Johannes 3,14-21 | Reminiszere | 16.03.2025
Einführung in das Johannesevangelium
Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.
Robert Kysar
Das Evangelium „nach Johannes"
Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium
Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.
1. Verfasser
Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5
Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.
Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20
Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.
2. Adressaten
Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh
Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.
3. Entstehungsort
Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie
5. Besonderheiten
Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.
Literatur:
- Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
- Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
- Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
- Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.
A) Exegese kompakt: Johannes 3,14-21
Am Anfang der Passionszeit steht mit diesem Text der „Generalschlüssel“ des Weges Jesu: Aus Liebe sandte Gott seinen Sohn, gab er sein Ein und Alles dahin. Dieser unergründlichen Liebe gilt es, trotz offener Fragen, zu trauen.
Übersetzung
14 Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben habe. 16 Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde gehe, sondern ewiges Leben habe. 17 Denn Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, um die Welt zu richten, sondern dass die Welt durch ihn gerettet würde.
18 Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet, Wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes. 19 Das aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, aber die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 20 Denn jeder, der Schlechtes tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht offenbar gemacht werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit seine Werke offenbar gemacht werden, dass sie in Gott getan sind.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 16 οὕτως … ὥστε: „so … dass“ (als Folge) – nicht „so sehr … dass“ – es geht um die Art und die Konsequenz der Liebe, nicht um ihre Quantität oder emotionale Intensität.
V. 16 μονογενής = einzig (in seiner Art), von γένος = Art, nicht von γεννάω = zeugen, gebären: Die Übersetzung „einziggeboren“ bzw. „eingeboren“ (lat: unigenitus) v.a. aufgrund von Joh 1,14.18 ist missverständlich und setzt dogmatische Entwicklungen des 2.-3. Jh.s, die Vorstellung der ‚monogenen Zeugung‘ des Logos aus dem Vater, voraus (so im Nicänum: „aus dem Vater gezeugt / geboren vor aller Zeit“) die für Joh noch nicht anzunehmen ist. Mit der Geburt Jesu, die im Joh nicht erzählt wird, hat μονογενής nichts zu tun.
V. 16 ἔδωκεν im Sinn von παρέδωκεν = dahingab (Röm 8,32), da Joh Kompositaverben meidet.
V. 17 κέκριται – das Pf. mit ἤδη ist auf die Gegenwart bezogen: jetzt schon (gültig) abgeurteilt.
V. 18 κρίσις kann auch „Scheidung“ bedeuten. Aber da in 18b die negative Seite ausgeführt ist, ist die Übersetzung „Gericht“ (im Sinne von Selbstgericht, Selbstausschluss vom Heil) vorzuziehen.
V. 18 πεπίστευκεν – das griechische Perfekt bietet hier einen intensiven Ausdruck des Verbinhalts in der Gegenwart – nicht einen Bezug einen vergangenen Akt, also nicht: „denn er hat nicht geglaubt…“ (so Zürcher und Einheits-Übersetzung), sondern „denn er glaubt nicht“ (richtig Luther 1545 und 2017).
V. 19 ἐλήλυθεν: Auch dieses Perfekt betont die Gegenwart: Das Licht ist gekommen und ist (gültig, bleibend) jetzt da. Es scheint jetzt in der Finsternis (vgl. Joh 1,5).
2. Literarische Gestaltung
Der Abschnitt entstammt der ersten Rede Jesu im Joh, die sich an das Nikodemusgespräch anschließt bzw. der dritte, längste Redebeitrag Jesu (V. 9-21) des Dialogs ist. Formal kann noch Nikodemus angeredet sein, doch legt die Verwendung von Pluralformen ab V. 11 nahe, dass hier nicht mehr er (allein) der Adressat der Worte Jesu ist, sondern eine „ihr“-Gruppe oder letztlich die Leserschaft. Im Bild des Theaters: Nikodemus mag noch auf der Bühne stehen, aber der Sprecher, Jesus, wendet sich nun den Hörer*innen zu und lehrt sie. Wo der Dialog in den Monolog übergeht, in V.11, 12 oder 14, ist nicht markiert. Da V. 13 eng an V. 12 anknüpft, ist der Einsatz mit V. 14 sachgemäß.
Die Rede besteht aus Einzelsprüchen (V. 14f.16.17.18.19-21), die locker aneinandergereiht sind und so den Gedankengang ergeben. Formal redet Jesus, aber nicht in „Ich“- oder „Wir“-Form, sondern in der 3. Person, von „dem Menschensohn“ (V. 14f) bzw. Gottes „Sohn“ (V. 16f.). Dies legt nahe, dass hier faktisch Formulierungen aus der joh Verkündigung im Munde Jesu präsentiert werden.
