Deutsche Bibelgesellschaft

Johannes 10,11-16(27-30) | Miserikordias Domini | 04.05.2025

Einführung in das Johannesevangelium

Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.

Robert Kysar

Das Evangelium „nach Johannes" ist das tiefgründigste und theologisch wie kulturgeschichtlich wirkungsvollste der kanonischen Evangelien. Es unterscheidet sich in Stoff, narrativer Gestalt, Sprache und Theologie signifikant von den Synoptikern. Die Erklärung dieser Besonderheiten sowie die Frage nach seinen Quellen und seinem historischen und theologischen Wert gehören zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen der Forschung.

Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium. Es ist programmatisch aus nachösterlicher Perspektive gestaltet, aus der durch den Geist gewirkten „Erinnerung“ (Joh 2,22; 12,16), und es trägt diese Perspektive bewusst in die Erzählung der Geschichte Jesu und seines Todes (19,30), so dass alle Einzel-Episoden schon im Licht des Ganzen des Christusgeschehens, im ‚österlichen Glanz‘, zu lesen sind.

Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.

1. Verfasser

Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5) in diesem den Zebedaiden Johannes sah. So ‚wurde‘ der LJ zum Augenzeugen der ganzen Erzählung und das Evangelium bekam ‚apostolische‘ Würden. Nach der Johanneslegende (bei Irenäus u.a.) soll dieser Johannes als Greis sein Werk in Ephesus in Kleinasien geschrieben haben, nach Clemens v. Alex. ist es als „geistliches“ Evangelium in Ergänzung und Vertiefung zu den drei eher „leiblichen“ Erzählungen der Synoptiker abgefasst.

Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.

Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20 ist dieser zwar an wenigen Stellen ab dem letzten Mahl (13,23; 19,25-27; 20,1-10) Petrus an die Seite gestellt, doch eher als ‚ideale Figur‘, die Jesus näher ist und ihn besser versteht. Der eigentliche „Autor“ ist in Joh 1-20 der „erinnernde“ Geist (Joh 14,25f). Wenn hinter dem LJ auch eine ‚reale‘ Figur im Umkreis der joh Gemeinden stand (wie 21,22f nahelegt), ist fraglich, ob dieser mit einer bekannten Gestalt zu identifizieren ist. Das Joh wäre in dann Fall posthum von Schülern (21,24f) herausgegeben. Wenn der Autor des Joh mit dem von 1-3Joh identisch ist, wäre der autoritativ schreibende „Presbyteros“ aus 2Joh 1; 3Joh 1 am ehesten mit dem bei Papias von Hierapolis (Eus., h.e. 3,39,4) als Traditionsträger in der Asia erwähnten „Presbyteros Johannes“ zu identifizieren. Die spätere Zuschreibung an den Zebedaiden wäre dann in einer Verwechslung oder eher intentionalen Überblendung der Namen erfolgt.

Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.

2. Adressaten

Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh greifbar sind. Diese Gemeinden (oder die ‚Joh. Schule‘) in Kleinasien sind erst im letzten Drittel des 1. Jh. greifbar, sie hatten eigene Traditionen, aber nahmen auch synoptische und paulinische Motive auf. Ein Teil der joh Christusgläubigen entstammte wohl der Diasporasynagoge, und die traumatischen Spuren einer erfolgten Trennung (aposynagogos: Joh 9,22; 12,42; 16,2) sind wahrnehmbar, hingegen waren andere wohl Nichtjuden („Griechen": Joh 7,35; 12,20). Der Kontext steht also ein Verband ‚gemischter‘ Gemeinden, wohl im urbanen Raum, in dem neben diesen joh Christusgläubigen auch anders geprägte Gruppen koexistierten (z.B. Apk, Eph, Pastoralbriefe).

Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.

