Johannes 19,16-30 | Karfreitag | 18.04.2025
Einführung in das Johannesevangelium
Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.
Robert Kysar
Das Evangelium „nach Johannes"
Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium
Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.
1. Verfasser
Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5
Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.
Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20
Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.
2. Adressaten
Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh
Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.
3. Entstehungsort
Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie
5. Besonderheiten
Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.
6. Die johanneische Passionsgeschichte
Die johanneische Passionserzählung umfasst die Kapitel Joh 18-19, sie ist eng mit der Ostererzählung Joh 20 verknüpft. Anders als in den Synoptikern, wo die Kapitel Mk 14-15, Mt 26-27 und Lk 22-23 die Passion und Kreuzigung berichten, ist dieses Geschehen hier enger mit der ganzen joh Erzählung verknüpft, die narrativ von Anfang an auf den Zeitpunkt der „Vollendung“ (Joh 19,30) ausgerichtet ist.
Der Stoff ist weithin mit den Synoptikern parallel – von der Gefangennahme Jesu über Prozess und Kreuzigung bis zur Grablegung. Das letzte Mahl ist im Joh bereits zu Beginn der Abschiedsreden (13,1-20) erzählt, mit der Fußwaschung, aber ohne Einsetzungsworte. Die dem Joh eigentümlichen Abschiedsreden ‚zerdehnen‘ also das Passionsgeschehen, das so erheblich größeren Raum einnimmt.
Angesichts der Differenzen im Detail hat die Forschung zeitweise mit einer eigenständigen joh Passionsüberlieferung gerechnet, die dann als zweite ‚historische‘ Quelle neben der (vor)markinischen hätte stehen können. Aufgrund der deutlichen Indizien, dass Joh das Mk kennt und (kritisch) darauf reagiert, ist der intendierte Sinn der joh Erzählung am besten im Gegenüber zu Mk zu erkennen.
Die joh Passionsgeschichte ist literarisch kunstvoll gestaltet, als „Sehschule des Glaubens.“ Dem Evangelisten kommt es darauf an, die Lesenden vor ihren inneren Augen sehen zu lassen, dass Jesus „in der größten Niedrigkeit verherrlicht worden“ ist. In der Rückschau, aus nachösterlicher Perspektive, wird das erzählte Geschehen so mit deutenden Aspekten versehen und narrativ ausgestaltet, dass die Lesenden auf diese Sinndimension hingeführt werden: Obwohl Jesus – was nicht negiert wird – Opfer einer grausamen Exekution ist, ist er doch in Wahrheit der König, der auf dem Thron seines Kreuzes inthronisiert wird und von da aus durch sein Wort seine Königsherrschaft ausübt. Narrativ ist die Passionserzählung mit anderen Teilen des Evangeliums verschränkt, insofern Joh die Tempelreinigung, die in der Tradition (Mk) den Anstoß zur Festnahme Jesu liefert, schon an den Anfang rückt (Joh 2,13-22). Dabei weiß Joh, dass dieses Geschehen in den Passionskontext gehört, wie das Zitat 2,17 verdeutlicht. D.h. Joh versetzt die Episode bewusst und absichtlich, wohl um den Konflikt Jesu mit den Autoritäten von Beginn an über seinen Weg zu stellen. Auch der Todesbeschluss des Hohen Rates ist bei Joh vorgezogen (Joh 11,46-54): Nicht die Tempelreinigung, sondern die Lazarus-Erweckung, nicht eine Störung der öffentlichen Ordnung, sondern der Erweis seiner göttlichen Vollmacht ist der Anlass, aufgrund dessen über Jesu Tod beschlossen wird. Im Prozess erfolgt daher keine Sitzung des Synhedriums mehr, die Vorführung vor Kaiaphas bleibt inhaltslos (Joh 18,27), stattdessen fügt Joh ein Verhör vor der grauen Eminenz der hohepriesterlichen Familien, Hannas, ein.
Jörg Frey, „Seht, euer König!“ Die Johannes-Passion als Sehschule des Glaubens, ThBeitr 50 (2019), 7–27, auch in ders., Vom Ende zum Anfang. Studien zum Johannesevangelium. Kleine Schriften IV, hg. v. Ruben Bühner, Tübingen 2022, 489-509.
So der Text des Eingangschors von Johann Sebastian Bachs Johannespassion.
Vor-Verweise auf Jesu Tod begegnen von Beginn des Joh an. Schon die ‚Fleisch‘-Werdung des Logos (1,14) mag dies implizieren, dann die Rede von ihm als ‚Lamm Gottes‘ (1,29.36), vom Eifer, der ihn verzehren wird (2,17), seiner Auferstehung (2,22), der Erhöhung des Menschensohns (3,14) etc.
