in ihren ersten Kapiteln den Gott Israels als den Erschaffer der ganzen Welt dar. Oder anders, in der Reihenfolge der kanonischen Leserichtung, formuliert: Der Erschaffer der ganzen Welt erweist sich in der Genesis als der Gott der Erzeltern „Israels“. Auf die Herausstellung der gesamten Menschheit als Ebenbild
Der priesterschriftliche Schöpfungssegen („Seid fruchtbar und mehret euch…“; 1,28; 9,1.7) findet in der Erzelternerzählung seine (literarhistorisch freilich ältere) Fortsetzung in der Nachkommensverheißung an die Patriarchen, die die einzelnen Erzählungen miteinander verbinden. Dabei wird die Realisierung der Nachkommensverheißung in den Erzählungen immer wieder verzögert und gefährdet – durch die anfängliche Kinderlosigkeit der Erzeltern, durch ihr Verhalten gegenüber fremden Herrschern (12,10–20; 20,1–18; 26,1–11), durch ihre Umgehung der Verheißungslinie (Gen 16), und durch Gottes Erprobung Abrahams (22,1–19). Konflikte zwischen Brüdern kommen nicht nur in der zweiten Generation des Menschengeschlechtes vor (Gen 4), sondern durchgehend in der Genesis (wobei die Priesterschrift die ihr bekannten Brüderkonflikte bemerkenswerterweise nicht erzählt). Zu den Verheißungen an die Erzväter (nur in 16,11–12 erhält auch eine Frau, bemerkenswerterweise die später verstoßene ägyptische Sklavin Hagar, eine vergleichbare Verheißung) gehört auch die Segens- und Landzusage. Letztere weist über das Buch Genesis, ja den Pentateuch insgesamt, hinaus.
Die Priesterschrift weist zudem in Gen 9 und Gen 17 die Vorstellung eines Bundes Gottes mit der gesamten Menschheit sowie der Tierwelt bzw. mit Abraham und seinen Nachkommen auf, die nicht primär an der Beachtung von Geboten liegt wie in älteren bundestheologischen Vorstellungen.
Die unendlich vielseitigen und äußerst breit rezipierten Texte der Genesis zeichnen sich schließlich durch ihre realistische, ungeschönte Darstellung menschlichen Lebens auf Erden im Verhältnis zur menschlichen und nicht-menschlichen Mitwelt und im Verhältnis zu Gott aus, das von allen Seiten immer wieder in Frage gestellt und bedroht wird.
Literatur:
- Albertz, Rainer, Die Josephsgeschichte im Pentateuch. Ein Beitrag zur Überwindung einer anhaltenden Forschungskontroverse (FAT 153), Tübingen 2021.
- Bührer, W., 2019, Neuere Ansätze in der Pentateuchkritik, VuF 64, 19–32.
- Gertz, J. Chr., 22021, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11 (ATD 1), Göttingen.
- Gertz, J. Chr. 62019, Tora und Vordere Propheten, in: Ders. u.a. (Hgg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen, 193–312.
- Köckert, M., 2017, Abraham. Ahnvater – Vorbild – Kultstifter (BG 31), Leipzig.
- Römer, Th., 2014, Das Buch Genesis, in: W. Dietrich u.a. (Hgg.), Die Entstehung des Alten Testaments. Neuausgabe (ThW 1), Stuttgart, 94–110.
- Schüle, A., 22020, Die Urgeschichte. Genesis 1-11 (ZBK.AT 1.1), Zürich.
- Tal, Abraham, Genesis, Biblia Hebraica Quinta 1, Stuttgart 2015.
- Wöhrle, Jakob, Fremdlinge im eigenen Land. Zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte (FRLANT 246), Göttingen 2012.
A) Exegese kompakt: Genesis 22,1-19
Übersetzung
1 Und es geschah nach diesen Ereignissen, da prüfte Gott Abraham. Und er sprach zu ihm: „Abraham!“ Und er sprach: „Hier bin ich.“
2 Und er sprach: „Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, Isaak und geh ins Land Morija und bringe ihn dort als Brandopfer dar auf einem der Berge, den ich dir sagen werde.“
3 Und Abraham machte sich früh am Morgen auf, sattelte seinen Esel, nahm seine beiden Diener mit sich und Isaak, seinen Sohn, spaltete Holz zum Brandopfer und machte sich auf und ging an den Ort, von dem Gott zu ihm gesprochen hatte.