3. Entstehungsort

Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus angesetzt. Dies ist im Joh und den drei Briefen nicht positiv zu belegen, und sachlich wäre jeder urbane Kontext im östlichen Mittelmeerraum denkbar, doch weist das frühe Zeugnis des Papias von Hierapolis, Polykarp u.a. auf den Raum Kleinasiens, ebenso die frühe Verbindung mit der dort situierten Apokalypse. Andere Vorschläge (Alexandrien wegen der Rede vom Logos; Syrien wegen vermeintlicher Nähe zu gnostischen Traditionen; Ostjordanland wegen der Bedeutung der ‚Juden‘) sind ebensowenig zu belegen. Kleinasien bleibt die wahrscheinlichste Option.

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie: Das ‚ewige Leben‘ ist schon jetzt im Glauben gegeben (5,24), das Gericht ergeht jetzt in der Begegnung mit Jesus (3,18). Zentrale Bedeutung hat der Geist, der als ‚Beistand‘ (Paraklet) der nachösterlichen Gemeinde diese begleitet, erinnert und zum Zeugnis befähigt. Joh entwickelt eine Art, von Vater, Sohn und Geist in personaler Unterscheidung zu reden, die bereits in die Richtung der späteren Trinitätslehre führt. Das alles wird in Bezug auf die Schriften Israels entfaltet, die nach Joh sämtlich von Jesus zeugen. Daher beansprucht der joh Jesus Exklusivität als Offenbarer (1,18; 14,6), während alle anderen Wege, auch der der nicht an Jesus glaubenden Schüler Moses (9,28) nicht „zum Vater“ führen. Die schroffe antijüdische Polemik ist z.T. Ertrag der schmerzhaften Trennungs- und Identitätsbildungsprozesse. Für die Gemeinde ergibt sich daraus eine innere Trennung von der ‚Welt‘, der mit einer (Familien-)Ethik der (nicht nur, aber vorrangig) auf die eigene Gruppe gerichteten Liebe begegnet wird.

5. Besonderheiten

Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.

Literatur:

  • Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
  • Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
  • Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
  • Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.

A) Exegese kompakt: Johannes 10,11-16 (27-30)

Erkannt, geleitet und bewahrt

Der „Gute Hirte“ ist ein vertrautes Bild, und doch ein fremdes. Herdentiere, gar „dumme Schafe“ wollen wir nicht sein. Aber das wäre eine Missdeutung. Das Sprachbild von Hirten und Herde steht für eine Beziehung, und es will vergewissern: Wir sind von Christus erkannt, geleitet und bewahrt – in Zeit und Ewigkeit!

11Ἐγώ εἰμι ὁ ποιμὴν ὁ καλός. ὁ ποιμὴν ὁ καλὸς τὴν ψυχὴν αὐτοῦ τίθησιν ὑπὲρ τῶν προβάτων· 12ὁ μισθωτὸς καὶ οὐκ ὢν ποιμήν, οὗ οὐκ ἔστιν τὰ πρόβατα ἴδια, θεωρεῖ τὸν λύκον ἐρχόμενον καὶ ἀφίησιν τὰ πρόβατα καὶ φεύγει – καὶ ὁ λύκος ἁρπάζει αὐτὰ καὶ σκορπίζει – 13ὅτι μισθωτός ἐστιν καὶ οὐ μέλει αὐτῷ περὶ τῶν προβάτων.

14Ἐγώ εἰμι ὁ ποιμὴν ὁ καλὸς καὶ γινώσκω τὰ ἐμὰ καὶ γινώσκουσίν με τὰ ἐμά, 15καθὼς γινώσκει με ὁ πατὴρ κἀγὼ γινώσκω τὸν πατέρα, καὶ τὴν ψυχήν μου τίθημι ὑπὲρ τῶν προβάτων. 16καὶ ἄλλα πρόβατα ἔχω ἃ οὐκ ἔστιν ἐκ τῆς αὐλῆς ταύτης· κἀκεῖνα δεῖ με ἀγαγεῖν καὶ τῆς φωνῆς μου ἀκούσουσιν, καὶ γενήσονται μία ποίμνη, εἷς ποιμήν.

