Johannes 13,1-15.34-35 | Gründonnerstag | 28.03.2024
Einführung in das Johannesevangelium
Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.
Robert Kysar
Das Evangelium „nach Johann
Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium
Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.
1. Verfasser
Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5
Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.
Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-2
Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.
2. Adressaten
Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh
Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.
3. Entstehungsort
Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie
5. Besonderheiten
Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.
Literatur:
- Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
- Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
- Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
- Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.
A) Exegese kompakt: Johannes 13,1-15.34-35
Liebe bis zur Vollendung
Der Predigttext ist zusammengesetzt aus der Fußwaschungs-Episode (ohne die dort angefügten Jesusworte) und dem erst später in Jesu ‘Abschiedsrede’ formulierten Liebesgebot. Da die Episode in V. 15 mit einer Jesusrede abbricht, kann das Gebot aus V. 34f. hier gut angefügt werden. Da es in beiden Fällen um das Motiv der Liebe Jesu und deren Vorbildhaftigkeit geht, ist dies sachgemäß.
Übersetzung
1 Vor dem Passafest aber wusste Jesus, dass seine Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater zu gehen, [und] wie er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung. 2 Und während eines Mahls - der Teufel hatte schon Judas Iskariot, Simons Sohn, ins Herz gegeben, ihn auszuliefern, 3 [Jesus] aber wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehen werde – 4 da steht er vom Mahl auf, legt die Obergewänder ab und umgürtete sich, indem er ein Leinentuch nahm. 5 Dann gießt er Wasser in das Waschbecken und fing an, die Füße der Jünger zu waschen und mit dem Leinentuch, mit dem er umgürtet war, abzutrocknen. 6 Er kommt nun zu Simon Petrus. Der sagt zu ihm: „Herr, du wäschst meine Füße?“ 7 Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht, du wirst es aber danach erkennen.“ 8 Petrus sagt zu ihm: „Nicht in Ewigkeit sollst du mir die Füße waschen!“ Jesus antwortete ihm: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“ 9 Simon Petrus sagt zu ihm: „Herr, nicht meine Füße allein, sondern auch die Hände und den Kopf.“ 10 Jesus sagt zu ihm: „Wer gebadet ist, hat es nicht nötig, sich zu waschen, sondern er ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht alle.“ 11 Denn er kannte den, der ihn ausliefern würde, darum sagte er: „Nicht alle seid ihr rein.“ 12 Als er nun die Füße gewaschen und seine Obergewänder [wieder] genommen und sich zu Tisch gelegt hatte, sagte er zu ihnen: „Erkennt ihr, was ich euch getan habe? 13 Ihr nennt mich ‚der Lehrer‘ und ‚der Herr‘, und ihr sagt es mit Recht, denn ich bin es. 14 Wenn nun ich eure Füße gewaschen habe, der Herr und der Lehrer, so seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen. 15 Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr tut, wie ich an euch getan habe.“
…
34 „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. 35 Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 1 kann als vollständiger Satz (mit finitem Verb ἠγάπησεν) gelten, doch ist das logische Verhältnis von εἰδὼς und ἀγαπήσας schwer zu bestimmen. Das eingefügte ‚und‘ lässt die beiden Umstandsangaben nebeneinander stehen.
V. 1 εἰς τέλος – „bis zum Ende“ oder „voll und ganz“, „bis zum Äußersten“ – vgl. Joh 19,28-30.
V. 2b-3 ist eine Ellipse, die in den Satz eingeschoben ist.
V. 10: Hier liest die Mehrzahl der Handschriften zusätzlich „außer die Füße“. Nach inneren Kriterien der Textkritik (lectio brevior-Regel) ist dies ein Zusatz, der die Notwendigkeit der Fusswaschung bzw. später der Taufe festhalten wollte. Der Kurztext ist vorzuziehen.
2. Literarische Gestalt und Kontext
Dass V. 1-3 sprachlich ‚überladen‘ sind, könnte (aber muss nicht) Indiz einer redaktionellen Tätigkeit sein. Die Sprachgestalt verdeutlicht, dass nach 12,50 eine Zäsur und hier ein ‚Prolog‘ vorliegt, der den neuen Einsatz des zweiten Teils des Joh (‚Buch der Passion‘) markiert.