4 Am dritten Tag erhob Abraham seine Augen und sah den Ort von ferne.
5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: „Bleibt doch hier bei dem Esel. Ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen und anbeten und zu euch zurückkommen.“
6 Und Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und legte (es) auf Isaak, seinen Sohn. Und er nahm in seine Hand das Feuer und das Messer. Und die beiden gingen miteinander.
7 Und Isaak sprach zu Abraham, seinem Vater, und er sprach: „Mein Vater!“ Und er sprach: „Hier bin ich, mein Sohn.“ Und er sprach: „Siehe, das Feuer und das Holz. Aber wo ist das Tier zum Brandopfer?“
8 Und Abraham sprach: „Gott wird sich das Tier zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.“ Und die beiden gingen miteinander.
9 Und sie kamen zu dem Ort, von dem Gott zu ihm gesprochen hatte. Und Abraham baute dort den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte Isaak, seinen Sohn, und legte ihn auf den Altar oben auf das Holz.
10 Und Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.
11 Und es rief ihm der Bote YHWHs vom Himmel zu und sprach: „Abraham, Abraham!“ Und er sprach: „Hier bin ich.“
12 Und er sprach: „Strecke deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts an! Denn jetzt weiß ich, dass du gottesfürchtig bist, da du deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast.“
13 Und Abraham erhob seine Augen und sah, und siehe, ein Widder hatte sich hinten im Gebüsch mit seinen Hörnern verfangen. Und Abraham ging hin und nahm den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar anstelle seines Sohnes.
14 Und Abraham nannte den Namen jenes Ortes „YHWH sieht“, von dem man heute noch sagt: „Auf dem Berg, auf dem YHWH sich zeigt.“
15 Und der Bote YHWHs rief Abraham ein zweites Mal vom Himmel zu.
16 Und er sprach: „Bei mir selbst habe ich geschworen, Spruch YHWHs: Weil du das getan und deinen Sohn, deinen einzigen, nicht verschont hast,
17 daher will ich dich reichlich segnen und deine Nachkommenschaft will ich überaus zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand am Ufer des Meeres. Und deine Nachkommenschaft wird das Tor ihrer Feinde in Besitz nehmen.
18 Und durch deine Nachkommenschaft werden sich alle Völker der Erde segnen, weil du auf meine Stimme gehört hast.“
19 Und Abraham kehrte zu seinen Knechten zurück. Und sie machten sich auf und gingen miteinander nach Beerscheba. Und Abraham blieb in Beerscheba.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 1: אַחַר הַדְּבָרִים הָאֵלֶּה ’aḥar haddəbārîm hā’ellæh „nach diesen Ereignissen“ nimmt unspezifisch Bezug auf den vorangehenden Kontext. Im Blick sind mindestens die Erzählungen von der Geburt Isaaks in Gen 21,1–7, von der Vertreibung seines Halbbruders Ismael
V. 2: Die bisweilen vertretene Übersetzung von יָחִיד jāḥîd als „einzigartig“ stellt eine Harmonisierung dar, die auch durch die weiteren Belege des Lexems im Alten Testament nicht gedeckt ist. Nach der Vertreibung Ismaels aus Abrahams Familie in 21,8–21 kann Isaak als „einziger“ Sohn bezeichnet werden, denn nur auf ihn bezieht sich die auf „Israel“ hin zielende Nachkommensverheißung an Abraham.
V. 5a: הַנַּעַר hanna‘ar „der Knabe“ (vgl. 22,5.12) zur Bezeichnung von Abrahams „Sohn“ Isaak
V. 5b: Abraham formuliert auch die Rückkehr im Plural!
V. 13: Statt „ein Widder hinten“ (אַיִל אַחַר ’ayil ’aḥar) lesen viele masoretische Handschriften, der samaritanische Pentateuch, die Septuaginta, die syrische Übersetzung und viele zeitgenössische AuslegerInnen „ein Widder“ (אַיִל אֶחָד ’ayil ’æḥād) mit Betonung der Zahl. Beide Lesarten könnten auf Vertauschung von Resch und Dalet zurückgehen, die Lesung mit Dalet könnte indes eine bewusste Anpassung an andere Opfertexte darstellen (vgl. Lev 16,15; Num 6,14; 7,15 u.ö.).