Die beiden ersten Sprüche (V. 14f und 16) bieten zwei Deutungen des Todes Jesu – die hier am Anfang des Weges Jesu proleptisch präsentiert werden, aber aus nachösterlicher Erkenntnis formuliert sind:
V. 14f ist der erste Schrift-Bezug im Joh, eine typologische Referenz auf die Aufrichtung der ehernen Schlange (Num 21,4-9) in der Wüste. Wie einst die Schlange als Heilszeichen für die gebissenen Israeliten an einem Stab sichtbar aufgerichtet wurde, so ist nun Jesus (an seinem Kreuz) „erhöht“; wie einst alle, die auf die Schlange schauten, am Leben blieben, so soll nun, wer an Jesus glaubt, ewiges Leben haben. Das Christusgeschehen überbietet das alte Rettungshandeln (nicht nur die Israeliten; „ewiges“ Leben), aber es ist ein visuelles Bild des am Kreuz ‚erhöhten‘ Menschensohns, das hier vor Augen gemalt ist.
V. 16 nimmt eine traditionelle Sendungsformel auf (vgl. V. 17 und 1 Joh 4,9; auch Gal 4,4; Röm 8,32), die nun aber nicht auf Jesu Sendung in die Welt, sondern auf die (Dahin-)Gabe des Sohnes, d. h. seinen Tod bezogen wird. Klar ist: Gott ist Subjekt des Heilsgeschehens. Das bei Joh (und 1 Joh) Neue gegenüber der Tradition ist: Dieses Heilsgeschehen gründet in Gottes uranfänglicher Liebe. Und: Diese Liebe gilt der Welt (d. h. allen Menschen), sie ist universal und nicht eingeschränkt. V. 17 hält fest, dass Jesu Sendung rein in positiver Intention erfolgte. Hintergrund ist wohl die Wahrnehmung, dass nicht alle glauben, dass es auch Unglauben und Verlorensein gibt, obwohl Gott die Rettung der Welt will.
V. 18 formuliert die Konsequenz des Heilsgeschehens in ‚dualistischer‘ Form. Der ‚doppelte Ausgang‘ zeigt sich nicht erst bei einem zukünftigen ‚Endgericht‘, sondern jetzt. Wer glaubt, hat das Leben definitiv und nicht erst auf Bewährung. Wer nicht glaubt, steht jetzt schon unter dem Todesurteil.
V. 19-21 erklären das Phänomen der negativen Reaktion auf das Heilsgeschehen als Selbstgericht, als Sich-Verschließen vor dem Licht: Die Sendung Jesu, der das Licht ist, erhellt die Welt, erst der Lichtkegel bringt Licht und Schatten. Die Menschen ziehen das (Halb-)Dunkel vor. Finstere Gestalten sind lichtscheu. Das wird formuliert als generelle Reaktion. Der Glaube ist die Ausnahme, das Wunder (vgl. Joh 1,10-13). Wer „die Wahrheit tut“, d. h. hier wohl, wer glaubt, kommt zum Licht, bleibt im Licht, und alles, was ein solcher Mensch tut, erweist sich als „in Gott getan“.
3. Literarischer Kontext und historische Einordnung
Da der nächtliche Dialog Jesu mit Nikodemus ohne Zeugen vorzustellen ist, dürfte die Komposition sich der Gestaltung durch den Evangelisten verdanken, der Stücke aus der Gemeindetradition aufgenommen hat (so sicher Joh 3,5; wohl auch die Sendungsformel hinter 3,16 (vgl. 1 Joh 4,9), evtl. auch andere Sätze wie 3,18 oder 3,20f.
Für V. 20f wurde oft angenommen, dass hier eine andere, ‚qumrannahe‘ oder eher an ‚Werken‘ orientierte Denkweise vorliege, ein Traditionsstück oder ein Zusatz. Das lässt sich aber kaum beweisen. Im Zusammenhang legt sich die Auslegung von V. 18 her nahe.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Sachlich ging es schon im vorausgehenden Nikodemusgespräch um die Frage nach der Möglichkeit der Teilhabe am Heil (am Reich Gottes: V. 3.5). War dort auf die Taufe verwiesen worden (3,5), auf die Unverfügbarkeit der Geburt von oben (V. 3), auf das Wunder der Wiedergeburt, so weist der Fortgang der Rede auf die letzte Bedingung der Möglichkeit des Heils hin: Sie liegt nicht im Menschen, sondern im Werk Christi, seinem Kreuz, und letztlich in Gott und seinem uranfänglichen Heilswillen.