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27τὰ πρόβατα τὰ ἐμὰ τῆς φωνῆς μου ἀκούουσιν, κἀγὼ γινώσκω αὐτὰ καὶ ἀκολουθοῦσίν μοι, 28κἀγὼ δίδωμι αὐτοῖς ζωὴν αἰώνιον καὶ οὐ μὴ ἀπόλωνται εἰς τὸν αἰῶνα καὶ οὐχ ἁρπάσει τις αὐτὰ ἐκ τῆς χειρός μου. 29ὁ πατήρ μου ὃ δέδωκέν μοι πάντων μεῖζόν ἐστιν, καὶ οὐδεὶς δύναται ἁρπάζειν ἐκ τῆς χειρὸς τοῦ πατρός. 30ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν.

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Übersetzung

11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte setzt sein Leben ein für die Schafe. 12 Der Lohnarbeiter, der nicht der Hirte ist, dem die Schafe nicht zu eigen sind, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf raubt sie und zerstreut [sie] – 13 denn er ist ein Lohnarbeiter und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die meinen, und die meinen kennen mich, 15 wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne, und ich setze mein Leben ein für die Schafe. 16 Und ich habe [noch] andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind. Auch jene muss ich führen, und sie werden meine Stimme hören, und sie werden sein eine Herde, ein Hirte.

[27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, 28 und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden nicht zugrunde gehen in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. 29 Mein Vater, der mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann aus der Hand des Vaters rauben. 30 Ich und der Vater sind eins.]

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.11      ὑπέρ bedeutet hier nicht „anstelle von“, sondern „zugunsten von“

V.12      Die Syntax ist brüchig. Eine Parenthese ist vor dem begründenden Satz eingeschoben.

V. 16     αὐλή „Stall“, „Hof“: ein umzäunter oder von einem Wall geschützter, unbedachter Bereich

V. 28     εἰς τὸν αἰῶνα: „in Ewigkeit“ = „für immer“ (hier rückbezogen auf „ewiges Leben“)

V. 30     ἕν: ein Neutrum. Jesus und der Vater sind nicht einer (d.h. derselbe).

2. Literarische Gestaltung

Die Perikope fügt zwei Ausschnitte aus der Hirtenrede Joh 10 zusammen, einer Bildrede Jesu, deren Aufbau nicht leicht erfassbar und teilweise unklar ist. Am Anfang steht ein ‚Gleichnis‘ (10,1-5) von einem umzäunten Hof mit Schafen, einer Tür, einem Hirten und einem Dieb, das durch einen Erzählerkommentar (V. 6) abgeschlossen wird: Die Jünger verstehen es nicht. V. 7-18 bieten eine ‚Auslegung‘ bzw. Relecture dieses Bildes, in dem einige Aspekte vertieft werden, erst die Tür und die Diebe (V. 7-10), dann der (gute) Hirte, sein Einsatz für die Schafe und seine Verbindung mit ihnen (V. 11-18), dabei bietet V. 16 eine Ausweitung auf „andere Schafe“ und V. 17f. eine Erläuterung zu Jesu Vollmacht. Nach der Reaktion der Gegner Jesu (V. 19-21) und der Einführung einer neuen Szenerie (Tempelweihfest) in V. 22 folgt V 25-30 ein weiteres Redestück, das ab V. 27 das Thema von Hirte und Schafen wieder aufnimmt und zuspitzt im Blick auf das Verhältnis Jesu zum Vater (V. 30). V. 11-16 und 27-30 sind literarisch und szenisch getrennt, aber thematisch verbunden. Ob V. 27-30 mitgelesen und gepredigt wird, ist zu entscheiden. V. 27-29 sprechen dafür. V. 30 wäre ein eigenes Thema.