Der Abschnitt beginnt mit einer „Überschrift“, die die „Vorzeichen“ für alles Folgende (bis Joh 21) gibt: Jesu „Stunde“ (vgl. 12,23), sein Vorauswissen darum, und das Motiv seiner Liebe bis zur Vollendung (vgl. 19,28-30). Die Fußwaschung ist eine Veranschaulichung dieser Liebe.
Die Handlung ist knapp (V. 4-5) und lebendig erzählt, mit Formen des historischen Präsens und kurzen Wortwechseln. Das Tempo verlangsamt sich beim Dialog mit Petrus und Jesu weiterer Belehrung. Darauf liegt der Akzent. Dabei lassen sich eine symbolische (V. 6-10) und eine exemplarische (V. 12-15) Deutung der Fußwaschung unterscheiden. Zielt die erste auf Jesu Werk zugunsten seiner Jünger (Soteriologie), so zielt die zweite auf die imitatio, das entsprechende Handeln der Jünger (Ekklesiologie, Ethik
Petrus ist (neben Judas; vgl. V. 18.21-30) der einzige namentlich genannte Jünger. Auffällig ist, dass er hier zwei Missverständnissen nacheinander verfällt: Zuerst lehnt er es ab, sich von Jesus die Füße waschen zu lassen, dann reicht es ihm nicht aus V. 8f.). Er versteht nichts (V. 7). Doch steht er damit nicht allein, vielmehr ist dies die Situation aller Jünger vor Ostern. Erst „danach“ (V. 7) werden sie verstehen (vgl. 2,22; 12,16). Dieses nachösterliche Verständnis ist die Deutung des Christusgeschehens, das sich im ganzen Joh niederschlägt.
3. Historische Einordnung
Die Episode eröffnet die joh Passionsgeschichte bzw. zunächst den Komplex der „Abschiedsreden“ oder -gespräche (Joh 13-17)
V. 1 erwähnt auch das bevorstehende Passafest, doch ist das Mahl hier kein Passamahl. Nach Joh stirbt Jesus ja selbst als das „wahre Passalamm“, zu der Zeit, da im Tempel die Passalämmer geschlachtet wurden – d.h. einen Tag vor dem in den Synoptikern gegebenen Datum. Die hier zugrunde liegende Vorstellung ist eher die eines Symposions von Freunden, die auf Liegepolstern zu Tische „liegen“ und dabei Gespräche führen. Dieses Setting ist dann auch der Hintergrund der folgenden „Abschiedsreden“ Jesu (13,31-17,24
Der Ort des Geschehens (in Jerusalem
Dies wirft historische Fragen auf: Wahrscheinlich ist, dass der irdische Jesus mit seinen Jüngern ein Passamahl feierte (Mk 14,17-25). Dort haben auch die Deuteworte und der eschatologische Ausblick (V. 23-25) ihren Ort. Dass er bei diesem Mahl oder in einem anderen Rahmen „auch“ die Fußwaschung
4. Schwerpunkte der Interpretation
Was ist Fußwaschung
Der Schlüssel zur Deutung liegt in der Rede von der „Liebe“ Jesu zu den Seinen (V. 1; vgl. V. 34). Diese kommt in dem erzählten Akt zum Ausdruck, ebenso wie in seinem Todesweg, wenn die Lebenshingabe „für seine Freunde“ in 15,13 im Horizont antiker Freundschaftsethik als Akt der ultimativen Freundesliebe gedeutet wird. Nach Joh geht Jesus diesen Weg bewusst und freiwillig, im Wissen um seine „Stunde“ und sein Ziel. Er ist nicht Opfer der Ränke anderer, auch nicht Opfer eines „Verrats“ oder gar des Teufels. Er ist und bleibt souverän.
Die beiden Missverständnisse des Petrus
- 1.Jesu Handeln zugunsten der Jünger, sein Todesweg, ist notwendig, unabdingbar, sie müssen dieses an sich „geschehen lassen“.
- 2.Dieses Handeln genügt. Die Zusage des Lebens im Glauben an Jesus ist gültig; sie muss und kann nicht durch eigenes Streben verlängert, vergrößert, ergänzt werden.
