Deutsche Bibelgesellschaft

Johannes 20,11-18 | Ostersonntag | 20.04.2025

Einführung in das Johannesevangelium

Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.

Robert Kysar

Das Evangelium „nach Johannes" ist das tiefgründigste und theologisch wie kulturgeschichtlich wirkungsvollste der kanonischen Evangelien. Es unterscheidet sich in Stoff, narrativer Gestalt, Sprache und Theologie signifikant von den Synoptikern. Die Erklärung dieser Besonderheiten sowie die Frage nach seinen Quellen und seinem historischen und theologischen Wert gehören zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen der Forschung.

Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium. Es ist programmatisch aus nachösterlicher Perspektive gestaltet, aus der durch den Geist gewirkten „Erinnerung“ (Joh 2,22; 12,16), und es trägt diese Perspektive bewusst in die Erzählung der Geschichte Jesu und seines Todes (19,30), so dass alle Einzel-Episoden schon im Licht des Ganzen des Christusgeschehens, im ‚österlichen Glanz‘, zu lesen sind.

Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.

1. Verfasser

Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5) in diesem den Zebedaiden Johannes sah. So ‚wurde‘ der LJ zum Augenzeugen der ganzen Erzählung und das Evangelium bekam ‚apostolische‘ Würden. Nach der Johanneslegende (bei Irenäus u.a.) soll dieser Johannes als Greis sein Werk in Ephesus in Kleinasien geschrieben haben, nach Clemens v. Alex. ist es als „geistliches“ Evangelium in Ergänzung und Vertiefung zu den drei eher „leiblichen“ Erzählungen der Synoptiker abgefasst.

Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.

Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20 ist dieser zwar an wenigen Stellen ab dem letzten Mahl (13,23; 19,25-27; 20,1-10) Petrus an die Seite gestellt, doch eher als ‚ideale Figur‘, die Jesus näher ist und ihn besser versteht. Der eigentliche „Autor“ ist in Joh 1-20 der „erinnernde“ Geist (Joh 14,25f). Wenn hinter dem LJ auch eine ‚reale‘ Figur im Umkreis der joh Gemeinden stand (wie 21,22f nahelegt), ist fraglich, ob dieser mit einer bekannten Gestalt zu identifizieren ist. Das Joh wäre in dann Fall posthum von Schülern (21,24f) herausgegeben. Wenn der Autor des Joh mit dem von 1-3Joh identisch ist, wäre der autoritativ schreibende „Presbyteros“ aus 2Joh 1; 3Joh 1 am ehesten mit dem bei Papias von Hierapolis (Eus., h.e. 3,39,4) als Traditionsträger in der Asia erwähnten „Presbyteros Johannes“ zu identifizieren. Die spätere Zuschreibung an den Zebedaiden wäre dann in einer Verwechslung oder eher intentionalen Überblendung der Namen erfolgt.

Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.

2. Adressaten

Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh greifbar sind. Diese Gemeinden (oder die ‚Joh. Schule‘) in Kleinasien sind erst im letzten Drittel des 1. Jh. greifbar, sie hatten eigene Traditionen, aber nahmen auch synoptische und paulinische Motive auf. Ein Teil der joh Christusgläubigen entstammte wohl der Diasporasynagoge, und die traumatischen Spuren einer erfolgten Trennung (aposynagogos: Joh 9,22; 12,42; 16,2) sind wahrnehmbar, hingegen waren andere wohl Nichtjuden („Griechen": Joh 7,35; 12,20). Der Kontext steht also ein Verband ‚gemischter‘ Gemeinden, wohl im urbanen Raum, in dem neben diesen joh Christusgläubigen auch anders geprägte Gruppen koexistierten (z.B. Apk, Eph, Pastoralbriefe).

Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.

3. Entstehungsort

Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus angesetzt. Dies ist im Joh und den drei Briefen nicht positiv zu belegen, und sachlich wäre jeder urbane Kontext im östlichen Mittelmeerraum denkbar, doch weist das frühe Zeugnis des Papias von Hierapolis, Polykarp u.a. auf den Raum Kleinasiens, ebenso die frühe Verbindung mit der dort situierten Apokalypse. Andere Vorschläge (Alexandrien wegen der Rede vom Logos; Syrien wegen vermeintlicher Nähe zu gnostischen Traditionen; Ostjordanland wegen der Bedeutung der ‚Juden‘) sind ebensowenig zu belegen. Kleinasien bleibt die wahrscheinlichste Option.

