Johannes 16,23b-28(29-32)33 | Rogate | 25.05.2025
Einführung in das Johannesevangelium
Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.
Robert Kysar
Das Evangelium „nach Johannes"
Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium
Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.
1. Verfasser
Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5
Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.
Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20
Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.
2. Adressaten
Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh
Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.
3. Entstehungsort
Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie
5. Besonderheiten
Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.
6. Die johanneischen Abschiedsreden
Zu den Besonderheiten des Joh gehört, dass es zwischen Jesu letztem Mahl und seiner Verhaftung ausgedehnte Reden Jesu bietet, die nur an seine Jünger (ohne Judas, s. 13,30) ergehen. Diese werden „Abschiedsreden“ (AR) genannt und umfassen eine bzw. mehrere, z.T. dialogisch aufgelockerte Reden (13,31 – 16,33
Von den synoptischen Endzeitreden (Mk 13 parr.
Gliederung: Deutlich ist die Zäsur nach 14,31 (par Mk 14,42), die zu literarkritischen Vermutungen Anlass gegeben hat (s.u.). Zunächst sind zwei AR zu unterscheiden (13,31 – 14,31; 15,1 – 16,33). Man kann weiter 13,31-38 als Einleitung zu den ganzen AR abtrennen und die erste Rede in 14,1-31 sehen. Da in 15,1 keine Redeeinleitung folgt und erst in 16,4b wieder ein Neueinsatz erkennbar ist, können 15,1-17 und 15,18 – 16,4a als zwei Redestücke und 16,4b-33 als eine zweite, zu 14,1-33 parallele Redekomposition gelten. Die Gesamtkomposition bietet trotz kleiner Inkonsistenzen ein dichtes Gefüge von Wiederholungen und Wiederaufnahmen, so dass ein vertiefender Gedankenfortschritt bzw. ein sukzessives Durcharbeiten der Fragen erkennbar wird, das in den positiven Ausblick 17,24-26 mündet.
Die Reden in Kap. 14 und 16 weisen eine thematische Rahmung auf: die erste ist in 14,1.27 durch das Motiv von Erschütterung und Glauben gerahmt, die zweite in 16,7.33 (mit dem Zentrum 16,20-22) durch die Motive von Trauer und Bedrängnis (vs. Freude, s. 16,20-22). Sie adressieren je das Problem des Weggehens Jesu (14,33.36; 14,5; 16,5f) bzw. der Unsichtbarkeit und vermeintlichen Abwesenheit Jesu nach seinem Tod und auch nach Ostern (14,18-20; 16,10.16-19) und bearbeiten dies im Sinne der joh Glaubenserkenntnis so, dass die verunsicherte Jüngergemeinde in der Orientierung am Geschick Jesu und durch seine Zusage wieder neu seiner Gegenwart vergewissert und zum Zeugnis ermutigt wird.
Literarkritische Dekompositionsversuche gab es v.a. aufgrund von 14,31:
- 1.Bultmann wollte die Probleme durch Textumstellungen beseitigen.
- 2.Seit Wellhausen wurde Joh 15-17 einer späteren z.T. in sich gestuften Redaktion zugewiesen, die thematisch mit 1 Joh verbunden sei und die ‘Radikalität’ des Evangelisten oder korrigieren wolle.
- 3.Neuere Entwürfe (Zumstein) sehen in Joh 15-17 eine „Relecture“, d.h. eine Fortschreibung, die nicht im Widerspruch, sondern im Weiterdenken der joh Schule gesehen wird. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass ein solches Weiterdenken und -schreiben von demselben Autor stammt.
- 4.Andere (Brown) vermuteten hinter den Reden in Joh 14 und 16 zwei parallele Entwürfe.
- 5.Gegen literarkritische Versuche will Thyen 14,31 als symbolische Aufforderung an die Leserschaft und Kap. 15-17 als Exkurs verstehen. Doch bleiben auch hier viele Fragen offen. Literarkritische Versuche werden gegenwärtig nicht mehr als Schlüssel zum Verständnis der AR herangezogen.
Interpretatorisch hilfreicher ist die religions- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung. Als „letzte Worte“ gehören die joh AR zur Literaturgattung des „literarischen Testaments“. Solche Texte sind v.a. im antiken Judentum häufig, zunächst im Dtn (und anderen atl. Texten), und dann in Abschiedsszenen und Vermächtnisreden von Stammvätern (Testamente der 12 Patriarchen), wo ein Stammvater in Todesnähe seine Nachkommen versammelt, z.T. im Rahmen eines Mahls, und im Rückblick auf sein Leben Mahnungen und (eschatologische) Ausblicke gibt. Im NT finden sich Parallelen in Apg 20,17-38 sowie in Briefform in 2Tim und 2Petr. Im Griechentum sind ultima verba i.d.R. nur als kurze Sentenzen überliefert. Bemerkenswerte Parallelen zu den joh AR finden sich aber in Trostbriefen (Seneca), in der Form der Lehrgespräche beim Mahl (Symposium, von Plato bis Plutarch) und im Drama, wenn der verzögerte Abgang des Protagonisten oder sein bevorstehender Tod die noch zu sprechenden Worte besonders gewichtig macht (Parsenios).