V. 11a und dann V. 14 bietet die Selbstvorstellung Jesu als des „guten Hirten“ – in Form eines metaphorischen Ich-bin-Wortes. Die ἐγώ εἰμι-Wendung begegnet im Joh absolut (8,24.28; 13,19), als ‚Identifikation‘ (Ich bin’s: 4,26; 6,20; 18,5-8) und als metaphorisch erweiterte Selbstpräsentation (mit Metaphern wie Brot, Licht, Tür, Hirte, Weinstock und zusätzlichen Qualifikationen wie „gut“, „wahr“, „des Lebens“). Sie nimmt die atl. Formel der Selbstoffenbarung Gottes aus Ex 3,14 (LXX) oder Jes 41,4; 43,10f.25; 46,4; 48,12 auf und präsentiert damit Jesus einerseits in göttlicher Vollmacht, andererseits mit Hilfe leicht zugänglicher Sprachbilder. Der Sachgehalt des Bildes wird so pointiert und exklusiv auf Jesus bezogen. Er ist im Unterschied zu allen anderen Hirten der (einzige) „gute“ Hirte.

Das Sprachbild nimmt die Wirklichkeit von Schafhirten in der mediterranen Welt auf: nicht eine Hirtenromantik mit Flötenmusik, sondern die harte Wirklichkeit, dass Herden von wilden Tieren und Dieben bedroht sind und geschützt werden müssen. Vorausgesetzt ist, dass nur der Besitzer der Tiere sich ganz für sie einsetzt. Ein Lohnhirte rettet im Ernstfall erst sich selbst, er flieht und gibt die Schafe dem Tod preis. Aus ‚Sicht‘ der Schafe ist dies fatal. Ihr Schicksal entscheidet sich am Einsatz des Hirten.

Diese Bildwelt hat biblische Hintergründe: Hirten sind politische und religiöse Volksführer. Da diese das Volk ins Verderben geführt haben, verheißt Gott in Ez 34 (mit betontem ἐγώ), sich seiner Herde (Israels), selbst anzunehmen (34,11), ihr einen „einzigen Hirten“, David, zu senden (34,23). Es geht im Bild um Gott und sein Volk und um das Heil dieses Volkes.

Dieses Bild wird nun im Licht des Christusgeschehens aufgenommen und modifiziert. Jesus tritt als Hirte an die Stelle Gottes. Er ist der göttliche Bevollmächtigte (V. 17f.), engstens verbunden (V. 15), ja „eins“ mit dem Vater (V. 30). Im Blick ist nicht das Kollektiv des Volkes, sondern einzelne: die Schafe. Über Ez 34 hinaus setzt der Hirte hier zugunsten der Schafe sogar sein Leben ein. Dieser Lebenseinsatz (V.11) erfolgt im Bild zu ihrer Verteidigung vor wilden Tieren oder Räubern, zu ihrem Schutz. Im Rahmen der joh Aussagen über Jesu ‚(Hin-)Gabe‘ (διδόναι)oder Einsatz (τίθεσθαι) seines Lebens „für“ die Seinen liegt hier aber über das Bild hinaus ein deutlicher Verweis auf Jesu Tod vor. V. 17f. expliziert dies: Er hat Vollmacht sein Leben hinzugeben und wieder zu nehmen.

3. Literarischer Kontext und historische Einordnung

Der literarische Kontext der Rede ist das letzte Wirken Jesu in Jerusalem (Joh 7-10), wo sich seine Gegnerschaft formiert. Wie in 8,59 folgt auch hier auf die Spitzenaussage 10,30 ein Steinigungsversuch. In 10,19-21 wird ihm Dämonie vorgeworfen. Das Setting der Rede in 10,1-18 bleibt unbestimmt. Nach dem in Joh 7-8 vorausgesetzten Laubhüttenfest und einem in Joh 9 vorausgesetzten Sabbat setzt 10,1 ohne neue Szenenangabe ein. In 10,22 wird dann das Tempelweihfest (Chanukka) im Winter und als Ort seiner Lehre eine Säulenhalle im Tempelareal genannt. Jesus lehrt über einen längeren Zeitraum öffentlich im Tempelbezirk (vgl. 18,20). Seine Zeit geht dem Ende zu, dem Todespassa.