2. Literarische Gestaltung
Wie unmenschlich und gottlos auch immer man die Erzählung von Isaaks Bindung, seiner verhinderten Opferung, deuten mag, die Erzählung macht von Anfang an klar, dass es sich um eine Prüfung
Die Erzählung lässt sich in die drei Teile Auftrag (V. 1–2), Ausführung (V. 3–10) und Auflösung (V. 11–19) gliedern und folgendermaßen weiter unterteilen (wobei es zu dem Text durchaus auch andere Gliederungsvorschläge gibt):
- 1.Auf die soeben beschriebene Exposition in V. 1a folgt der Auftrag zur Opferung Isaaks in V. 1b–2. Eine unmittelbare Reaktion Abrahams in Worten oder Taten wird nicht berichtet.
- 2.Abrahams Vorbereitungen und Aufbruch mitsamt zwei Dienern und Isaak in V. 3–5 erfolgt am nächsten Morgen. Vielleicht lässt dies Raum, um Abraham nächtliche Bedenkzeit zuzuschreiben, vergleichbar der stummen Wanderschaft von drei Tagen. Die letzte Wegstrecke gehen Abraham und Isaak alleine: V. 6–8. Dabei betonen V. 6b und V. 8b als Rahmen um ihr Zwiegespräch gleichlautend, dass die beiden „miteinander“, in Übereinstimmung gehen. V. 9–10 berichten sodann von der Bindung Isaaks zum Opfer.
- 3.Wegen des Einspruchs vom Himmel kommt es nicht zur Opferung Isaaks, V. 11–12, sondern zur stellvertretenden Opferung eines Widders: V. 13. Die Rede des Boten YHWHs macht in V. 12 den Lesenden deutlich, dass Abraham die Prüfung bestanden, dass er Gottes Auftrag gerade ohne die vollzogene Opferung Isaaks erfüllt hat, und öffnet Abraham die Augen: Auch er muss (spätestens) jetzt erkennen, dass er im Hinblick auf seine Gottesfurcht geprüft wurde, und sieht nun einen Widder als Opfertier bereitstehen. V. 14: In V. 14a benennt Abraham diesen unvergesslichen Ort in Aufnahme seiner Rede an Isaak in V. 8 („Gott wird sich das Schaf zum Brandopfer ersehen [ראה r’h]“) als „YHWH sieht (ראה r’h)“. Und der Erzähler hält in V. 14b in Aufnahme der Gottesbegegnung Abrahams in V. 11–12 fest, dass der Ort noch zu seiner Zeit „Auf dem Berg, wo YHWH sich zeigt (ראה r’h niph.)“ genannt wird. In V. 15–18 wendet sich der Bote YHWHs „zum zweiten Mal“ an Abraham und bekräftigt die bereits früher ergangenen Verheißungen an Abraham (vgl. bes. V. 17a mit 12,2; 15,5 und V. 18 mit 12,3; 18,18). V. 19 berichtet schließlich von der Rückkehr zuerst zu den Knechten und sodann nach Beerscheba (vgl. 21,14.31-33). Isaak wird dabei nicht explizit genannt, muss aber in der Rückkehr zu den Knechten wie in V. 5 angekündigt und im „miteinander“ wie in V. 6b.8b mitgemeint sein – und ist auch im Folgekontext an der Seite Abrahams vorausgesetzt (vgl. Gen 24; 25). Dass Isaak nicht explizit genannt wird, stellt auf jeden Fall eine Leerstelle dar, die im Laufe der Rezeptionsgeschichte des Textes unterschiedlich gefüllt wurde. Die Leerstelle lässt am Ende der Erzählung nach Isaak fragen, nach seinem Ergehen und Empfinden.
Teil 3 beginnt wie Teil 1 mit einer Anrede Abrahams durch Gott bzw. seinen Boten. Dabei ist bemerkenswert, dass die ersten beiden Teile einfach von „Gott“, הָ)אֱלֹהִים) (hā)’ælohîm, sprechen (mit oder ohne formaler Determination: V. 1.3.8.9), dass Teil 3 diesen Gott aber beim Namen nennt: YHWH (V. 11.14a.14b.15.16 – mit Ausnahme des Verweises auf Abrahams Gottes-Furcht in V. 12). Dies lässt sich dahingehend deuten, dass in der Rede von „Gott“ eine gewisse Distanz zwischen Gott und Abraham zum Ausdruck kommt, in der Rede von YHWH dagegen die Zuwendung Gottes.