Die AR ergehen im Kontext der „Stunde“ Jesu (12,23), d.h. im Horizont seines Todes, hermeneutisch gesprochen auf der Grenze zwischen seinem Leben und Tod. Dies zeigt sich sprachlich darin, dass manche Formulierungen bereits die Perspektive des Rückblicks auf das irdische Wirken Jesu bzw. das vollendete Heilsgeschehen einnehmen (13,34; 15,12; 16,11.33; 17,4; vgl. 16,4; 17,11…). Instruktiv ist der Kontrast a) zu den Reden im Mt, die allesamt Reden des Irdischen sind und seine Lehre wortwörtlich und gültig zusammenfassen, und b) zu nachösterlich situierten Offenbarungsreden und Jüngergesprächen in späteren, z.T. gnostischen „Dialogevangelien“, in denen das irdische Geschehen und der Tod Jesu aus einer späteren oder ‘himmlischen’ Erkenntnis relativiert werden. Demgegenüber halten die joh AR Jesu Erdenwirken und Tod und dessen nachösterliche Deutung zusammen. Jesu Worte ergehen an seine irdischen Jünger und im Evangelium zugleich an die nachösterliche Jüngergemeinde, sie thematisieren die Trauer der Jünger vor seinem Weggehen (13,33.36-38; 14,1.5; 16,5f etc.) und zugleich die Angst und Verlassenheit der späteren Gemeinde in der Welt (14,18; 16,33).
Die AR sind nicht Rede des irdischen Jesus, sondern ein literarisch und theologisch gestalteter Text. Ihr Wert besteht gerade darin, dass im Munde Jesu bereits auf die Zeit der Gemeinde vorausgeblickt wird. Die AR sind zugleich der am stärksten für die Probleme der joh Adressaten transparente Textteil des Joh. Von hier aus lässt sich sagen, dass das Joh zunächst eine „bedrängte Gemeinde“ (K. Wengst) im Blick hat. Dennoch geht ihr Blick über eine konkrete Situation hinaus und thematisiert grundsätzlich die Situation der Jüngergemeinde in der Welt.
Thematisch kommt in den AR programmatisch die Form der Nachfolge in der nachösterlichen Zeit (13,36-38; 14,1: als Glaube), zur Sprache, weiter die Zusage des Geistes als „Beistand“, der die Gemeinde an Jesu Stelle begleitet, lehrt, zum Zeugnis ermächtigt und für sie gegenüber der „Welt“ den Prozess um die Wahrheit führt. Weiterhin expliziert sich hier erstens die Ekklesiologie (Weinstockrede) im Charakter der Gemeinde als Kreis von Freunden (15,13-15), in der Gemeinschaft wechselseitiger Liebe (13,34f; 15,12.17) und in der Hoffnung auf Erhalt ihrer Einheit (17,21). Die AR thematisieren zweitens die Eschatologie in der Interpretation der Parusieerwartung (14,2f.21-24; 16,16-19) und der Erwartung der Einwohnung Christi und Gottes in den Glaubenden und ihrer Vollendung in der Christusgemeinschaft (14,3; 17,24). Drittens entwickeln die AR die joh Form der Ethik, die im Liebesgebot kulminiert und alles an diesem (und dem Beispiel Jesu) bemisst. Weil die AR die Perspektive des Joh so programmatisch zum Ausdruck bringen, können sie als hermeneutischer Schlüssel zum Joh gelten (G. Bornkamm, Zumstein).
Literatur:
- Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
- Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
- Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
- Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.
A) Exegese kompakt: Joh 16,23b-28(29-32)33
„Rogate“ – bittet! Jesu Verheißung zum Bittgebet, das ein Privileg der Jüngerinnen und Jünger ist, die ermutigt werden, im Vertrauen auf Gottes Liebe ihm ‚alles‘ anheimzustellen.
Übersetzung
23 „Amen, amen, ich sage euch: Was immer ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben. 24 Bis jetzt habt ihr nichts in meinem Namen gebeten. Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei.