Bei diesen Einordnungen handelt es sich um eine literarische Konstruktion, die aber realistische Szenarien zeichnet. Historisch handelt es sich bei Jesu Reden auch nicht um Worte des Irdischen, sondern um Formulierungen des Evangelisten. Sie setzen eine nachösterliche Perspektive, Jesu Tod und Auferstehung voraus und artikulieren deren Bedeutung.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Das Bild des Guten Hirten hat eine enorme Wirkung in der christlichen Frömmigkeit, von den Katakomben Roms (der Hirte, der auch durch den Tod zum Leben führt) bis hin zu frommen Liedern („Weil ich Jesu Schäflein bin…“) und Andachtsbildern. Modernen Stadtmenschen ist es fremd, oder es wird falsch romantisiert. Niemand will ein ‚dummes‘ Schaf oder Herdenvieh sein. Doch ist diese Assoziation falsch. Es geht hier nicht um willenlosen Gehorsam, sondern um die sichere Zugehörigkeit zu Jesus, zur ‚Familie Gottes‘, um eine stabile Identität. Schafe wissen, wo sie hingehören, wo ihr Platz ist, sie können dem Hirten vertrauen und folgen ihm zur Weide oder Tränke. Ihr Leben ist bewahrt, gesichert, sorglos.

Im Zentrum des Textes steht nicht die Identifikation falscher Hirten, sondern die Qualität des Guten Hirten und seines Einsatzes für die Seinen. Jesu Weg ans Kreuz, der nach Joh freiwillig und souverän erfolgte, wird als Lebenseinsatz zugunsten der Seinen und als Ausweis wahrer Freundesliebe (15,13) gedeutet. Dabei steht Abwehr von Unheil und mithin Heil („ewiges Leben“) im Zentrum – nicht „Opfer“, kultische Sühne oder Sündenvergebung, obwohl diese im Joh (und z.T. deutlicher in 1 Joh) durchaus begegnen.

Die Rede von den „anderen Schafen“, „nicht aus diesem Hof“ ist auffällig und rätselhaft. Da Jesus im Tempel redet, liegt am nächsten, die Schafe aus diesem Hof mit Israel zu identifizieren (ähnlich das „Volk“ in 11,50-52), die „anderen Schafe“ mit nichtjüdischen Glaubenden, die Jesus als das „Licht der Heiden“ (Jes 42,6) nach göttlichem Willen zur Herde Israels hinzu sammeln „muss“. Die Leser:innen des Joh sind hier mit angesprochen. Schon sie und ihr Heil hat Jesus im Blick, wenn er über seinen Hirtenauftrag (und seinen Tod) spricht. Das Ziel ist die Einheit der Gemeinde Christi (auch von Juden- und Heidenchristen); vgl. Joh 17,20.

5. Von der Exegese zur Predigt

Ein Leitmotiv des Textes ist die enge Verbunden- und Vertrautheit, das gegenseitige Kennen von Hirte und Herde. Die Seinen kennen seine Stimme, und er kennt sie (weiß um sie, ihre Gefährdung und Not, sorgt für sie). Die Stabilität dieser Beziehung ist gegründet in Jesus, in seinem Tun und Festhalten (V. 28) – nicht in der Glaubenskraft und Beständigkeit der Menschen. Zuerst sagt er: „Ich kenne die Meinen“ (und das ist uneingeschränkt positiv, nicht mit dem Nebensinn: „ich weiß auch, wer nicht wirklich dazugehört“!). Glaube ist Christi und Gottes Geschenk. Der letzte Grund dieser im Kennen und in der Liebe bestehenden Beziehung ist das Verhältnis von Jesus und dem Vater, das ebenfalls als Liebe (Joh 17,24), gegenseitiges „In-Sein“ (14,11) und Einheit beschrieben wird (V. 30).