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie: Das ‚ewige Leben‘ ist schon jetzt im Glauben gegeben (5,24), das Gericht ergeht jetzt in der Begegnung mit Jesus (3,18). Zentrale Bedeutung hat der Geist, der als ‚Beistand‘ (Paraklet) der nachösterlichen Gemeinde diese begleitet, erinnert und zum Zeugnis befähigt. Joh entwickelt eine Art, von Vater, Sohn und Geist in personaler Unterscheidung zu reden, die bereits in die Richtung der späteren Trinitätslehre führt. Das alles wird in Bezug auf die Schriften Israels entfaltet, die nach Joh sämtlich von Jesus zeugen. Daher beansprucht der joh Jesus Exklusivität als Offenbarer (1,18; 14,6), während alle anderen Wege, auch der der nicht an Jesus glaubenden Schüler Moses (9,28) nicht „zum Vater“ führen. Die schroffe antijüdische Polemik ist z.T. Ertrag der schmerzhaften Trennungs- und Identitätsbildungsprozesse. Für die Gemeinde ergibt sich daraus eine innere Trennung von der ‚Welt‘, der mit einer (Familien-)Ethik der (nicht nur, aber vorrangig) auf die eigene Gruppe gerichteten Liebe begegnet wird.

5. Besonderheiten

Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.

Literatur:

  • Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
  • Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
  • Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
  • Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.

A) Exegese kompakt: Johannes 20,11-18

Wie Osterglaube entstehen kann

Die erste Begegnung mit dem Auferstandenen hat nach Johannes eine Frau, Maria von Magdala. Die subtile Erzählung weist den Weg zum Osterglauben, aus dem Weinen am Grab zum Blickwechsel, zur Erkenntnis und zum Bekenntnis: „Ich habe den Herrn gesehen.“

11Μαρία δὲ εἱστήκει πρὸς τῷ μνημείῳ ἔξω κλαίουσα. ὡς οὖν ἔκλαιεν, παρέκυψεν εἰς τὸ μνημεῖον 12καὶ θεωρεῖ δύο ἀγγέλους ἐν λευκοῖς καθεζομένους, ἕνα πρὸς τῇ κεφαλῇ καὶ ἕνα πρὸς τοῖς ποσίν, ὅπου ἔκειτο τὸ σῶμα τοῦ Ἰησοῦ. 13καὶ λέγουσιν αὐτῇ ἐκεῖνοι· γύναι, τί κλαίεις; λέγει αὐτοῖς ὅτι ἦραν τὸν κύριόν μου, καὶ οὐκ οἶδα ποῦ ἔθηκαν αὐτόν. 14Ταῦτα εἰποῦσα ἐστράφη εἰς τὰ ὀπίσω καὶ θεωρεῖ τὸν Ἰησοῦν ἑστῶτα καὶ οὐκ ᾔδει ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν. 15λέγει αὐτῇ Ἰησοῦς· γύναι, τί κλαίεις; τίνα ζητεῖς; ἐκείνη δοκοῦσα ὅτι ὁ κηπουρός ἐστιν λέγει αὐτῷ· κύριε, εἰ σὺ ἐβάστασας αὐτόν, εἰπέ μοι ποῦ ἔθηκας αὐτόν, κἀγὼ αὐτὸν ἀρῶ. 16λέγει αὐτῇ Ἰησοῦς· Μαριάμ. στραφεῖσα ἐκείνη λέγει αὐτῷ Ἑβραϊστί· ραββουνι, ὃ λέγεται διδάσκαλε. 17λέγει αὐτῇ Ἰησοῦς· μή μου ἅπτου, οὔπω γὰρ ἀναβέβηκα πρὸς τὸν πατέρα· πορεύου δὲ πρὸς τοὺς ἀδελφούς μου καὶ εἰπὲ αὐτοῖς· ἀναβαίνω πρὸς τὸν πατέρα μου καὶ πατέρα ὑμῶν καὶ θεόν μου καὶ θεὸν ὑμῶν. 18Ἔρχεται Μαριὰμ ἡ Μαγδαληνὴ ἀγγέλλουσα τοῖς μαθηταῖς ὅτι ἑώρακα τὸν κύριον, καὶ ταῦτα εἶπεν αὐτῇ.