Die ethische Deutung thematisiert die imitatio Christi. Jüngerschaft ist Nachahmung. V. 34f. formulieren umgekehrt den Erkenntnisprozess: Am Handeln der Nachfolger wird die Zugehörigkeit zu Christus erkennbar. Liebendes Handeln aufgrund des Gebots Jesu und in Analogie zu seinem Handeln macht die Zusammengehörigkeit von Jesus und seinen Nachfolgern erkennbar, ja es hat „missionarische“ Wirkung, insofern andere daran „erkennen“.
5. Theologische Perspektivierung
Ein Vorbild „nachzuahmen“ bedeutet in der Antike nicht, die gleichen Handlungen zu tun. Das wäre bei Vorbildern wie Sokrates, Alexander d. Gr. oder Caesar nur den wenigsten möglich. Imitatio Christi bedeutet auch nicht, dass die Jünger wie Jesus
Mit den geläufigen theologischen Kategorien von Rechtfertigung „allein aus Glauben, ohne Werke“, der strikten Differenzierung von Rechtfertigung und Heiligung oder dem Schema Indikativ / Imperativ lässt sich das ethische Denken im Joh nicht fassen. Liebe ist hier das ganz natürliche Ethos einer Familie (Gottes), zu der alle Glaubenden gehören. Damit ist vorausgesetzt: „Wer glaubt, der liebt“, und (nach 1 Joh
Das johanneische Gebot der „Geschwisterliebe“ bringt nicht die Weite der synoptischen bzw. jesuanischen Nächstenliebe oder gar Feindesliebe zum Ausdruck. Dies lässt sich evtl. aus der Situation der joh Gemeinden erklären, in denen es primär um innergemeindliche Spannungen (1 Joh
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die hartnäckigste aller Kurzsichtigkeiten bei der Betrachtung der johanneischen Mahlszene ist wohl die Fixierung auf die Botschaft von der Umkehrung von Hierarchien, von Statusverzicht und selbstgewählter Erniedrigung. Ich fühle mich ertappt, bemerke ich doch bei mir selbst die stante Regung, angeleitet durch Jesu Haltung in dieser Perikope in einer Welt voller fieser Despoten und „alter weißer Männer“ über die notwendige Umkehrung von Machtstrukturen losbrausen zu wollen. Aber halt! Darum geht es nicht.
Der Nukleus der johanneischen Mahlszene lässt sich weder durch Träumereien von einer postpatriarchalen Welt noch durch die unmittelbare Reinszenierung des Waschhandelns Jesu in unsere Gegenwart übersetzen. Auf Basis der hier gelieferten exegetischen Einsichten kann die Predigt auf den üblichen blinden Fleck durch Neufokussierung reagieren.
2. Thematische Fokussierung
Die wichtigste Fokussierung zuerst: Alle ethischen Schlüsse aus dieser Erzählung tappen ohne das rückstrahlende Licht von Kreuz und leerer Grabeshöhle im Dunkeln. Wenn die Fußwaschungsszene nur von der besonderen Liebestat am Kreuz her verständlich ist, so wird diese Liebe besonders zu konturieren sein. Überrascht werden sollten die Predigthörenden nicht vom Meister, der zum Füßewaschen niederkniet. Sondern von einer Liebe, die keinen tragfähigen Grund zum Lieben braucht und mehr noch: die das Bodenlose nicht scheut. Was heißt das konkret?
In der Fußwaschungsszene wird mitten im Leben, inmitten einer Mahlzeit die ungeheuerliche Liebe „bis zur Vollendung“ von Jesus vorgezeichnet: Mit großer Sorgfalt setzt Jesus zur Fußpflege seiner Mitreisenden an. Hörbar und spürbar wird in dieser Szene besonders die Skepsis, Zurückhaltung, ja, auch der schamerfüllte Widerstand, den die ungewöhnliche Intimität und Zuwendung hervorruft. Pflege kostet Überwindung ‒ auf allen Seiten. Jesu Tat ist so grundlos und grenzüberschreitend, dass darin die Radikalität göttlicher Liebe noch vor dem Kreuzesgeschehen aufscheint. Alle Beteiligten brauchen Zeit, damit zurechtzukommen.