Zugespitzt wird am Ende: „Niemand kann sie aus meiner Hand reißen“ (V. 29). Glaube ist Bleiben – und dieses Bleiben in seiner Hand ist durch Jesus, ja durch Gott selbst gewirkt und gewährleistet. Hier erfolgt maximale Vergewisserung. „Du bist mein und ich bin dein,“ formuliert die Minne und ihr folgend die Christusmystik. Menschliche Glaubensschwäche oder Wankelmütigkeit ist irrelevant, denn Gott ist größer. Jede Unsicherheit aus Angst oder falscher Bescheidenheit unangebracht, denn denen, die zu Jesus und seiner Herde gehören, ist das „ewige Leben“ gewiss.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Wenn man Bibelstellen zu gut zu kennen meint, neigt man gerne dazu, vorschnell Themen herauszugreifen, die vielleicht gar nicht so sehr im Fokus stehen. Als Tochter eines Ökonomen hörte ich bisher bei diesem Sprachbild Jesu vor allem heraus, wie wichtig Eigentum ist: denn der Lohnhirte, der Manager, der Mieter sucht bei Problemen das Weite, der Besitzer der Tiere, der Familienunternehmer, der Eigentümer hingegen tut alles für das, wofür er Verantwortung trägt, und fördert so Wirtschaftswachstum, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Vertrauen. So könnte man schnell bei einer sozialpolitischen Predigt landen; Fazit: Eigentum ist ein zentraler Anreizmechanismus; er stützt unser Gemeinwesen und führt zur Verantwortung, pfleglich mit dem Anvertrauten umzugehen. Dass die Exegese so deutlich auf das Gottesverhältnis abhebt, ist somit für die Predigtvorbereitung sehr hilfreich.

Bei der Kurzcharakteristik hingegen rührt sich bei mir dann doch Widerspruch: entspringt diese Interpretation, dass die im Bild des Hirten und seiner Herde gezeichnete enge Glaubensbeziehung bedingungslos ist und „Glaubensschwäche oder Wankelmütigkeit […] irrelevant“ sind, nicht einer Sichtweise, die speziell dieser Text selbst gar nicht hergibt?

2. Thematische Fokussierung

Die Exegese zeigt: es geht um das Gottesverhältnis, um unser Verhältnis mit diesem personalen, dreieinigen Gott, der sich offenbart, statt unkenntlich zu bleiben. Dabei ist entscheidend, dass die Perikope nicht die namen- und gesichtslose Herde im Blick hat, sondern die Schafe im Rahmen ihrer Gruppe angesprochen und erkannt sind. Wir als Gemeindeglieder sind also gemeint: Gott begründet eine sehr enge Beziehung zu den Menschen durch seinen Sohn Jesus Christus, der ihnen – so wie der Gute Hirte sein Leben für die Schafe einsetzt – ewiges Leben schenkt. Das gegenseitige Kennen schafft eine stabile Zugehörigkeit und Identität; deshalb hören und folgen die Schafe ihrem Hirten.

Das Schaf gilt als zutrauliches Tier, das voll Vertrauen auf die Güte des Hirten diesem folgt. Sich von Herzen auf Gott verlassen, sein Vertrauen und seine Hoffnung auf Gott setzen – das macht den Glauben aus.

3. Theologische Aktualisierung

Eine Beziehung funktioniert nur, wenn beide Seiten den Kontakt aufnehmen, sich kennenlernen und kennen. So reicht es eben nicht, dass Gott die Seinen kennt; auch die Seinen kennen ihn. Was heißt das für den einzelnen Gläubigen, der eine Predigt über den Guten Hirten hört? Wer könnte von sich behaupten, Jesus Christus richtig gut zu kennen und Gottes Willen erfasst zu haben? Allein schon der Zusatz „wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne“ zeigt auf, dass hier große Ansprüche formuliert sind und eine Innigkeit gedacht ist, die ihresgleichen sucht. Gleichwohl setzt auch das Bild an sich Grenzen: kein Schaf kennt seinen Hirten in dem geforderten Maß. Zudem expliziert der Text nicht, was dieses Kennen genau beinhaltet, sondern beschreibt nur, was daraus folgt: die Schafe hören die Stimme und sie folgen dem Guten Hirten. Überträgt man das Bild des Hirten samt seiner Schafe auf Gott und seine Gemeinde, dann müssten sich die getauften Gläubigen in den Bankreihen fragen: erkennen wir Gott wirklich an seiner Stimme? Was hilft uns, echt von unecht, wahr von falsch, Gott von Verführung, gute Hirten von Lohnarbeitern zu unterscheiden? Wer heutzutage allzu sehr davon überzeugt ist, genau zu wissen, wo das Gute zu finden ist und wer zu den moralisch Besseren gehört und wer nicht, der hüte sich vor Hybris! Vielleicht lässt sich das Kennen zumindest darauf herunterbrechen: um Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wissen sowie die Botschaft verinnerlicht haben, dass der Sohn Gottes sein Leben einsetzt für einen jeden, der an ihn glaubt und ihm folgt. Und: die volle Kenntnis ergibt sich erst ex post; die Rede vom Guten Hirten handelt also vom Verhältnis der Erlöst-werdenden zum Erlöser, also derjenigen, die Christus wirklich folgen und gefolgt sind.