Johannes 20:11-18NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

11 Maria aber stand weinend draußen vor dem Grab. 12 Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern dasitzen, einer beim Kopf und einer bei den Füßen, wo der Leib Jesu gelegen hatte, 13 und sie sagen zu ihr: „Frau, warum weinst du?“ Sie sagt zu ihnen: „Sie haben meinen Herrn weggenommen. und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ 14 Nachdem sie das gesagt hatte, wandte sie sich nach hinten und sieht Jesus dastehen, aber sie wusste nicht, dass es Jesus ist. 15 Jesus sagt zu ihr: „Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie dachte, dass es der Gärtner ist, und sagt zu ihm: „Herr, wenn Du ihn weggetragen hast, sag mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich werde ihn holen.“ 16 Jesus sagt zu ihr: „Mariam!“ Da wendet sie sich um und sagt zu ihm auf Hebräisch „Rabbuni!“, das heißt „Meister!“ 17 Jesus sagt zu ihr: „Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht hinaufgestiegen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen: ‚Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater, meinem Gott und eurem Gott.“ 18 Da geht Maria Magdalena und verkündigt den Jüngern: „Ich habe den Herrn gesehen, und dies hat er mir gesagt.“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

12        ἐν λευκοῖς: „in weißen“ – Kleider sind nicht genannt, aber zu konjizieren.

13        λέγουσιν: Das Präsens („historisches Präsens“) steht hier und im Folgenden v.a. bei Verben des Redens. Es dient der Lebendigkeit der Erzählung, v.a. der Einführung direkter Rede.

16        Μαριάμ: Die dem aramäischen nähere Form mit μ am Ende findet sich im Joh stets für Maria, die Schwester der Martha, in Joh 11 und in den Synoptikern auch für die Mutter Jesu. Hingegen wird Maria Magdalena zunächst mit der Namensform Μαρία eingeführt (Joh 19,25; 20,1.11; auch in den Synoptikern, mit zwei Ausnahmen bei Mt); nur in 20,16.18 findet sich Μαριάμ.

16        ραββουνι ist kein Kosewort, aber eine Intensivform von ῥαββί, feierlicher und inhaltsvoller.

17        μή μου ἅπτου: hier nicht „rühre mich nicht an“, sondern „halte mich nicht fest“.

2. Literarische Gestaltung

Die Szene erzählt die Ersterscheinung (Protophanie) des Auferstandenen vor Maria Magdalena. Sie ist bei Joh die einzige Frau, die zum Grab Jesu geht, obwohl die Tradition hinter V.2 von mehreren weiß (Mk 16,1-8): Johannes fokussiert auf Begegnungen Jesu mit Einzelpersonen.

Intertextuell spielt die Szene im Garten (vgl. Joh 18,1-11) auf das Paradies an: Wie Gott einst Adam im Garten begegnete und ihn ansprach (Gen 3,9), so begegnet der Auferstandene Maria und spricht sie an. Dies koinzidiert mit anderen Details, die Jesu ganzes Wirken und v.a. Ostern als Neuschöpfung charakterisieren (Joh 19,30//Gen 2,2; Joh 20,22//Gen 2,7). Subtil ist ein weiterer Schriftbezug wahrzunehmen: Hhld 3,1-4 beschreibt die Suche einer Frau nach dem Geliebten (vor Sonnenaufgang, draußen, ihn fassen und festhalten). Das könnte hier ebenfalls anklingen.

Maria Magdalena weint (4x κλαίειν in V. 11-15). Ihre Trauer ist Indiz ihrer Liebe zu Jesus und der Bindung an den Irdischen. Sie will den Leichnam holen, Jesus haptisch ‚festhalten‘ (V. 17).

Im Grab erblickt Maria nicht das ‚Zeichen‘ der Leichentücher (20,6-8), sondern zwei Engel, die Jesu Platz markieren. Auch sie sind Zeichen, Platzhalter. Sie fragen dasselbe, was später Jesus fragt. Doch verkündigen sie (anders als in Mk 16,5) nichts. Sie bereiten nur auf die Begegnung mit Jesus vor. Ihre Rolle ist zu Ende, als Maria sich umdreht und Jesus/den Gärtner sieht.

Entscheidend ist der Blickwechsel, das Sich-Umwenden, das die Szene als Wiedererkennung (Anagnorisis) kennzeichnet. Maria muss sich vom Grab abwenden, um Neues zu sehen. Sie sieht eine Gestalt; die Leserschaft erfährt: Es ist Jesus. Doch bleibt Maria ihrem Denken verhaftet, erkennt Jesus nicht sofort, sieht in ihm den Gärtner und vermutet eine Umbettung des Leichnams. Doch birgt das komische Missverständnis eine tiefe Wahrheit: Jesus ist der „Herr“ des Gartens, er hat in seiner Auferstehung den Leichnam ‚weggeschafft‘. Auch in ihrem Missverstehen spricht Maria schon eine tiefe Wahrheit aus.