Wenn wir als Zuschauende dieses eine Beispiel jesuanischen Liebeshandelns immer wieder „aufwärmen“, werden die Einsichten daraus jedoch mit der Zeit lauwarm. Mit dem immer gleichen Beispiel wird das Ereignis von der ungeheuren Zuwendung Jesu zu seinen Jüngern und Gottes zu uns Menschen zur Selbstverständlichkeit. Gottes Liebe aber ist alles andere als selbstverständlich. Sie geht nicht in Miniaturspiegelungen auf. Etwa wenn wir sie in der rituellen Reinszenierung der Fußwaschung oder in Erzählungen von „dem kleinen Lächeln, das den ganzen Tag verändert hat“ zu illustrieren suchen.
Es wird hingegen zu veranschaulichen sein, wo und in welchen Punkten die Liebe Gottes von unseren gängigen Liebeskonzepten und Verhaltenskodizes abweicht. Jesus wäscht allen Jüngern die Füße, auch seinem Verleugner, auch seinem Auslieferer. Darin drückt sich ein radikaler Selbstverzicht aus: die Bereitschaft, ganz beim anderen zu sein, ja sogar das eigene Leben verleugnen zu lassen. Das ist, wie wenn Selenskyj Putin die Füße waschen und sagen würde: „Du hattest bestimmt deine Gründe.“ Oder wie wenn ein zu lebenslanger Haft verurteilter Unschuldiger seinem Richter nach 20 Jahren die Hand küssen und sagen würde: „Macht ja nichts. Irren ist menschlich.“ Solche ungeheuerlichen „Liebestaten“ lassen sich im Rahmen eines ethischen Appells zur Christusnachfolge nicht einfordern. Sie sind in unserer Welt undenkbar, unmöglich!
3. Theologische Aktualisierung
Wenn eine unmittelbare Nachahmung der Fußwaschung zu kurz greift und die Imitation des radikalen Liebeshandelns Jesu „bis zur Vollendung“ unser Liebesvermögen überschreitet – wie können wir uns dann davon ansprechen und bewegen lassen? Immerhin spricht Jesus nach der Waschung sehr konkret von einer Verpflichtung zum gegenseitigen Füßewaschen (V. 14), von der Beispielhaftigkeit seines Handelns und von einem neuen Gebot.
Es geht vor allem um die Haltung und Intention dieses Vorbildes, lerne ich aus der Exegese. Wo und wie verwirklicht sich diese Haltung? Sucht man nach Beispielen aus unserer Wirklichkeit, ist man allzu schnell bei abgegrasten bis banalen Beispielen von besonderer menschlicher Zuwendung. Meines Erachtens sollte man auf solcherlei Veranschaulichungen lieber verzichten.
Aussichtsreicher ist es bestimmt, sich konkret in die Lage der Liebesempfangenden, vielleicht gar des Petrus hineinzuversetzen. Warum sonst ist der Dialog zwischen Jesus und Petrus in dieser Erzählung so detailreich nachgezeichnet? An Petri Reaktion wird offenbar, wie verstörend Christi Liebe auf uns wirken kann, wie schwer es ist, sie anzunehmen und gelten zu lassen.
Eine Bekannte sagte mir in einem Gespräch, dass ihr die Vorstellung von einem bedingungslos liebenden Gott Angst einjage. Sie könne die in manchen Gottesdiensten aufgerufene „Nähe Gottes“ nur schwer ertragen. Besonders der Friedensgruß im Gottesdienst, diese aufgezwungene Nähe, und die Rede von „Schwestern und Brüdern“ wirke auf sie abstoßend. Mir fallen sofort auch meine Konfirmand:innen ein, die die Intimität des Abendmahls, des gegenseitigen Händefassens, auch die individuelle Zuwendung „für dich gegeben“ oft nicht gut aushalten können. Wie häufig brechen sie beim ersten Abendmahl in Gelächter aus, weil die Situation für sie so skurril, überfordernd, ja auch abschreckend ist. Mir fallen abseits des gottesdienstlichen Handelns Menschen ein, die plötzlich auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind, die sich schwer daran gewöhnen können, eine andere Person so nah an sich heranzulassen. Schwerer noch, wenn die eigenen Kinder die Rolle der Kümmernden übernehmen. Diese Rollenumkehrung ruft Ängste und Unbehagen auf.