Joh 3,16 ist eine „Summe des Evangeliums“. Häufig dominiert ein Verständnis (etwa im evangelikalen Rahmen, wo die Botschaft in den ‚vier geistlichen Gesetzen‘ elementarisiert wird), dass der Glaube eine Bedingung für das Heil sei, sich der Mensch also zum Glauben ‚entscheiden‘ müsse, um der Verlorenheit, der Hölle, zu entgehen. Problem: Wo der Glaube zu einer menschlich zu erfüllenden Bedingung gemacht wird, wird das Evangelium vergesetzlicht. Nach Joh ist aber glauben und hören können ein Geschenk, nicht etwas, zu dem man sich frei entschließen kann. Wie ein Toter sich nicht zum Leben erwecken kann, so kann ein Mensch im Unglauben sich nicht zum Glauben entschließen – es sei denn, Gott bzw. Christus „ziehe“ ihn (Joh 6,44; 12,32), oder Gott „gebe“ (Joh 6,39) es. Die Dimension menschlicher Entscheidung ist immer von der Dimension des göttlichen Gebens umgriffen.
Nach joh Verständnis (V. 18) sind im Glauben Heil und Leben nicht nur ‚auf Bewährung‘, sondern definitiv gegeben. Wer an Jesus glaubt, ist aus dem Tod zum Leben hinübergeschritten (5,24) und hat das Gericht schon hinter sich. Umgekehrt ist über den Unglauben das negative Urteil schon gefallen. Unglaube ist vom Leben fern, im Tod. Aber es wird nicht gesagt, dass ein Mensch nicht noch in Zukunft das Wort Jesu hören und glauben könnte. Es gibt keine ‚negative Prädestination‘. Eine solche Lehre (Calvin) geht über die Schrift hinaus und schränkt Gottes Möglichkeiten, zum Heil der Menschen zu handeln und Glauben zu schenken, ein.
Aus V. 20f., für sich genommen, könnte man entnehmen, dass ‚anständige‘ oder ethische Menschen dann auch zum Glauben und zum Heil kommen, die anderen nicht. Im Kontext legt sich von V. 18 her eine andere Deutung nahe: „Die Wahrheit tun“ entspricht dem Glauben; „Schlechtes tun“ dem Unglauben. Nach der Formulierung „in Gott getan“ (V. 21) sind auch die ‚guten Werke‘ nicht einfach eigene, sondern in der Relation zu Gott (und Christus) getan. Es bleibt dabei: Glaube und Heil sind Geschenk. Richtig ist aber, dass nach Joh der Glaube nicht ohne Konsequenzen bleibt, eine Opposition „Glaube vs. Werke wäre im joh Denken unpassend.
5. Von der Exegese zur Predigt
Am Anfang des Weges Jesu, der schließlich ans Kreuz führt, bietet Joh den Schlüssel zum Verständnis dieser Geschichte – durchaus passend zum Anfang der Passionszeit: Jesus ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegträgt (1,29), sein Leib ist der Tempel, in dem Gott den Menschen nahe kommt (2,19), und nun: sein Weg ans Kreuz ist Gottes Willen gemäß, Erfüllung der Schrift und Zeichen des Heils für alle Glaubenden (3,14f), ja, dieses Heil gründet letztlich in Gott, der sein Alles, sich selbst, in den Tod gegeben hat, um uns im Glauben das ewige, göttliche Leben zu schenken (3,16). Gott will unser Heil. Unbedingt. Ohne Wenn und Aber. Das ist Evangelium im evangelischen Verständnis. Unter diesem Vorzeichen ist die Passionsgeschichte zu lesen und die Passionszeit zu durchleben.
Offene Fragen bleiben: Warum „will“ Gott den Tod seines Sohnes? Oder besser: Warum „will“ Gott sein Teuerstes geben zum Wohl und Heil der Menschen? Aus untergründlicher Liebe. Wenn Jesu Weg ins Leiden und ans Kreuz unter diesem Generalschlüssel gedeutet wird, ist das unsäglich kühn.