Der Fremde ruft sie bei ihrem Namen (vgl. Joh 10,3f.27). Nun erkennt sie ihn – als den, den sie kennt und liebt. Dass hier ihr Name erstmals in dem aramäischen Klang Μαριάμ erklingt, ist wohl beabsichtigt. Heißt das, sie wird in dem ihr vertrauten Idiom angeredet – und erkennt so den Vertrauten? Die Erkenntnis entsteht am sinnlich (akustisch) Wahrnehmbaren. Auch Maria antwortet mit einer intensiv vertrauensvollen Anrede: ραββουνι „mein Meister/Vorbild“.

Glaube entsteht nicht durch eine Information, nicht durch die Engelbotschaft, sondern durch persönliche Begegnung, durch die Anrede beim Namen, das Wiedererkennen des Vertrauten. Es ist die Erkenntnis, dass der ihr Begegnende der ist, den sie kennt: „mein Meister“. Ohne diese Begegnung wäre die Osterbotschaft (das leere Grab wie die Erscheinung) beängstigend.

Marias Ansinnen, Jesus zu fassen, ja ihn festzuhalten, wird zurückgewiesen. Das Ziel ist nicht die Wiedervereinigung der Liebenden, nicht die Konservierung der vormaligen Beziehung. Jesus hat anderes zu tun: Er geht zum Vater. Auch sie hat besseres zu tun: zu verkündigen. Maria ist im Joh zwar nicht die erste Glaubende (das ist der ideale ‚Lieblingsjünger 20,7), aber die erste Zeugin des Auferstandenen, und sie verkündigt ihre Erkenntnis den Jüngern – sie ist apostola apostolorum – doch diese glauben ihr nicht, sondern schließen sich aus Angst ein (V.19). Auch sie (und dann Thomas) werden erst nach eigener Begegnung mit Jesus und im Sehen seiner Wundmale glauben.

3. Literarischer Kontext und historische Einordnung

Die Szene ist die zweite von vier Szenen der joh Ostererzählung (Joh 20,3-10; 11-18; 19-24; 25-29). Sie knüpft an die knappe Notiz vom Besuch Marias am Grab (20,1f.) an. Der ‚Wettlauf‘ der zwei Jünger ist ‚eingeschoben‘. Doch zielt die Gestaltung nicht auf eine klare Abfolge der Ereignisse. Dazu müsste man konjizieren, dass Maria wieder zum Grab zurück gegangen sei. Es gelingt nicht, eine ‚vorjohanneische‘ Quelle ohne V. 3-10 zu rekonstruieren. Der Evangelist nimmt mit der Engelerscheinung wie mit der Erscheinung des Auferstandenen vor ausgewählten Personen Themen aus der Tradition auf und gestaltet sie um. Er fokussiert auf die Einzelperson der Maria, kürzt die Engelerscheinung und ergänzt die Christophanie.

Innertextlich weist die Passage auf die Jüngerberufung zurück, wo Jesus die zwei ihm folgenden Täuferjünger fragt (Joh 1,37): „Wen sucht ihr?“ Jesu Fragen nach Menschen prägen das Joh.

Maria Magdalena ist im Joh die einzige Person, die unter dem Kreuz und am Ostertag (19,25; 20,1f.11-18) präsent ist. Sie ist Hauptzeugin, Empfängerin der ersten Erscheinung Jesu(wie nach 1 Kor 15,5 Petrus, nach dem ->Hebräerevangelium [Hier, vir. ill. 2,12f.] Jakobus. Sie ist schon bei Mk (im Ggs. zu den Zwölfen) unter dem Kreuz präsent und am Ostertag Zeugin des leeren Grabes. Mehr noch als Petrus ist sie Erstzeugin des Passions- und Ostergeschehens. Auch wenn das Joh eine literarisch gestaltete, historisch nicht mehr zu verifizierende Erzählung bietet, ist Marias Zeugenschaft historisch schwerlich zu bezweifeln. In Mt 28,9 erkennen die Frauen Jesus sofort. Bei Joh ist die Erkenntnis der Identität Jesu (wie bei den Emmausjüngern Lk 24,31) an seine Selbsterschließung gebunden. Bei Mt fassen die Frauen Jesu Füße – nach Joh darf Maria Jesus gerade nicht festhalten.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Maria kommt zum Glauben durch persönliche Begegnung mit Jesus. Die Episode korrespondiert den Jüngerberufungen (1,37-51) oder auch der Samaria-Episode (4,39-42), wo Menschen durch Zeugnis eines Anderen und durch persönliche Begegnung mit Jesus glauben. Glaube ist nach Joh ‚relational‘, eine Beziehung – nicht Zustimmung zu einer ‚Wahrheit‘ oder ‚Lehre‘.