25 Dies habe ich zu euch in Gleichnissen geredet. Es kommt die Stunde, dass ich nicht mehr in Gleichnissen zu euch reden werde, sondern in Offenheit vom Vater künden werde. 26 An jenem Tag, werdet ihr in meinem Namen bitten, und ich sage nicht, dass ich den Vater um euretwillen bitten werde. 27 Denn der Vater selbst liebt euch, denn ihr liebt mich und glaubt, dass ich vom Vater ausgegangen bin. 28 Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen. Wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater.“
[29 Seine Jünger sagen: „Siehe, jetzt redest du in Offenheit und sagst kein Gleichnis. 30 Jetzt wissen wir, dass du alles weißt und nicht nötig hast, dass dich jemand bittet. Darin glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist.“ 31 Jesus antwortete ihnen: „Jetzt glaubt ihr?“ 32 Siehe, es kommt die Stunde – und sie ist gekommen -, dass ihr alle zerstreut werdet in das Eure, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, sondern der Vater ist mit mir.]
33 Dies habe ich euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Bedrängnis, aber seid stark! Ich habe die Welt besiegt.“
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 23b ἄν τι = was auch immer = alles, was…
V. 24 πεπληρωμένη (Perfekt) = vollkommen (als Zustand)
V. 25 λελάληκα (Perfekt): ich habe geredet – und diese Reden liegen vor
V. 25 παροιμίαι = ‚Gleichnisse‘, ‚verhüllte Rede‘ – παρρησία = unverhüllte Rede. In der antiken Philosophie hat παρρησία Gewicht als Freiheit zur offenen Rede, hier ist weniger die politisch-philosophische Kategorie relevant als die offenbarungstheologische: Nach Ostern ist die ‚Verhüllung‘ aufgehoben, Verstehen (durch den Geist) ist möglich.
V. 25 ἀπαγγελῶ: nimmt das ἀναγγελεῖ des Geistes von V. 15 auf.
V. 27 πεφιλήκατε, πεπιστεύκατε: das Perfekt legt den Fokus auf den gegenwärtigen Zustand: Liebe und Glaube der Jünger sind Realität. Der Rückbezug auf einen vergangenen Akt ist bei diesen Verben mit einer ‚durativen‘ Aktionsart nicht mehr deutlich.
V.31 ἄρτι πιστεύετε; ist meist verstanden als Frage, d.h. Infragestellung des vollmundigen Bekenntnisses von V. 30, angesichts der bevorstehenden Jüngerflucht (V. 32). Da im Ausgangstext keine Satzzeichen enthalten waren, ist auch ein Aussagesatz denkbar.
V. 33 θαρσεῖτε = seid mutig, nicht furchtsam, stark – „getrost“ ist hier zu schwach.
V. 33 νενίκηκα: Das Perfekt setzt voraus, dass der Sieg Christi über den Kosmos bereits erfolgt und gültige Realität ist. Faktisch ist V. 33 im Rückblick auf das Geschehen von Kreuz und Auferstehung formuliert.
2. Literarischen Gestaltung und Argumentation
Der Abschnitt ist Teil der 2. (Hälfte der) joh Abschiedsrede (15,1–16,33), konkret der Schluss ihres zweiten Teils (16,4b–33). Dieser reagiert auf die Trauer über Jesu
Das Thema des Gebets ist im vorliegenden Kontext mit einer Reihe anderer Themen verknüpft: der Verheißung des Wiedersehens (V. 16–19), dem damit verbundenen, ebenso verheißenen Umschlag von Trauer zur Freude (V. 20–22); dem Gegensatz ‚offene‘ vs. ‚verhüllte‘ Rede Jesu bzw. Unverständnis vs. Verständnis der Jünger (V. 25.29–31); dem Verhältnis der Jünger (V. 26f.) und Jesu (V. 27–29, 32b) zum Vater und natürlich der Passion Jesu und dem Versagen der Jünger darin (V. 32) sowie ihrem bleibenden Ertrag (V. 33b).