Wenn Gott aller Menschen Heil will, warum zwingt er sie dann nicht zu ihrem Glück? Warum lässt er Ablehnung zu? Warum gibt es Unglauben? Weder der Hinweis auf böse Mächte noch das Pochen auf einem ‚freien Willen‘ bieten hier eine tragfähige Antwort, auch nicht der Hinweis auf eine doppelte Prädestination. Gottes Liebe bleibt unergründlich, und wer ihr traut und dem Evangelium glaubt, traut ihr alles Gute zu.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Ein Sonntag in der Passionszeit. Im Blick sind Leiden und Tod Christi, und sie prägen auch meine eigene geistliche Besinnung – wenn ich mich denn auf sie einlasse. Die Frage nach Schuld lastet auf meinen Schultern, drückt mich herunter, wie das „Holz auf Jesu Schulter“ ihn. Der Blick geht dann automatisch ein wenig nach unten. Ist das nicht die „angemessene“ Haltung in der Passionszeit?
Erste Irritation
Die erste Irritation, die der Predigttext auslöst, besteht darin, dass er mich – paradoxerweise – den Kopf aufrichten und hochschauen lässt: hoch zu der an einem Stock befestigten ehernen Schlange aus einer der „Murr“-Erzählungen des Alten Testaments.
Johannes rezipiert diese Erzählung, und wir haben ein Bild für das Rettungshandeln Gottes – und zunächst für seinen unbedingten Willen dazu! – vor Augen. Rettung stellt dann die Perspektive dar, die allein im Blick nach oben zugänglich ist, die mich zunächst zur Schlange und dann auch zum Kreuz hochschauen lässt. Um das Kreuz zu sehen, ist man ohnehin gewöhnt, den Kopf zu recken: Selten ist ein Kruzifix auf Augenhöhe angebracht…
Eine zweite Irritation
Heil ist die Leitperspektive des Textes, Rettung wird in Aussicht gestellt – und dann ist doch wieder vom Gericht die Rede und von Gerichteten und von dem, was zum Gericht führt. Da kann man sich fragen, ob der Autor nicht verhindern wollte, dass wir allzu zuversichtlich werden, die wir uns doch – mit hocherhobenem Kopf! – auf die Rettung eingestellt haben. Doch Gott will uns nicht den Blick und den Kopf niederdrücken: Die Exegese erfasst, dass der unbedingte Heilswille Gottes erkennbar da und zugleich unumstößlich wahr ist. Das soll man zu begreifen versuchen, weshalb sich auch der johanneische Jesus anstrengen muss, diesen Zusammenhang von Heil und Gericht zu verdeutlichen. Er versucht es auf unterschiedliche Weise: Zunächst legt er im Gespräch mit Nikodemus und dann den Zuhörenden aus, wie es denkbar werden kann: zum einen das Gericht, das richten muss, was der Wahrheit Gottes nicht entspricht, und zum anderen die Liebe Gottes, die zur selben Wahrheit gehört und den Menschen den Weg zum Heil erkennen und gehen lässt.
Nach dem Gespräch mit Nikodemus verlangt es nun nach klaren Aussagen in Form der in der Exegese bedachten Einzelsprüche. Der johanneische Jesus lässt von sich keine Beispielgeschichte und keine ausführliche Bildbeschreibung mehr hören und auch nichts, was zur Diskussion einladen könnte, als ob noch etwas zur Diskussion stehen würde – an diesem Punkt sind vielmehr klare, ja dogmatische Aussagen gefordert. So ist sein Tod zu deuten. So und nicht anders.
Eine dritte Irritation
So ist es. Die dritte Irritation ergibt sich aus der sprachlichen Untersuchung: Dass οὕτως mit „so“ und nicht „so sehr“ zu übersetzen ist, wird nicht nur viel liturgisches Training erfordern, denn das „sehr“ wird sich immer wieder einschleichen, ganz egal, was im Predigtskript steht. Doch auch diese Irritation ist erkenntnisfördernd, geradezu heilsam: Die exegetische Einschätzung der Wendung lässt mich ganz neu verstehen, wie klar Gott in seinem Heilsplan und dass seine Liebe „uranfänglich“ und damit undiskutabel ist. Hier wird eine Konsequenz dargelegt, die nie anders gedacht war, so dass ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen muss, wann denn das Maß in Gottes Liebe erreicht war, dass er seinen Sohn geben musste – vielmehr soll ich meinen Kopf nun wieder erheben, bis ich sehe, dass ich gerettet bin.