Der Osterglaube ist nicht: „Der tot war, er lebt.“ Es ist: „Der mir begegnet, ist kein Fremder und kein Gespenst - es ist der, den ich kenne, dem ich vertraue, der mich liebt.“ Das Phänomen des leeren Grabes oder der Erscheinung wäre beängstigend. Die Information, dass der Tote lebt, ist zu banal und erfasst noch nicht, dass Jesus „das Leben“ in sich hat (5,26), ja „ist“ (11,25).

Zugleich zeigt die Erzählung das Anderssein des Auferstandenen. Er erschließt sich souverän, ist nicht einfach visuell erkennbar oder haptisch greifbar. Anders als Maria in V. 16 noch meint, ist er nicht einfach der irdische Jesus redivivus.

Der Osterglaube gründet in der Begegnung mit Jesus, in der Anrede. Er erkennt in ihm den „Herrn“ (20,18) und „Gott“ (20,28). Solchen Glauben kann ein Mensch nicht von sich aus finden, auch nicht durch Wahrnehmung äußerlicher ‚Fakten‘. Er entsteht durch Jesu Wort.

V. 17 wurde oft als „Rühre mich nicht an!“ übersetzt und auf die Frage nach einer besonderen Leiblichkeit des Auferstandenen ‚im Übergang‘ bezogen. Das ist wohl falsch. Ein ‚Zwischenzustand‘ zwischen Grab und Himmel ist hier nicht im Blick. Der Gedanke, dass Jesus erst ganz ‚aufsteigen‘ bzw. ‚erhöht werden‘ müsse, um (dann durch Thomas) berührt werden zu können, ist unsinnig. Im Kontrast zu Mt 28,9, wo die Frauen Jesu Füße umfassen, soll Maria ihn hier nicht festhalten. Was die Jünger in den Abschiedsreden lernen mussten, ist für sie hier zu begreifen: Jesus ist auf dem Weg zum Vater, zu Gott. Und das ist letztlich „gut“ für sie und die anderen JüngerInnen (16,7).

Maria hat zu lernen: Die Zeit, in der Jesus irdisch-leiblich gegenwärtig war, ist definitiv vorbei. Sie lässt sich nicht zurückhalten, und es wäre töricht, sich dahin zurückzusehnen. Sie muss die nachösterliche Situation akzeptieren, in der Jesus nicht mehr leiblich anwesend ist. Glaube nach Johannes ist genau das (Joh 14,1): Glaube an Jesus und darin Glaube an Gott tritt an die Stelle der ehemals leiblich-konkreten Nachfolge (vgl. 13,36-38).

Irritierend ist, dass Jesus – der nach Joh „Gott“ ist (V. 28) – in V. 17 von „meinem Gott“ redet. Wichtiger ist aber, dass das Gottesverhältnis Jesu und das der JüngerInnen hier programmatisch unterschieden ist. Gott ist in anderer Weise Vater für Jesus als für die Jünger*innen. Andererseits wird hier an Ostern erstmals gesagt, dass Gott ihr Vater ist. Dieses Vater-Kind-Verhältnis war nach Joh zu Zeiten des Wirkens Jesu noch nicht gegeben. Ein „Vaterunser“ könnten die Jünger hier nicht beten. Erst ab Ostern, aufgrund der ‚Erhöhung‘ Jesu ist dieses Verhältnis in Kraft.

Die Ersterscheinung vor Maria ist aufgenommen im sekundären Schluss des Mk (Mk 16,9-11). Andere Texte des 2./3. Jh.s wie das -> Evangelium der Maria sehen in ihr eine Figur, der sich Jesus besonders offenbart hat. Darin spiegeln sich spätere Konflikte um Leitungsfunktionen von Frauen. Für die ‚historische‘ Maria ergibt sich daraus allerdings wenig. Alle weiteren Spekulationen um Maria Magdalena (Dan Brown: als ‚Frau Jesu‘) sind historisch und sachlich Unfug und leben allein von der Opposition zur Frauenfeindlichkeit der römischen Kirche.