3. Kontexte
Die mehrfach wiederholte, auf Isaak und über ihn auf Jakob-Israel hinauslaufende Sohnes-Verheißung an Abraham (und Sarah) in 12,2; 13,15–16; 15; 17,6-8.15–21; 18,10–15, die in 12,10–20 und 20,1–18 durch Abrahams und Sarahs Verhalten fremden Herrschern gegenüber gefährdet und in 16,1–16 durch die Geburt des Abraham-Sohnes Ismael verzögert wurde und die in 21,1–7 und 21,8–21 durch die Geburt Isaaks und die daran anschließende Vertreibung Ismaels endlich in Erfüllung gegangen ist, scheint nun von Gott selbst in Frage gestellt zu werden: Gottes Wort aus 12,1–2, „Begib dich (לֶךְ־לְךָ lækh ləkhā) … in das Land, das ich dir zeigen werde, und ich will dich zu einem großen Volk machen“, wird in 22,2 von Gott entgegengesetzt: „Nimm doch deinen Sohn … und begib dich (לֶךְ־לְךָ lækh ləkhā) ins Land Morija
Abraham lässt sich wortlos darauf ein. Er zweifelt nicht an der Gottheit des ihn ansprechenden Gottes, er zweifelt nicht an der Identität dieses Gottes mit dem ihm bereits bekannten Gott. Er gehorcht nicht blind, sondern vertraut auf seinen Gott. Dieses Vertrauen in die Gottheit und Gutheit Gottes, der seine Verheißung gewiss nicht zunichtemachen will, kommt in den zwei Reden Abrahams an seine Knechte
Gen 22 ist aber nicht nur mit den weiteren Abraham-Erzählungen verbunden: Das Opfer soll nicht irgendwo stattfinden, sondern an „dem Ort“, den Gott Abraham für das Opfer bestimmt hat, und den Abraham schließlich benennt (V. 2.3.4.9.14), „dem Ort“ im „Land Morija“ „auf einem der Berge“ (V. 2). Der Name Morija ist nur noch in 2 Chr 3,1 belegt und bezeichnet dort den Tempelberg in Jerusalem
Die literarischen Kontexte der Erzählung (die Genannten und weitere) und die theologiegeschichtliche Nähe zum Prolog des Hiob-Buches zeigen deutlich, dass Gen 22 ein vergleichsweise junges Kapitel darstellt und erst in nachexilischer Zeit entstanden sein dürfte. Als die Verheißung an „Israel“ mit dem Untergang des Jerusalemer Tempels in Frage gestellt wurde, mussten mehr und mehr auch dunkle, unverständliche Seiten Gottes reflektiert werden. Gen 22 verbindet diese dunklen, unverständlichen Seiten Gottes mit dem Vertrauen darauf, dass Gott gleichwohl an seinen Verheißungen festhält.
In der Forschung herrscht weitgehend Konsens, dass die „zweite“ Rede des Boten YHWHs in V. 15–18 ein späterer Nachtrag ist, der weit über die vorliegende Erzählung hinaus blickt: Abraham reagiert in keiner Weise auf die nun mit einem Schwur bekräftigten bereits früher ergangenen Verheißungen (im Unterschied zu seiner Reaktion auf die erste Rede des Boten YHWHs: V. 13–14), V. 19 schließt unmittelbar an V. 14 an. Durch die „zweite“ Rede werden die Verheißungen nachträglich konditioniert: Nur weil Abraham die Prüfung bestanden hat, nur weil er auf Gott gehört hat, soll er gesegnet sein. Die restliche Erzählung stellt dagegen eine literarische Einheit dar.