Auffällig wird immer wieder die Zeit, die Stunde (V. 25), das „bis jetzt“ (V. 24) und „dann/an jenem Tag“ (V. 25) hervorgehoben. Es zeigt sich eine Zeitstruktur von „bis“ und „ab“ jetzt, wobei der entscheidende Zeitpunkt kaum exakt die Zeit der hier erzählten Worte Jesu ist, sondern der Wendepunkt, sein Tod bzw. Tod und Auferstehung. Ab wann verstehen die Jünger? Verstehen sie schon in V. 29f? Kaum, wie V. 31f. zeigt. Sie verstehen ab der „Stunde“ Jesu, ab seiner Verherrlichung Dieser Zeitpunkt wird durch die Aussagen „bis jetzt“ / „von jetzt an“ eingekreist. Von da an, d.h. nachösterlich,ist für die Glaubenden eine neue Situation gegeben, die gekennzeichnet ist durch
- 1.Verstehen der Reden Jesu (V. 25) und seiner Sendung (V. 28; vgl. die Aussagen über den ‚erinnernden‘ und ‚lehrenden‘ Geist in 14,26 und 16,13–15),
- 2.ein neues, unmittelbares Verhältnis zu Gott als Vater (V. 27; vgl. 20,17), und
- 3.daraus resultierend: der Freiheit zum Gebet „in Jesu Namen“.
Sie können nun den Vater bitten, in Unmittelbarkeit (Jesus ist nicht mehr ‚Mittler‘) und mit besonderer Zuversicht, weil er seine Liebe erwiesen hat (V 27). Grundlage ist mithin die Sendung Jesu, die Vollendung seines Werks (Joh 19,30), sein ‚Sieg‘. Danach wird das „unanfechtbare Vertrauen Jesu in die Liebe und die Fürsorge des Vaters” „zum Privileg [der] Glaubenden“ (Zumstein, KEK Joh, 615).
Der Abschluss V. 33 formuliert (wie 14,27–31) eine Antwort auf die Trauer der Jünger über seinen Weggang (13,33; 16,6). Die neue Situation nach Ostern (16,7) soll die Trauer in Freude wandeln (16,20–22), den Jüngern in der Welt „Frieden“ geben (16,33a, vgl. 14,27).
3. Literarischer Kontext und historische Einordnung
Wie die Abschiedsreden im Ganzen, stehen diese Aussagen ‚auf der Grenze‘ zwischen Tod und Auferstehung; diese Grenze bzw. die Differenz zwischen davor und danach wird thematisiert. Die Jünger stehen narrativ noch im Davor, aber mit dem „jetzt“ wird schon das Danach eingespielt: Jesu unverhüllte Offenbarung, das glaubende Verstehen, das durch Jesu Tod ermöglichte, neue Gottesverhältnis, Jesu Sieg über die Welt. Dies kennzeichnet die Situation der Lesergemeinde, dies soll sie als für ihre Zeit und Situation gültig erkennen und darin Freude (V. 24) und Frieden (V. 33) finden.
Mehrere Formulierungen sind sprachlich im Rückblick auf Jesu ganze Sendung gestaltet. Insbesondere V. 33, das Pf. νενίκηκα τὸν κόσμον, ist nicht als vorösterliche, sondern als österliche Wirklichkeit zu denken. Auch V. 28, Jesu Kommen und sein Verlassen der Welt, ist nur aus rückblickender Perspektive erfassbar, auch wenn hier noch formal der ‚irdische‘ Jesus formuliert. Die ganze Abschiedsrede ist faktisch theologische Deutung des Geschicks Jesu aus nachösterlicher Retrospektive.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Am Anfang stehen eine Ermutigung und Verheißung zum Bittgebet. Dieses erfolgt nach Jesu Tod und Auferstehung auf einer neuen Grundlage, „im Namen Jesu“, und in einer neuen Relation der Glaubenden zu Gott, einer Unmittelbarkeit zum Vater, die nicht mehr durch Jesus ‚vermittelt‘ werden muss. Nach Joh wird Gott erst aufgrund von Jesu Tod und Auferstehung zum „Vater“ der Glaubenden, der Gotteskinder (Joh 20,17), zuvor ist er Vater Jesu, der in einem exklusiven Sohnesverhältnis präsentiert wird. (Ein gemeinsames ‚Vater unser‘ Jesu und der Jünger wäre im Joh kaum denkbar.) Erst durch Kreuz und Auferstehung teilt er seine Gottesbeziehung mit den Seinen, wird zum Bruder der Gotteskinder.