Die Aussage, dass niemand die Schafe aus der Hand des Guten Hirten bzw. Gott Vaters rauben kann, ist die Vergewisserung, dass die Erlösungstat, der Kreuzestod Christi, nicht umkehrbar gemacht werden kann, aber sie sagt nicht aus, dass das einzelne Schaf sich nicht umdrehen und in die entgegengesetzte Richtung laufen könnte. Freilich wird der Hirte wohl alles tun, um dieses verlorene Schaf wiederzufinden. Hinzu kommt ein Phänomen der Herde: sie hilft, in ihrer Mitte gar nicht so einfach auf den falschen Pfad zu gelangen – möglicherweise ein schönes Argument für die Institution Kirche. Und zuletzt braucht man als getaufter Christ das Zutrauen eines Schafes, dass Gott es am Ende gut mit einem meint, dass er Möglichkeiten der Umkehr gibt, wo man droht, die Gnade zu verspielen. Wie der Gute Hirte die Schafherde zusammenhält, so dürfen sich die Getauften gegen allen Zweifel immer wieder daran erinnern, dass auch Gott sie halten möchte. „Ich bin getauft“ sagt sich Luther deshalb gegen alle Angst und Ungewissheit.

Absolut beschützt zu sein, einfach folgen zu dürfen – für manche ist das ein Verlust an Freiheit, könnte gar als übergriffig und bevormundend interpretiert werden. Andere hingegen wünschen sich diese enge Beziehung, spüren Erleichterung ob der guten Leitung durch einen Hirten, der die chaotische Herde zusammenhält, und verlassen sich gerne auf einen solchen Anführer. Sich führen lassen ist schließlich nur dann keine Bevormundung, wenn man zu der Person Vertrauen hat. Möchten die einen als Schaf nicht Teil eines Kollektivs sein, sondern in ihrer Einzigartigkeit gesehen werden, so fühlen sich viele gerade heutzutage gern einer Community zugehörig, die ihnen Identifikation schafft.

Nichtsdestotrotz: der Gute Hirte löst meist positive Gefühle aus, er ist der Inbegriff der Selbstlosigkeit, die Menschen auch untereinander erhoffen. Aber umgekehrt sind wir nur noch selten dazu bereit, eine solche Verpflichtung und Hingabe einzugehen. Vielleicht noch Eltern gegenüber ihren Kindern oder Menschen mit besonderer Profession und Leidenschaft. Letztlich fordert Gott aber von uns allen, es ihm nachzutun.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der sogenannte Hirtensonntag bespielt mit verschiedenen Texten die Vorstellung eines sich kümmernden Gottes – und das meistens mit dem Bild von Hirte, Schafen und Herde, weil das Hirtenamt im Alten Orient, aber auch bei den Griechen und Römern das Ideal eines Herrschers und Verantwortungsträgers zeichnete. Dieser sich bis zur Aufopferung kümmernde Gott ist barmherzig, er hört, sieht, kennt die Seinen und bestimmt außerdem auf Erden Menschen, die es ihm gleichtun mögen. Kaum ein Sonntag ist liturgisch so rund, in kaum einem Gottesdienst hört und betet man so viele bekannte Texte. Die nachösterliche Zeit im Frühjahr ist außerdem die Zeit, in der die Lämmer geboren werden, Tiere dort, wo sie noch draußen sein dürfen, wieder auf die Weide kommen, und das Bild der Herde aus Joh 10 stärker wirkt, weil die Gefahren außerhalb des Stalls größer sind.