4. Schwerpunkte der Interpretation
- 1.Ist Gott unmoralisch, willkürlich? Ruft er dazu auf, gegen sein eigenes Tötungsverbot (Ex 20,13) zu verstoßen? Ist dieser Gott gar nicht Gott? Nicht erst seit der Aufklärung werden solche Fragen an das in Gen 22 gezeichnete Gottesbild gerichtet. So leitet etwa das im 2. Jh. v. Chr. entstandene Jubiläenbuch
die ansonsten nahe am masoretischen Text stehende Nacherzählung von Gen 22 in Jub 18 durch eine den Himmelsszenen des Hiob-Buches vergleichbare Unterredung zwischen Gott und Mastema, einer Satans-Figur , ein (Jub 17,15–18): Mastema rät Gott zur Versuchung Abrahams im Sinne eines Glaubenstestes. Durch die Einführung Mastemas soll Gott von jeglichem Verdacht reingewaschen werden (vergleichbar auch dem Figurenwechsel zwischen 2 Sam 24,1 [YHWH] und 1 Chr 21,1 [Satan]). - 2.Bemerkenswerterweise kommt Gottes Reaktion auf Mastema der hier stark gemachten kontextuellen Deutung von Gen 22 als schriftgelehrtem Text nahe: Gott deutet die kurz referierten Abrahams-Erzählungen insgesamt als Geschichte verschiedener Versuchungen, die Abraham sämtlich bestanden hat. Gott zweifelt daher nicht an Abrahams Glauben.
- 3.Eine (gegenüber 1.) andere Abschwächung der abgründigen Erzählung ist die These, Gen 22 liege eine ältere Erzählung zugrunde, die von der Ablösung von Menschenopfer durch Tieropfer im YHWH-Kult handle. Jedoch setzt die Erzählung in V. 7 die Praxis von Tieropfern als bekannt voraus, und aus Gen 22 lässt sich weder literarkritisch noch überlieferungsgeschichtlich plausibel eine ältere Erzählung rekonstruieren.
- 4.Das Opfer an dem bestimmten Ort sowie Abrahams Benennung dieses Ortes zeigen schließlich, dass die Erzählung nicht nur von Abrahams Glauben und Vertrauen handelt, sondern auch eine ätiologische Funktion hat: Schon Abraham hat den Tempelberg gefunden und dort geopfert. Vertrauen und Gehorsam Gott gegenüber substituieren damit den Opferkult nicht.
5. Theologische Perspektivierung
Nimmt man die durchgängige Bezogenheit auf den Kontext von Gen 22 ernst, wird deutlich, dass es sich bei Gen 22 um eine Erzählung vom Vertrauen Abrahams in seinen Gott handelt, durch das Abraham letztlich zum Ahnvater auch des Jerusalemer Kultes wurde. Auch und gerade in der Anfechtung, in dunklen Zeiten, hält Abraham an seinem Vertrauen auf den Gott fest, den er als verlässlichen und rettenden Gott kennt, und hofft und vertraut – kontrafaktisch – darauf, dass sich Gott auch jetzt als verlässlich und rettend erweisen wird. Das voranstehende Kapitel Gen 21 hat – Abraham wie den Lesenden – gezeigt, dass auch die Preisgabe des eigenen Sohnes, hier Ismaels, von Gott gewollt sein und ein – vergleichsweise – gutes Ende nehmen kann. Das anfängliche Missfallen Abrahams gegenüber diesem Plan in 21,11 und sein Eintreten für Ismael in 17,18 gegenüber Gott wird man freilich gerade im Vergleich mit Gen 22 auch als Teil der Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Abraham verstehen dürfen.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die Erzählung von Isaaks Bindung ist wahrlich eine der Erzählungen im Alten Testament, die großen Zweifel Gott gegenüber erwachsen lässt. Diesen Umstand kann auch die Exegese nicht verhindern, denn sie weist zwar darauf hin, dass dem Leser von Anfang an bewusst ist, dass Gott die Opferung am Ende nicht durchführen lässt, sondern Abraham nur prüfen will. Aber was ist das für ein Gott, der seine Menschen auf eine solch harte Probe stellt?
Interessant ist es daher, auf den Entstehungskontext zu blicken: die Erfahrung Israels nach Tempelzerstörung und Exil, dass Gott trotz der grausamen Geschehnisse an seiner Verheißung festhält, spiegelt sich in der Geschichte Abrahams mit seinem ihm verheißenen Sohn wider. Diese Retrospektive mag bei der Interpretation dieser Prüfung helfen.
Hilfreich ist außerdem die exegetische Beobachtung, dass der Text zu Beginn von „Gott“ spricht, zuletzt aber den Gottesnamen verwendet. Damit ist beim unmenschlichen Auftrag an Abraham eine Distanz eröffnet: zu dem Gott, den der Mensch nicht versteht, dessen Handeln unbegreiflich bleibt und der als ungerecht, hart und unnahbar erlebt wird. Und am Ende, als sich alles zum Guten gewendet hat, ist es der Gott, der sich mit Namen ansprechen lässt, zu dem eine Beziehung möglich ist. Und doch ist dieser Gott einer – beide Seiten sind die des einen Gottes; beide Seiten stehen für die menschlichen Erfahrungen mit Gott. Die Lebens- und Glaubenskunst wäre es also, in den dunklen Erfahrungen und Prüfungen des Lebens die Ansprechbarkeit Gottes nicht zu vergessen und immer mit zu bedenken.