Gott anrufen „im Namen Jesu“ ist ein neues Phänomen nach Jesu Weggang, nach Ostern. “Im Namen” meint dabei ‘aufgrund seiner Offenbarung/seines Weges’, ‘unter Berufung auf ihn’. Dies ist weder ein bloßer sprachlicher Zusatz zu allfälligen Gebeten noch ein ‚Rechtsanspruch‘, sondern eher ein Ausdruck des Vertrauens, dass Gott, der in der Sendung Jesu seine Liebe zu uns erwiesen hat (V. 27), uns „alles schenken“ will (Röm 8,32; vgl. 8,38f). Die Verheißung ist formal uneingeschränkt („was auch immer“ = alles, was), das Vertrauen zu Gott soll grenzenlos sein – was gleichwohl nicht heißt, dass jedwede Bitte erfüllt wird (s. Paulus in 1 Kor 12). Doch soll das vertrauensvolle Gebet, in dem die Relation zu Gott dem Vater ihren Ausdruck findet, in jedem Fall zum Frieden (in und durch Christus) und zur ‘vollkommenen’ Freude führen. V. 25.29 thematisieren das Verhältnis von Verstehen und Glauben unter dem Gegensatz παροιμία / παρρησία, = ‚Gleichnis‘, ‚verhüllte Rede‘ / ‚offene Rede‘. Dabei ist nicht an verschiedene Gattungen (Gleichnisse, bildlose Verkündigung) gedacht – Jesus redet auch in V. 28 nicht ‚expliziter‘ als zuvor – sondern an den Modus des Redens bzw. die Situation: Vorösterlich herrschte Unverständnis bei den Jüngern (vgl. 2,22; 12,16), erst „jetzt“ (in, bzw. nach der Stunde Jesu) begreifen sie, im Rückblick auf Jesu ganzen Weg, in österlicher Perspektive, durch den Geist, der sie an die ganze Jesusgeschichte lehrend erinnert und sie ‚durchzuarbeiten‘ hilft.
5. Von der Exegese zur Predigt
Mit dem (Bitt-)Gebet steht unsere Theologie auf dem Prüfstand. Nach Joh ist Gott ein personal-relationales Gegenüber. Nur so kann Gott uns „lieben“, nur so „hören“ und „erhören“ und etwas „schenken“. Gewiss sind das alles Bilder, aber sie sind notwendig, wenn Gebet keine bloße Selbstbespiegelung sein soll. Wo man Gott nur philosophisch apersonal oder pan(en)theistisch versteht, wird das Gespräch bzw. Gebet überflüssig oder sinnlos, dann verliert das Bittgebet seine Grundlage. Die Vorstellung eines personal ansprechbaren, reagierenden Gegenübers ist m.E. hier unverzichtbar, sonst wird der christliche Glaube zur Unkenntlichkeit entleert und auch die Gebetsermutigung sinnlos. Wie kommen wir dahin, Gott – trotz allem – als einen uns (persönlich) Liebenden, uns „alles“ – sein ein und alles – Schenkenden zu sehen und ihm zu vertrauen? Im Joh ist es Jesus selbst, der uns einbezieht in ein ‚Netz‘ von Liebesverhältnissen, das hier ausgespannt wird: Gott liebt die Welt (3,16), den Sohn (3,35), die Jüngerinnen und Jünger (16,27), Jesus liebt die Seinen (13,1–3; 14,34f.; 15,17), die ihm Nachfolgenden lieben ihn (14,15.21; 16,27) und einander (14,34f). In diesem Netzwerk ist es dann auch möglich, Gott zu lieben und ihm zu vertrauen.
Die Lebenshaltung des Vertrauens auf göttliche Fürsorge erlaubt, Ängste fahren zu lassen, den Drang zur Absicherung aller Eventualitäten (materiell und geistlich) zu überwinden und dann auch die Erfahrung ‚geschenkter Existenz‘ zu machen, so entstehen Freude und Friede „in ihm“. Die ‘Verifikation’ ist nur im Wagnis des Lebens, im Aufgeben und Gott Anheimstellen der Sorgen, im mutigen Bitten zu finden – eine theoretische Verifikation ist nicht möglich. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Dem, was hier formuliert wird, soll im Leben nachgespürt werden. Es geschieht durchaus. Dafür gibt es Beispiele, und es ist gut, sich solche zu vergegenwärtigen. Allerdings: Nicht jede Bitte wird erhört bzw. erfüllt. Versteht man die Aussagen im Sinne einer schlichten Proposition, dann wird man sie als unzutreffende, falsche Versprechung abweisen. Selbst einem Paulus wurde nicht jede Bitte gewährt (2 Kor 12,8f.). Doch im Rahmen einer von Liebe geprägten Beziehung wird die Liebe weder auf die Probe gestellt noch mutwillig ausgenutzt. Darum ist die Verheißung der Erhörung kein ‚Mechanismus‘ – und gleichwohl gilt die Ermutigung, alles von Gott erwarten und Gott alles Gute zuzutrauen.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Eine:r der Unverständigen
Brauche ich tatsächlich eine Ermutigung zum Beten? Ich bete doch! Im Gottesdienst und manchmal zu Hause. Die Jünger können einem schon leidtun, da sie noch so viel verstehen müssen, fragen und nachfragen, bis sie es endlich verstehen konnten – nach Ostern und geleitet durch den Geist. Kaum nachvollziehbar, dass die Jünger nicht erkannt haben, was uns doch so vertraut ist: Natürlich dürfen wir in Freiheit beten, und zwar unmittelbar zu dem Gott, der uns liebt, was Jesus Christus uns eröffnet hat. Den unverständigen Jüngern habe ich voraus, dass ich schon lange weiß, an wen ich mich wenden kann, an wen ich mein Gebet richte, um alles zu erbitten. – Doch nun einmal ehrlich und mit kritischer Selbstprüfung: Oft weiß ich es nicht und bin dann nicht „besser dran“ als die Jünger.