5. Von der Exegese zur Predigt

Der Text zeichnet erzählerisch subtil die Geschichte der Erkenntnis des Auferstandenen nach. Er hilft zu verstehen, wie es zum Osterglauben kommen kann und dass dieser nicht einfach ‚auf der Hand‘ liegt, sondern sich nur in persönlicher Begegnung erschließt. Theologisch sind zahlreiche Themen verknüpft: Ostern als Umschlag von Weinen zu freudigem Zeugnis; dass die Erkenntnis des Auferstandenen sich nur indirekt, durch Zeichen und Begegnung erschließt; dass Glaubende seit Ostern und aufgrund von Ostern in das einzigartige Sohnesverhältnis Jesu einbezogen sind und zu Gott „Vater“ sagen können.

Maria Magdalena als Person ist Rollenmodell des Glaubens, auch in der Weise, wie sie indirekt zum Glauben kommt. Wo Menschen heute (und aufgrund der theologischen Tradition) Mühe haben, der propositionalen Aussage des Bekenntnisses „am dritten Tage auferstanden von den Toten“ zuzustimmen, kann die Predigt die narrative Struktur der Perikope nutzen, um zu zeigen, dass es nicht um die Zustimmung zu einer Aussage geht, sondern um eine Begegnung, einen Blickwechsel, der neue Horizonte öffnet, eine Zusage, die die Angst in Vertrauen verwandelt. Das Bekenntnis am Ende ist die Konsequenz dieser Selbst-Erschließung Jesu.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Darf ich mir nun doch ein Bildnis machen? Die Exegese regt mich an, mir Bilder zu machen – Bilder von Maria und vom Auferstandenen – ja, von Gott selbst! Ich wundere mich, dass diese Worte aus meinem Mund kommen. Das Bilderverbot habe ich – aus reformierter Tradition herkommend – doch immer mit viel Verve verteidigt, meine Rechtfertigungen stets abgeschlossen mit: „… und deswegen haben wir nun mal keine Kruzifixe in unseren Kirchen!“

Nun lässt mich der Exeget (und kommt der nicht aus der reformiert-geprägten Schweiz?) Bilder vor meinem geistigen Auge malen.

Dazu nötigt mich aber Johannes mit seiner Erzählung vom Sehen des Auferstandenen.

Bilder leuchten auf, wenn ich mit Maria das Grab betrete, mich suchend umschaue, da ich ihn sehen will, dabei jeden Winkel mit den Augen genau inspiziere – obwohl ich doch schon eigentlich weiß: Hier ist er nicht zu erblicken. Kontraintuitiv – auch das löst die Exegese bei mir aus – muss ich mir bei der Grabanlage nun einen paradiesischen Garten vorstellen, in dem ich Leben und Lebendiges statt Tod erblicke. Zuvor sehe ich übrigens zwei Engel. Auch in Blick auf sie legt mir Johannes eine Idee davon nahe, wie ich sie mir vorstellen könnte. Die Szene erscheint mir in einer Weise real, dass selbst eine Virtual-Reality-Brille keine besseren Bilder produziert hätte.

Ich laufe mit, schaue suchend umher und drehe mich um, als ich angesprochen, mit meinem Namen angesprochen werde.

Die Erzählung bei Johannes spricht damit nicht nur mein geistiges Sehen, sondern auch mein geistiges Hören an. Daher will ich auch nach dem Gärtner, der dann doch keiner ist – bzw. es im metaphorischen Sinne doch ist (s. oben) – greifen. Nicht „berühren“, sondern nach ihm greifen und ihn „festhalten“. Das wird uns beiden – Maria und mir – aber verwehrt. Meine Sinne werden angesprochen und zugleich ihre Grenzen aufgezeigt. Festhalten kann ich in dieser virtuellen Welt, die mir die ausgemalte Erzählung präsentiert, nichts.

2. Thematische Fokussierung

Man könnte den Dreischritt von Sehen, Erkenntnis und Bekenntnis in den Fokus rücken, um zu verstehen, wie sich an Ostern etwas sehen lässt. Glaube ist gewiss unverfügbar, doch kann man dem Prozess, der vom Sehen zum Glauben führt, nachgehen, so beschreibt es jedenfalls der Exeget. Der Osterglaube „entsteht“ (s. die Überschrift), und er entsteht durch die persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen. Auch aus anderen Exegesen wissen wir um die Bedeutung des Erkennens im Johannesevangelium. Erkenntnis entsteht durch den Blick auf Jesus, der als Auferstandener gesehen wird, so dass er als derselbe bekannt werden kann in der Gemeinschaft der Sehenden und deshalb Glaubenden.