2. Thematische Fokussierung
Passion verstehen. Das heißt letztlich, verstehen, was es mit der Sendung des Gottessohnes auf sich hat. Wie sieht es aus mit unserer Rettung? In welchem „Status“ befindet sie sich? Es braucht das klärende Gespräch mit Nikodemus, es braucht Bilder, wie das einer erhöhten Schlange an einem Stab, die Mose vor meinem inneren Auge bastelt und aufstellt, und dann braucht es wieder diese definitiven, deutlichen und unumstößlichen Aussagen, die die Passion anhand der Sendung des Sohnes verstehen lassen wollen. Mit diesen eindeutigen Aussagen ist auch verbunden, dass das Gericht Realität ist. Wir müssen uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, was am Ende aller Tage geschehen wird. Gewiss darf ich mich damit beschäftigen und mich mit den theologischen Traditionen auseinandersetzen, die über die letzten Dinge Letztgültiges sagen wollten. Doch jede meiner Spekulationen über ein letztes Gericht kommt an ihre Grenzen, und darum geht es hier auch gar nicht: Es geht um heute und um mich. Das kann bedrohlich wirken, denn dann kommt das Gericht auf einmal erschreckend nah, aber ebenso nah kommt mir damit auch dieser Gott, der sein Gericht bereits durchgesetzt hat und seine nicht einzuschränkende Liebe offenbart. Das ewige Leben ist mir verheißen in meinem Glauben. Nun muss ich mich fragen, ob ich darauf vertrauen kann.
3. Theologische Aktualisierung
Dass Gott handelt, und nur Gott allein, das „Allein“, das in der reformatorischen Theologie und der evangelischen Theologie bis heute besonders betont wird und jedes menschliche Zutun am Heil als Selbsttäuschung entlarven will, entdecke ich aufgrund der exegetischen Zuspitzung auch hier. Der johanneische Jesus trifft grundlegende Aussagen, und das Ziel ist deutlich: Jesus argumentiert, wie seine Sendung zu verstehen ist.
Zu diesen eindeutigen Aussagen gehört nicht minder, dass dieser formulierten Wahrheit vertraut werden kann. Vertrauen, dass es auch wahr ist, ist nun eine existentielle Angelegenheit, und somit kommen die Einzelsätze oder die Aufarbeitung evangelischer Prämissen an ihre Grenzen. Gänzlich „unevangelisch“ wäre es daher, so würde die evangelische Tradition betonen, den Glauben an Christus einzufordern – er wird geschenkt und bleibt unverfügbar.
Vertrauensbildende Maßnahmen als Aufgabe der Predigt
Der Glaube ist unverfügbar, doch wie ist es beim Vertrauen? Auch wenn der Glaube kaum vom Vertrauen zu trennen ist, ermutigt die Exegese, in gewisser Weise für das Vertrauen zu werben, d. h. Perspektiven zu eröffnen, die sozusagen vertrauensbildende Maßnahmen schaffen. Der Glaubende will doch vertrauen, doch verschließt er sich dem immer wieder – und zwar ziemlich aktiv. Ob er wirklich darauf vertrauen kann, dass Gott uneingeschränkt das Gute für ihn will und er einfach hinnehmen soll, dass es wirklich ganz seiner Aktivität entzogen ist, Gott gegenüber etwas einzubringen, das ihn annehmbar macht, macht den Menschen nun einmal misstrauisch. Bevor er sein Vertrauen einzig und allein auf den einen Anderen und zwar den ganz Anderen setzt, wird er noch einmal schauen, was in seiner Macht steht – denn ansonsten müsste er ja hier zugeben, dass er keine Macht hat und sich ganz und gar einem Anderen überlassen muss. Der Mensch will ja vertrauen, ist zuweilen – und zwar im Guten wie im Schlechten – sogar sehr vertrauensselig: Er vertraut auf viel und manchmal auf die Falschen.
Ich wundere mich beispielsweise regelmäßig, warum viele Menschen den für mich so „finsteren Gestalten“ vertrauen, ob es die aus der Politik sind, die populistisch Misstrauen gegen die etablierte Politik schüren oder gegen hilfesuchende Menschen, oder, ob es diejenigen aus den Social Media sind, die Menschen mit obskuren Geschäftsmodellen das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Doch zeigen solche Beispiele nur, dass Menschen diesen Menschen so gerne vertrauen wollen, vielleicht, weil andere Menschen ihr Vertrauen enttäuscht haben oder sie es zumindest so empfinden. Die vielen „offenen Fragen“ stören sie nicht.