Eine:r der Geliebten
Vielleicht geht mich deshalb heute, nach dem Durchdenken dieser Exegese, eine Aussage auch in besonderer Weise an und mir nah: Es ist Jesu Begründung „denn der Vater selbst liebt euch, denn ihr liebt mich und glaubt, dass ich vom Vater ausgegangen bin.“ Wenn ich christlich sozialisiert bin, bräuchte ich diese Begründung eigentlich nicht, so könnte ich meinen, und doch muss ich mir eingestehen, dass kirchlich-geprägte Selbstverständlichkeit nicht immer die gefühlte ist und mich mein Gebet häufig nicht Freiheit erfahren lässt oder zum Umschwung in Freude führt – oder gar zu innerem Frieden. Wenn ich diesem Gefühl weiter nachgehe, macht mir die Exegese sogar bewusst, wie unfrei ich manchmal bin, wie traurig es sein kann, wenn Freude sich nicht einstellt, und wie sehr es an Frieden mangelt, auch an innerem. Doch macht diese Einsicht es mir zugleich – und paradoxerweise – im nächsten Moment leichter, da ich weiß, dass Jesu Worte mich ja deshalb auch ermutigen wollen, wieder und weiter zu beten. Die Begründung zum freiheitlichen Gebet, das Freude und Friede in Aussicht stellt, das „Denn“, das auf die Liebe Gottes verweist, ist fortwährend in Erinnerung zu rufen und die Erfahrung von Freiheit, Freude und Frieden schließlich kein Dauerzustand.
Eine:r der Starken
Auch ein Zweites regt die Exegese an: Das wohl bekannte „seid getrost“ treffe das griechische Wort nicht, so dass der Exeget die Übersetzung „aber seid stark!“ vorschlägt. Mutig oder stark sein – das verschiebt etwas, verlangt nämlich auch mehr als „getrost“ zu sein. Anders als die Beruhigung durch das altbekannte Wort spüre ich, dass ich von dieser Übersetzung beunruhigt werde, denn nun sind plötzlich wir gefragt: Die geforderte und zugleich verheißene Stärke muss dazu eingesetzt werden, andere stark zu machen und zu ermutigen – nicht zuletzt dazu, dass auch sie beten.
2. Thematische Fokussierung
Dass mit dem Gebet unsere „Theologie auf dem Prüfstand“ steht, ist nur allzu wahr. Der Umgang mit dem Gebet lässt fragen, wer der Gott ist, dem das Gebet gilt.
Diese Frage berührt nicht nur das Gebet, sondern fragt nach dem Handeln und Wirken Gottes in der Welt bzw., ob Gott überhaupt in der Welt handelt und wirkt. Die Formulierungen unserer Gebete geben Aufschluss über das Gottesverständnis, sind der Prüfstein. Grundsätzlich wird in Gebeten wie Kollekten- oder Tagesgebeten Gottes Handeln bittend bedacht, und zwar in Blick auf sein Handeln jetzt, hier und heute im Gottesdienst oder auf sein früheres Handeln. Werden die Lesungen des Sonntags miteinbezogen, baut das Gebet auf die Vielfalt biblischer Rettungserfahrungen auf und Gott wird als „Retter“, „starker Helfer“ etc. adressiert. In der Analyse von den Gebeten in den Kirchen bzw. der Vorschläge für solche Gebete der letzten Jahre zeichnet sich eine bedeutsame Verschiebung im Verständnis des handelnden Akteurs ab: Gottes Handeln wird heutzutage des Öfteren zugunsten unseres Handelns verdrängt. Wenn es der eigenen Vorstellung nicht entspricht, dass Gott um Hilfe in einer Weise gebeten werden kann, dass es uns und ihn gleichermaßen an sein früheres Helfen erinnert, wird diese Form als liturgisches Element womöglich einfach „hingenommen“ – von Gemeindegliedern oder der Liturg:in selbst. Näher sind einem dann die Eingangsgebete, die demgegenüber in den Blick nehmen, wie die Gemeinde und jede:r Einzelne vor Gott steht, das wie-wir-hier-sind vor Gott, da es verantwortbarer erscheint, hiervon (zu Gott) zu sprechen. Und wenn es in den gemeinsamen Gebeten ums Handeln geht – auch da ist vielfach der Mensch gefragt, der in (sozial-)ethischer Hinsicht von Gott zum Tun ermutigt werden soll. Jesus jedoch spricht in der Perikope von der Ermutigung zum Bittgebet.