2. Thematische Fokussierung
Im Fokus der Perikope steht ein Gottesverhältnis, das den Menschen extrem herausfordert. Will man die Tiefe des Geschehens erfahrbar machen, sollte man für die Predigt die Beobachterposition des wissenden Lesers verlassen und die Rolle Abrahams einnehmen. Dann tritt sowohl zutage, in welch unfassbare Situation Abraham von Gott geschickt wird, gleichzeitig kann aber deutlich werden, dass dieser Abraham bereits gute, segensreiche Erfahrungen mit Gott machen durfte: Bisher sind Gottes Verheißungen wahr geworden, Abraham befindet sich nicht mehr in der unsäglichen Warteschleife, während derer er blind vertrauen muss, sondern sein Vertrauen und sein Gehorsam stützen sich auf die wertvolle Erfahrung, dass Gott bisher seine Versprechen gehalten hat. Man wird Zeuge einer bereits länger andauernden Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Abram. Möglicherweise unterscheidet ihn das von manchem Gottesdienstbesucher, der gerade an Gott zweifelt und Erfüllung einer Verheißung noch nicht erlebt hat. Gleichzeitig sollte man sich bewusst machen: Dieser Abraham musste zu Beginn auch den Sprung des Glaubens wagen und mutig in ein neues Land ziehen, ohne dass er Versicherungen gehabt hätte, dass dieser Weg für ihn gut enden würde.
Mit der Exegese wird aber auch noch einmal sichtbar: Klingt die Verheißung an Abraham wie eine individuelle Ansage an ihn, die wir heute vermissen, so wären damit die Erzelterngeschichten missverstanden, weil es nicht um eine Wunscherfüllung geht, sondern um das große Ganze: die Volkwerdung und die Landnahme – ein Geschehen über die einzelne Person hinaus. Mit diesem Widerspruch der modernen Vorstellung und des biblischen Denkens muss umgegangen werden. Christlich verstanden müsste man dann als Verheißung die versprochene Erlösung der Menschen durch Gott und die Auferstehung sehen. Auch hier braucht es den Sprung des Glaubens und gleichzeitig den Verweis auf die Schrift, die immer wieder darauf hinzuweisen versucht, welche Verheißungen bereits erfüllt wurden, und die darum auf Gottes Treue pocht.
Und dann erfährt man in der Exegese, dass es nicht ausreiche, dass Abraham Gott vertraute. Sein Gehorsam musste geprüft werden, wie es auch am Ende noch den Kult braucht. Das widerspricht der evangelischen Sicht auf Abraham, der „nur“ zu glauben brauchte – und das allein genüge für die Gottesbeziehung. Die ätiologische Facette dieser Geschichte ebenso wie die später nachgetragene Konditionierung der Verheißung werfen hier ein ganz neues Licht auf die (paulinische und evangelische) Interpretation Abrahams. Lässt sich diese Erkenntnis dennoch verständlich machen? Es ergibt sich die Möglichkeit, darüber zu reden, dass zu einer vollumfänglichen Religiosität und einem vollumfänglichen Verhältnis zu Gott auch der Glaubensvollzug gehört: mit anderen Menschen beten und singen, in der Gemeinschaft Gottesdienst feiern und insbesondere das Abendmahl feiern. Und dass sich ein Verhältnis immer in dunklen Stunden bewährt – ob nun zwischen Gott und Mensch oder unter Menschen.
3. Theologische Aktualisierung
Der Text fordert unausgesprochen auf, Abraham als Vorbild im Glauben zu erkennen – so fromm und gehorsam müssten wir Gläubigen sein, solch ein Vertrauen sollten wir aufbringen auch in den dunkelsten Stunden unseres Lebens. Manch einer wird wohl zugeben, seine Liebe zu Gott ginge sehr weit – aber nicht so weit, den eigenen Sohn zu opfern. Dieser Gott, dem Abrahams Vertrauen nicht reicht, der die Probe aufs Exempel möchte, der den Sohn fordert, an dem doch alle Verheißung hängt, ist dabei einer, der sich selbst im Neuen Testament am Kreuz opfern wird. Das, was er von Abraham zunächst verlangt, aber dann schlussendlich nicht einfordert, wird er als Gott Vater selbst an seinem Sohn vollziehen – und zwar für alle Menschen, auch wenn sie nicht bereit wären, diesen Schritt wie Abraham zu gehen.