Wir sollten uns hier nicht ausnehmen, wenn wir selbst vertrauen wollen und daher manchmal lieber nicht zu genau nachfragen. Vielleicht wollen wir einige Dinge nicht bei Licht betrachten… Überall finden wir also die „offenen Fragen“ – warum fällt es dann so schwer, den Worten Jesu und damit darauf zu vertrauen, dass Gottes Liebe bedingungslos ist, mir gilt und meine Rettung in meinem Glauben sicher ist?
Eine Predigt, die sich aus diesem Text speist, sollte bestimmt nicht dazu ermutigen, einfach weniger nachzufragen und grundlos zu vertrauen, da wir es in anderen Lebenssituationen ja auch so machen – diese egalitäre Haltung würde dem Text und seinem Kontext ganz und gar nicht gerecht werden. Gerade in diesem Text wird ja einiges aufgefahren, um zu beschreiben, wem wir vertrauen und worum es bei Jesu Sendung geht.
Eine Predigt über diesen Text wird daher auch nicht auffordern, blind zu vertrauen, sondern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir den Versuch wagen können, dieser Liebe zu trauen. Gottes Liebe trauen zu können, schafft nicht nur eine Basis für das Vertrauen in Gott, sondern auch für das Vertrauen in uns, denen etwas zugetraut werden kann, wie auch eine Basis der Liebe zu uns selbst, die wir uns geliebt wissen. Wir können dann die „finsteren Gestalten“ getrost hinter uns lassen.
Mit dieser Basis werden wir auch nicht unsere Augen verschließen und uns einer illusorischen Hoffnung am Ende aller Tage hingeben, wir schauen vielmehr ins Licht – und zwar jetzt schon. Einem Ereignis gegenüber, das die bedingungslose Liebe Gottes offenbart, dessen Verhältnis zu uns ohne Wenn und Aber und „uranfänglich“ von Liebe bestimmt ist, einem Gott also, dem wir – mit dem Exegeten gesprochen – alles Gute zutrauen können, und zwar das Gute für uns, mag uns zuweilen und immer wieder suspekt vorkommen. Wir geben uns dann lieber dem hin, was einfacher zu haben ist, oder wir verlieren uns umgekehrt in wilde Spekulationen, die nichts mit unserem Hier und Jetzt zu tun haben. Das hat aber nichts mit Gott zu tun, sondern mit uns. Auch das erschließt mir diese Perikope durch die exegetische Aufarbeitung. Ich muss den Kopf nicht recken, um ihn in die Wolken der Spekulation zu erheben – hochschauen sollte ich jedoch, und zwar so weit, bis ich meine Rettung sehe.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Gott alles Gute zuzutrauen – ja, „[u]nter diesem Vorzeichen ist die Passionsgeschichte zu lesen und die Passionszeit zu durchleben“, da stimme ich dem Exegeten zu! Was heißt das für die Gestaltung eines Passionsgottesdienstes? Womöglich, dass wir Gott in diesem Gottesdienst für das Gute danken können. Meine Schuld, die ich mir in diesen Tagen bewusst machen kann, wird dadurch nicht relativiert. Gott für meine Rettung zu danken, soll einen düsteren Passionssonntag nicht „aufhellen“ – es soll vielmehr die Wahrheit, die das vierte Evangelium beschreibt, erfahrbar machen.
Ein Passionslied zu singen, das die Schmerzen Jesu betrachtet, kann sicherlich dahin führen, ein Bewusstsein für die Passion zu entwickeln. Ein Lied zu singen, das Gottes Liebe und sein Rettungshandeln beschreibt und wofür von Herzen gedankt werden kann, ein Lied, das u. a. auch die Rettung des Gottesvolkes zum Thema hat – alttestamentliche Erzähllieder oder auch die vertonten Dankespsalmen, die die jüdische Tradition miteinbeziehen – wird den Gottesdiensteilnehmer aber auch diese Dimension der Sendung Jesu verstehen und die Passion durchleben lassen können. Beides – Passion und Rettung – gehören ja zusammen.
Wenn ich weiß, wann ich den Kopf senken muss, um meine Schuld an mir zu erkennen, wenn ich weiß, wann ich den Kopf nutzen muss, um zu verstehen, was erkennbar ist, und wenn ich weiß, wann ich den Kopf heben muss, um die Rettung vor Augen zu haben – dann werde ich die Passionszeit durchleben können.
Autoren
- Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
- Dr. Sabine Joy Ihben-Bahl (Praktisch-theologische Resonanzen)
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