Ich selbst schreibe auch solche Gebete, die – man will ja realistisch bleiben – keine „falschen Hoffnungen“ machen. Gott ist zwar im Horizont meines Handelns verortet, doch thematisiere ich auch gerne in Gebeten unsere Grenzen im Stehen vor Gott und zugleich unsere Möglichkeiten in Blick auf die Gestaltung der Welt. Gottes Grenzenlosigkeit ist dann nicht im Blick, obwohl es doch damit beginnt.
S. dazu auch das Votum der UEK und andere Beiträge in: Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, hg. von M. Beintker u. A. Philipps (Evangelische Impulse, Bd. 9), Göttingen 2021.
Traugott Roser verknüpft das „Tagesgebet“ stärker mit der Einbettung der Lesungen und damit dem heilsgeschichtlichen Handeln Gottes, den Begriff „Kollektengebet“, der das Sammeln der Gemeinde impliziert, stärker mit dem Handeln Gottes, hier und heute, im Gottesdienst, vgl. T. Roser, „Vom Handeln Gottes“ reden in der Praxis des gemeinschaftlichen Gebets. Exemplarische Beobachtungen am Kollektengebet, in: Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, hg. von M. Beintker u. A. Philipps (Evangelische Impulse, Bd. 9), Göttingen 2021 (293-308), vgl. aaO, 296.
S. dazu den gesamten Beitrag Rosers, der die Veränderungen an Kollektengebeten verdeutlicht.
„Der Trend zur Selbstthematisierung und Selbstreflexion statt verdichteter Aussagen über Gottes Sein und Gottes Handeln prägt auch die Formulierungsvorschläge des Evangelischen Gottesdienstbuchs.“ Roser, Vom ‚Handeln Gottes‘ reden, 298. Er bezieht sich auf das Evangelische Gottesdienstbuch (1999).
Vgl. Roser, Vom ‚Handeln Gottes‘ reden, insb. 308.
Und Traugott Roser betont in Blick auf das Kollektengebet: „Vom Handeln Gottes ist im Kollektengebet nicht nur die Rede; das Handeln Gottes wird fundamentaltheologisch vorausgesetzt und sprachpragmatisch funktional eingesetzt, indem Gott durch den Hinweis auf sein früheres Handeln zu neuerlichem Handeln oder einem der Vergangenen entsprechenden Verhalten gebeten wird (vgl. das Gebet des Mose Ex 32, 11-13). Das Handeln Gottes wiederum löst entsprechendes und nachfolgendes Handeln des Menschen aus. Gottes Handeln ist damit nicht lediglich Gegenstand von Narration oder Gotteslehre, sondern hat, verbunden mit Appellation und Doxologie, aktivierende Funktion, sowohl für Gott als auch für den betenden Menschen.“ Roser, Vom ‚Handeln Gottes‘ reden, 295.
3. Theologische Aktualisierung
Viele Zeug:innen der Gebetserhörung
Diese Exegese ermutigt mich, die Zeugnisse von Hilfe, Rettung, Heilung – ja die des so vielfältigen Tätigseins Gottes, der unser Gebet erhört, ernst und dezidiert in die Predigt zu nehmen. Vor dem „Stark-Sein“, das Jesus verspricht – und das ganz gewiss in unser Tätigsein in die Welt ausstrahlen soll – steht doch die Freiheit zum Gebet an den, der auch helfen kann. Ermutigen kann daher die Predigt mit Joh, auf die Geschichten von vielfältigen Gebetserhörungen einmal bewusst zu hören, als ob sie einen Anhalt an der Wirklichkeit hätten – ob es die Psalmbeter*innen sind oder alle diejenigen, die im Glauben an Gottes liebendes Eingreifen ihre literarischen Zeugnisse verfasst haben. Schriftgelehrte und Evangelisten glauben gleichermaßen, dass Gott Menschen befreit hat und befreien kann. In welcher – buchstäblich – Wunder-baren Gestalt das Eingreifen literarisch umgesetzt ist, und mir manchmal zu wunderbar erscheint, muss doch nicht die Erfahrung von Rettung für mich in einer Weise schmälern, als ob es überhaupt gar keine gebe! Die Bedingungen haben sich doch schließlich nicht geändert. Vielen hat er geholfen. Der Jesus im Johannesevangelium nennt uns den Grund dafür: Die wechselseitige Liebe ist begründet in und beginnt bei Gott.