5. Anregungen

Zuletzt ein Denkimpuls, der möglicherweise für die Gemeinde als Adressatin gar nicht im engeren Sinn geeignet ist, weil er Gefahr läuft, sonst zu sehr auf die Amtspersonen abzuheben und Ansprüche zu artikulieren, aber nichtsdestotrotz allem Nachdenken und Predigen über die Perikope vom Guten Hirten eine (Geistes-)Haltung verleihen könnte, die darum weiß, wie entscheidend Auftreten und Verhalten des Hirten bzw. der pastores für die Schafe bzw. die Gemeinde sind – und welche Konsequenzen daraus aktuell in der Nachwuchsgewinnung entstehen, wo man doch gleichzeitig mit jeder Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung erneut liest, wie herausgehoben Pfarrpersonen in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor sind.           
Kennen und erkannt sein, geleitet und bewahrt werden – das geht nicht anonym, sondern nur in einem engen, kommunikativen Miteinander.

Der Beruf des Hirten ist ein harter Job, und nur noch wenige ergreifen ihn. So sagt ein Schäfer im DLF: „Wenn ich sehe, wie hoch der Zeitaufwand ist, den wir einfach nicht bezahlt kriegen. […] Mit einer 35-Stunden-Woche würden die Tiere alle verhungern, ist es nicht machbar, Tiere zu versorgen. Die Woche hat sieben Tage, und die Tiere müssen sieben Tage in der Woche fressen und versorgt werden. Da ist ein großes Maß Selbstlosigkeit. Man muss auf ganz viele Sachen verzichten.“ Damit stirbt einer der ältesten Berufe der Menschheit – ohne Hirten hätte es lange Zeit keine Tierhaltung gegeben – aus.

Nachwuchsprobleme kennt auch der Pfarrberuf. Die Bezahlung mag besser sein, aber alle anderen erwähnten Herausforderungen erinnern an das, was entweder altgediente Kollegen daran hindert, Werbung fürs Theologiestudium zu machen, oder wovor sich Studentinnen am meisten fürchten: 24/7 ansprechbar sein, das Mit-Leben mit und in der Gemeinde, die Selbstaufgabe. Wer Pastor oder Pastorin ist, ist „Seelenhirte“, wer Bischof ist, ist „Oberhirte“. Der Krummstab als Teil der einstigen Herrscher- und bis heute der kirchlichen Symbolik leitet sich von den Schäferstäben mit ihren gekrümmten Enden ab, mit denen die Vierbeiner an Beinen oder Hörnern eingefangen werden können. Er zeigt, welche fordernde Aufgabe die Kirche an ihre Amtsträger stellt.

Und letztlich muss es nicht bei dieser binnenkirchlichen Nabelschau bleiben: Berufe, die nicht 9-to-5 sind, die Aufopferung verlangen, tun sich schwer, ausreichend Nachwuchs zu gewinnen.

Vielleicht wird mit dieser Sicht umso deutlicher, wie ideal das Bild des Guten Hirten gezeichnet ist, wie außergewöhnlich in Joh 10 die Beziehung Gottes zu seinen Menschen dargestellt wird. Denn volle Hingabe ist möglicherweise nicht nur out, sondern fast auch menschenunmöglich. So äußert sich der Schäfer: „Dass man selber als Hirte nicht diese Kraft hat wie Gott. Da ist der Stolz, diesen Beruf machen zu dürfen, aber auch Betrübtheit, es nicht vollkommen machen zu können. Also, wir müssen immer irgendwelche Abstriche machen. Wir sind alle nur Menschen und haben alle nur eine gewisse Kraft.“

Literatur

Autoren

  • Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
  • Elisa Victoria Blum (Praktisch-theologische Resonanzen)

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