Gleichwohl ist unsere Zeit nicht frei davon, Opfer bringen zu müssen. Welche sind es in der heutigen Zeit? Und wie erleben Menschen heute Gott, wenn sie ein Opfer bringen müssen? Dabei wird der Ausdruck „ein Opfer bringen“ auch oft für Situationen verwendet, in denen ein positives Ergebnis schnell sichtbar wird und sich der Charakter des Opfers damit fast schon in Selbstauflösung befindet. Manchmal ist dieses sogenannte Aufopfern im Alltag gar nur ein Abwägen zwischen sich ausschließenden Möglichkeiten, weil man im Leben eben nicht alles haben kann. Anders sieht es aus, wenn ukrainische Familien ihre Angehörigen in den Krieg schicken in der Hoffnung auf einen ungewissen Sieg ihrer Armee und den Erhalt ihres Landes.
Abraham aber weiß nicht, wofür er seinen Sohn opfern soll. Er weiß, daß dieses Opfer die gesamte Verheißung zunichtemachen wird. Und obwohl er sich zurücknimmt, beinahe passiv wirkt – Gott somit handeln lässt – und wir keinen Einblick in seine Gedanken- und Gefühlswelt erhalten, zeigt sich doch an zwei Stellen, was in ihm vorgehen mag: Er zögert das Opfern hinaus, verkehrt die übliche Reihenfolge beim Brandopfer und befolgt damit Gottes Anweisung nicht schnurstracks; anschließend wird Gott zu dem ansprechbaren Gott, der sieht: ihn, Abraham, seinen Glauben und seinen Gehorsam. Abrahams Opfer ist selbstlos – es kommt nicht ihm zugute oder jemandem aus seinem direkten Umfeld, sondern Gott. Seine Belohnung geschieht trotzdem in dieser Welt.
Wenn ein Christ heutzutage Opfer bringt – wo und wann erhält er den Lohn? Denkt man an die in der Taufe verheißene Erlösung und Auferstehung, dann ist die Belohnung bestenfalls himmlisch. Ein solches nur aufs Jenseits angelegtes Gottesverhältnis müsste dann bedeuten, dass alle Gebete für Heilung und Bewahrung im Hier und Jetzt unnütz sind. Gleichzeitig ist es die harte Lebenserfahrung mancher Menschen, dass ihr Leid und ihr Opfer kein gutes Ende haben und nicht aus der Retrospektive die Erkenntnis der guten Fügung – und dass Gott es gut mit seinen Menschen meint – erwächst. Tröstlich bleibt dann, dass der christliche Gott selbst ins tiefste Leid ging, in der Erfahrung der absoluten Dunkelheit also ganz nah sein kann.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Der Sonntag Judika läutete nach alter Sitte die Passionszeit ein; noch in der luth. Agende von 1955 entfiel bereits ab diesem Sonntag das Gloria Patri. Das Evangelium thematisiert, wie Jesus Christus Verhör und Misshandlung geduldig erträgt und gehorsam seinen Leidensweg beginnt. Er wird ans Kreuz gehen, sein Opfer bringen. Auch die weiteren Texte nehmen das Ertragen von Leid in den Blick. Hiob, dessen theologiegeschichtliche Nähe zu Gen 22 die Exegese bereits angesprochen hat, kann bei allem Schicksal dennoch ausrufen: „Ich weiß, dass mein (Er-)Löser lebt.“ (Hiob 19,25) Er ist wie Abraham ein geprüfter, weil Gott sich durch Satan hat verführen lassen, Hiobs Frömmigkeit auf die Probe zu stellen. Wer in die Nachfolge Jesu tritt, muss sich also fragen: Wie werde ich meinen Glauben behaupten, wenn ich ein Opfer bringen muss, wenn mich Gott ins Leid schickt?
Autoren
- PD Dr. Walter Bührer (Einführung und Exegese)
- Elisa Victoria Blum (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500027
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