Der Fokus liegt auf dem Sehen, das zugleich hinterfragt wird: Das visuelle Sehen ist nicht mit dem Erkennen gleichzusetzen. Wie alle Sinne verhilft der Sehsinn dazu, sich in der Welt zu bewegen und diese begreifen zu können, doch wie alle Sinne ist er anfällig für Täuschungen. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass es Menschen gibt, die physisch nicht sehen können. Sehen lässt Bilder entstehen, die aber letztlich auch Bilder bleiben.

Auch die Bilder, die der Erinnerung entstammen, sind zu überprüfen: Marias Erinnerung, ihre lebendige Erinnerung an Jesus ist ja richtig. Deshalb vermisst sie den ῥαββουνί auch so sehr. Sie weiß noch, wie er aussieht – und doch kann sie Christus erst erkennen, als er sie anspricht. Bei den Bildern ihrer Erinnerung stehen zu bleiben, hilft ihr nicht, ihn zu erkennen. Der Auferstandene ist verändert – und nicht nur ein wenig. Darin liegt letztlich auch die bleibende Wahrheit des dekalogischen Bilderverbots, womit dieses paradoxerweise Einschränkung und Befreiung zugleich ist: Maria muss sich von den Bildern der Erinnerung lösen, um sehen zu können. Um in die Realität, die eine ganz neue ist, mit veränderter Perspektive zurückzukehren, muss sie die virtuelle Realität verlassen. Nur auf diese Weise ist sie fähig, zu handeln. Der Dreischritt ist daher auch nicht der Dreischritt von Sehen, Erkenntnis und Bekenntnis, sondern der von Blickwechsel, Erkenntnis und Bekenntnis, wie der Exeget gesehen hat. Maria konnte den Blickwechsel vollziehen, daher spricht sie in der Wahrheit, wenn sie den Jüngern sagt, dass sie „den Herrn gesehen“ hat.

3. Theologische Aktualisierung

Maria sehen.

Erneuter Perspektivwechsel. Sie sieht die Engel, dann ihn. Aber auch die beiden Engel erblicken sie. Der Auferstandene sieht sie. Nun sehen wir sie. Was sehen wir da genau? Ihre Verzweiflung oder Wut? Eine von Trauer geschwächte oder eine starke Frau?

Andere sehen und sichtbar machen.

Die Jahreslosung von 2023 – „Du bist ein Gott, der mich sieht“ – hat viele angesprochen. Unter der Erfahrung, nicht gesehen und daher nicht gehört zu werden, leiden viele Menschen. Ganze Gruppen erleben, dass man über sie und ihre Realität hinwegschaut. Vielleicht sehen sie es auch nur so, vielleicht täuschen sie sich, da sie sich selbst nur auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit beschränken. Vielleicht wagen sie den Perspektivwechsel nur nicht, vielleicht ist ihre Perspektivlosigkeit aber auch gut begründet. Doch bringt es nichts, sich nun ein Bild davon zu machen, wie es wirklich um diejenigen steht, die sich z. B. in unserer gesellschaftlichen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit verschaffen wollen und dann denjenigen vertrauen, die ihnen die Sicht noch mehr eintrüben – sie fühlen sich nicht gesehen und leiden darunter. Doch bevor man zu schnell nach draußen schaut: Auch in unseren Kirchenbänken sitzen die, die nicht gesehen werden und darunter leiden. Mangelnde Wertschätzung erfahren sie vielleicht von ihren Partner:innen oder ihren Arbeitgeber*innen.

Sehen, wer hier ist.

Doch bevor wir sie vorschnell zu trösten meinen, indem wir ihnen zusprechen, dass Gott sie sieht, müssen wir uns fragen: Sehen wir sie denn? Erkennen wir, dass sie da sind, glauben und bekennen? Dass Kirche sichtbar ist, so lange sie, die Einzelnen, noch da sind? Angesichts der düsteren Prognosen in Hinblick auf die Kirchenmitgliedszahlen sollten sie nicht übersehen werden. Vielleicht haben wir es uns ohnehin manchmal zu leicht damit gemacht, nicht ganz genau hinzuschauen: Wer sitzt in den Kirchenbänken? Dass Gott ein Gott ist, der sie anschaut, soll nicht von der Verantwortung entlassen, dass auch wir hinschauen. Wir können uns bspw. mit – immer differenzierter werdenden – Milieustudien auseinandersetzen und nicht zuletzt den Blick auf den Einzelnen und die Einzelne richten.

Sich gegenseitig sehen.