Persönliche Erfahrungen der Gebetserhörung
Auch wenn der, wie ich dann meine, „realistischere“ Blick eines wohlformulierten Gebets im Gottesdienst häufig eher die Grenzen Gottes aufzeigt, während meine Möglichkeiten stark gemacht werden – es gibt in der ganz persönlichen Gebetspraxis doch noch eine Vielfalt von Erfahrungen, die damit in Verbindung stehen, dass Gott geholfen hat bzw. dass überhaupt daran geglaubt wird, dass Gott hilft. Das Stoßgebet in der Not – aber auch das Dankgebet: Wenn ich Gott danke, dass meine Liebsten um mich versammelt sind und gute Speisen und Getränke vor mir, dann spüre ich zugleich, dass der Dank auch tatsächlich berechtigt ist und an ihn geht. Bevor ich die Augen zum Gebet schließe, sehe ich um mich herum das Gute und Beste, das Gott mir offenbar gegeben hat. Lasse ich mich im Gebet auf das Gebet ein, weiß ich, dass ich gerade jetzt in Freiheit und unmittelbar an Gott bete. Denke ich den Gründen nach, kann sich geradezu Freude einstellen. Trotz viel zu vieler Situationen, in denen ich flehentlich bitten muss, und trotz der realistischen Perspektive, dass das Dankgebet nie das einzige Gebetsanliegen ist, kann der Moment, in dem ich spüre, dass ich ein Leben lang beten kann, mir gar Frieden verschaffen.
S. dazu auch: Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), in: Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, hg. von M. Beintker u. A. Philipps (Evangelische Impulse, Bd. 9), Göttingen 2021 (17-77), 35.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Die Grundbedingung ändert sich nicht. „Denn der Vater selbst liebt euch“ ist das „Du kannst immer zu mir kommen“ eines guten Vaters oder einer guten Mutter. Nicht immer wird das in Anspruch genommen, zuweilen braucht es eine mehrmalige Aufforderung. Womöglich braucht es die Ermutigung von außen: „Er hat doch gesagt, dass Du immer zu ihm kommen kannst!“ „Sie sagt das doch nicht ohne Grund!“ Darum: Lasst uns beten! In diesem Gottesdienst mehr als sonst und in unterschiedlichen Formen. Eröffnen wir den Raum für Gebetsanliegen der Gemeinde – sammeln wir Gebetsanliegen. Variieren wir die Gottesnamen der Gebetseinführungen: „Gott, der doch alles kann“, „Unvermittelt einschreitender Gott“; variieren wir unsere typischen Einleitungen zum Unser Vater-Gebet: Wie ermutigt uns Jesus, „die Worte, die er uns gelehrt hat“, gemeinsam zu sprechen? How would Jesus pray (über seine uns bekannten Gebete hinaus)? Befragen wir unsere Gemeinde im oder vor dem Gottesdienst nach Wundern, die sie erlebt haben – sammeln wir heute Wunder. Von Situationen, die das Wunder vergeblich erhofft haben, haben wir mehr als genug. Heute brauchen wir die Ermutigung zum Beten durch Jesus, den Beter, der zugleich der Grund ist, dass wir beten können. In Freiheit. Mit der Aussicht auf Freude. Mit der Verheißung, dass es Frieden verschafft, da Gott Frieden schafft.
Literatur
- Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, hg. von M. Beintker u. A. Philipps (Evangelische Impulse, Bd. 9), Göttingen 2021.
- Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), in: Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, hg. von M. Beintker u. A. Philipps (Evangelische Impulse, Bd. 9), Göttingen 2021, 17-77.
- T. Roser, Vom „Handeln Gottes“ reden in der Praxis des gemeinschaftlichen Gebets. Exemplarische Beobachtungen am Kollektengebet, in: Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, hg. von M. Beintker u. A. Philipps (Evangelische Impulse, Bd. 9), Göttingen 2021, 293-308.
Autoren
- Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
- Sabine Joy Ihben-Bahl (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500117
EfP unterstützen
Exegese für die Predigt ist ein kostenloses Angebot der Deutschen Bibelgesellschaft. Um dieses und weitere digitale Angebote für Sie entwickeln zu können, freuen wir uns, wenn Sie unsere Arbeit unterstützen, indem Sie für die Bibelverbreitung im Internet spenden.
Entdecken Sie weitere Angebote zur Vertiefung
WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon Bibelkunde