Nun ist in der Fußwaschungsszene nicht nur das Unbehagen, sondern auch eine Haltungsänderung von Petrus geschildert. Erst ist Petrus die Intimität zu viel, dann fordert er ein umfänglicheres Bad ein. Den Ausschlag gibt Jesu Erklärung: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“ So verstörend diese Liebestat im ersten Moment wirkt, so faszinierend ist sie in ihrer Andersartigkeit, so sehr erwirkt sie Interesse und den Wunsch, größeren Anteil daran zu bekommen. Meine Bekannte zeigt immer noch großes Interesse an meiner Arbeit als Pfarrerin, fragt mir Löcher in den Bauch, arbeitet sich an meinen ungewöhnlichen Antworten ab. Die Konfirmand:innen sind stolz, als Konfirmierte sogar Wein zu empfangen, also richtig dazuzugehören. Sie gehen nach der Konfirmation plötzlich ganz souverän zum Abendmahl. Im besten Falle können auch Pflegebedürftige die ungewohnte Zuwendung irgendwann als wohltuend empfinden. Nicht selten sind dann irgendwann die Pflegenden überfordert von der immer weiter eingeforderten Nähe.
Die liebende Zuwendung wirkt ‒ auch in ihrem anfänglichen Abschreckungspotential ‒ missionarisch. Vielleicht findet die Kirche, die sich mit einer „Krise der Mission“ auseinanderzusetzen hat, darin neue Anknüpfungspunkte, ohne freilich Menschen zur Intimität zu zwingen. Jesus geht behutsam vor. Er wäscht „nur“ die Füße. Und das genügt!
Ich habe in meiner Gemeinde aus vermeintlich theologischen Gründen (das Abendmahl kennt keine Zugangsbedingungen) dazu angeregt, den Friedensgruß vor dem Mahl aus der Abendmahlsliturgie herauszunehmen. Nun überlege ich, ob ich vorschnell gehandelt habe. Ist dieser Reibungspunkt nicht gerade anregend? Gleichzeitig sollte die Reinszenierung liebender Zuwendung gewiss nicht in reiner Traditionsgefälligkeit („das ist bei uns schon immer so“) und sektiererischem Gruppenzugehörigkeitsgefühl erstickt werden. Es ist eine sensible Balance!
4. Bezug zum Kirchenjahr
Am Gründonnerstag wird in den meisten Gemeinden Abendmahl gefeiert. Wenn sich unser sakramentales Handeln mit der johanneischen Perikope auch nicht direkt begründen lässt, so ergibt sich doch eine Parallelität zwischen ungewohnter bis unangenehmer Intimität des Abendmahlsritus und Petri Unbehagen mit der Fußwaschung. Ich glaube z.B., dass der Verzicht auf einen Gemein-schaftskelch mittlerweile nicht nur hygienische Gründe hat. Das Unbehagen lässt sich thematisieren. So geheimnisvoll, ja auch unbehaglich die Abendmahlsfeier ist, so geheimnisvoll und überfordernd bleibt Gottes Liebe „bis zur Vollendung“ für uns.
Inmitten der Karwoche ein Adventslied zu singen, mag ungewöhnlich erscheinen. Doch nirgends ist die grundlose Liebe Jesu schöner ausgedrückt als in EG 11 (Wie soll ich dich empfangen), Strophe 5: „Nichts, nichts hat dich getrieben, zu mir vom Himmelszelt, als das geliebte Lieben, damit du alle Welt (…) so fest umfangen hast.“
Die Passivität der Karwoche lässt spürbar werden, wie viel schwerer die Haltung des Annehmens gegenüber der Haltung des Gebens ist, die Haltung des Aushaltens gegenüber der Haltung des Anpackens, die Haltung der Gottergebenheit gegenüber der Haltung des Aktionismus. Welch große Lektion für persönliche und kirchliche Bezüge!
Autoren
- Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
- Dr. Olivia Rahmsdorf (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500029
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