Doch dass „die Kirche“ und ihre Vertreter*innen sie sehen, reicht ebenso wenig: Sie müssen sich auch gegenseitig sehen. Wie könnte man dafür in der Predigt sensibilisieren, welche Sinne sind zu schärfen? Vielleicht hilft die genaue Betrachtung Marias. Zwei Engel sehen sie an, der auferstandene Christus sieht sie – es ist nur angemessen, wenn auch wir als Gemeinde der womöglich ersten Osterzeugin die volle Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht durch eine Bildbetrachtung. Vielleicht mit Giottos Maria. Giotto di Bondone hat Maria auf Leinwand festgehalten, „Die Auferstehung“ („Noli me tangere“) malt er ca. 1305. Die Darstellung nimmt Maria in den Blick, wie sie den Herrn ergreifen will. Johannes versucht den Blickwechsel zu erzählen, Giotto bildet ihn mit Farben und Perspektiven ab. Einen Menschen so genau zu betrachten, wie es Johannes tut, wie Giotto es tut und Gott selbst es vorgibt, könnte dazu veranlassen, sich sogar einmal im Kirchraum umzuwenden, sich anderen zuzuwenden und – nach dem Gottesdienst – zu noch einmal anderen, womöglich auch den erwähnten Gruppen, die verzweifelt versuchen, sich sichtbar zu machen.

Gemeinsam haben alle Menschen – so bekennt der christliche Glaube – dass Gott sie ansieht.

Und, so bekennt der christliche Glaube auch und insbesondere an Ostern: Sie sollen leben, d. h. auch, dass sie an dem festhalten dürfen, was sie trägt wie Werte und Hoffnung auf Verbesserung, doch dass sie zugleich loslassen müssen, wenn die Hoffnung eine illusorische ist, der Täuschung obliegt und durch ihre „Werte“ andere Menschen abgewertet werden. Ich will mir kein Bildnis machen von Maria, von Christus, von Gott und meinem Gegenüber – ich will ihn, ich will sie sehen.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Ansprechbar.

An Ostersonntag begegnen sich noch mehr Christ*innen als an anderen Sonntagen. Die weltweite Christenheit – „urbi et orbi“ – begegnet sich. Manche unserer ökumenischen Geschwister wollen den Segen virtuell, medial übertragen, empfangen.

Ein „Vaterunser“ konnten zwar nicht Jesu Jünger beten (s. oben), doch wir können es gemeinsam tun und damit das „unser“ betonen. Was verbindet diejenigen, die heute zusammenkommen? Sie wollen die Begegnung. Den Umfragen zum Kirchenaustritt zum Trotz. Wenn sie einander in der Gemeinde und innerhalb der weltweiten Christenheit begegnen, wenn sie – so werden einige offen bekennen können – Christus selbst begegnen wollen, da er sie persönlich angesprochen hat – sind sie auch weiterhin ansprechbar. Ansprechbar für die gute Botschaft und ein Leben nach dem Tod.

Bitte ansprechen.

Im Vikariat habe ich gelernt, wie wertvoll die liturgische Geste sein kann, sich bei einer Beerdigung, nach dem Einlassen des Sarges oder der Urne, bewusst vom Grab weg und zur Gemeinde, zu den Angehörigen hinzuwenden. Ein Hinwenden, das die Zu-Wendung Christi zu Maria und zu mir spiegelt; die von Gottes Zu-Wendung zu unseren Leben getragen ist. Ein Perspektivwechsel, der Hoffnung sichtbar macht. Dann kann man sie ansprechen, ganz direkt: „Jesus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben!“ (Joh 14,19)

Wenn Ostern die Realität der persönlichen Begegnung mit Christus aufleuchten lässt, können wir jede Begegnung feiern mit denen, die ihn gesehen haben, erkannt haben und bekennen wollen. In lebendiger Erinnerung und, ja, auch mit immer neuen Bildern können wir diese Begegnung feiern! Die Menschen, die da sind, sind darauf ansprechbar. Sie sind nicht nur als Gemeinde, als Kollektiv anzusprechen, sondern man kann ihnen einzeln und ganz persönlich begegnen. Dafür können wir uns an diesem Feiertag Zeit nehmen. Wir brauchen die Zeit im Ostersonntaggottesdienst nicht darauf verwenden, mit unseren vielen Worten Christus sichtbar zu machen. Er hat sich ja offenbart. Versuchen wir doch, heute die sichtbar zu machen, die da sind. Wie wäre es z. B., nach dem Gottesdienst, am Ausgang, den Blick auf jeden einzelnen und jede einzelne zu richten und sie direkt anzusprechen: „Gott hat Dich angeschaut. Und ich möchte Dich sehen.“

Autoren

  • Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
  • Dr. Sabine Joy Ihben-Bahl (Praktisch-theologische Resonanzen)

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