Hinzu kommen die Hinweise auf Jesu „Stunde“, die sukzessive als Stunde seines Todes erkennbar wird (Joh 2,4; 7,30; 8,20; 12,23), Hinweise auf die Tötungsabsicht der Gegner (Joh 5,18; 7,1.19 f.25; 8,37.40; 11,53; 12,10), auf die Versuche, ihn zu ergreifen (Joh 7,30.32.44; 8,20; 10,39; 11,57) oder zu steinigen (Joh 10,31–33; 11,8), und auf Judas als dem, der ihn „ausliefern“ sollte (Joh 6,64.70 f.; 12,4; 13,2).
Deutungsaspekte liefern die Rede von seiner „Erhöhung“ (Joh 3,14), die doppelsinnig als Erhöhung am Kreuz und zum Vater verstanden werden kann (Joh 3,14; 8,28; 12,32–34) und am Ende in 12,33 klar auf die Todesart bezogen wird, daneben die Rede von seiner in diesem Geschehen erfolgenden „Verherrlichung“ (Joh 7,39; 11,4; 12,16.23.28). Beide Motive sind zusammen im 4. Gottesknechtslied (Joh 52,13 LXX) futurisch für den Gottesknecht formuliert: „Mein Knecht … wird erhöht und sehr verherrlicht sein.“ Joh hat seine Deutung also aus der Schrift.
In charakteristischen ὑπέρ-Aussagen ist von Jesu Lebenshingabe „für das Leben der Welt“ (Joh 6,51), „für die Schafe“ (Joh 10,11.15.17) oder „für die Freunde“ (Joh 15,13) und seinem Sterben „für das Volk“ (Joh 10,51 f.) die Rede, womit deutlich wird, dass Jesu noch bevorstehender Tod Unheil abwehrende und Heil eröffnende Bedeutung hat. Der Evangelist führt diese Deutungsaspekte besonders in den Erzählerkommentaren (Joh 2,17.21; 7,38 f.; 12,33 u. ö.) ein und stellt damit die Leserinnen und Leser auf die im Folgenden erzählte Passion ein.
Der Teil Joh 13-21 wird mit dem Hinweis eingeleitet, dass Jesus „die Seinen bis zur Vollendung liebte“ (Joh 13,1), worauf dann die Fußwaschung als symbolische Vorausdarstellung der Passion erzählt wird (Joh 13,4–15). Die Abschiedsreden thematisieren breit den Sinn von Jesu ‚Weggehen‘ (Joh 13,33.36; 14,5) bzw. seiner Unsichtbarkeit und Entzogenheit in nachösterlicher Zeit (Joh 14,19; 16,10; 16,16–19). Sein Weggang wird gedeutet als Hingang zum Vater (Joh 13,3; 14,2 f.; 14,28), Sieg über die Welt (Joh 16,33), Gericht über ihren ‚Herrscher‘ (Joh 16,11), Vollendung des Jesus aufgetragenen Werkes (Joh 17,4) und Bedingung der Sendung des Geistes (Joh 16,7) und damit als Grundlage des Glaubens der Gemeinde.
Auf diesem Hintergrund wird die Passionserzählung dezidiert anders als in den Synoptikern erzählt: Jesus geht freiwillig und souverän in den Tod. Er ist aktiv in seiner Passion, liefert sich selbst den Soldaten aus (18,1-11), antwortet dem Hohepriester (18,12-26) und auch Pilatus (18,28-19,16a) hoheitlich-selbstbewusst, trägt sein Kreuz selbst (18,17), ordnet noch vom Kreuz aus seine Verhältnisse (19,25-27) und übergibt (aktiv) den Geist (19,30). Er stirbt nicht in Gottesferne (so in Mk/Mt), sondern in Vollendung seiner Sendung und Erfüllung der Schrift, und nach seinem Tod kommt heilvolle Flüssigkeit (der Tempelstrom aus Ez 47) aus seinem Leib, und der Zeuge unter dem Kreuz (hier der Lieblingsjünger) bezeugt die Wahrheit dieser Heilswirkung.
Im Pilatusprozess wird v.a. Jesu Königtum thematisch. Jesus bestätigt, dass er ein König ist, aber in anderer Weise (18,36f.). Die Soldaten verhöhnen ihn als Narrenkönig (19,2-3), Pilatus führt ihn als König der Juden heraus (19,15), wobei unklar ist, ob Pilatus auf einem Richterstuhl sitzt oder Jesus auf einem erhöhten Platz steht (19,13). Am Ende wird Jesus universal als König der Juden proklamiert (19,19f.). Die Gestaltung dient dazu, in dem Gekreuzigten den wahren König zu erblicken.
Der Aspekt des Leidens wird bei Joh weniger als bei Mk und Mt thematisiert. Doch ist das weder als Euphemismus noch als Aspekt eines philosophischen ‘noble death’ zu werten. Dass Jesus stirbt, ist unstrittig, dass er in äußerster Entwürdigung, nackt (!) am Kreuz stirbt, ist durch die Verlosung seines Untergewandes ebenfalls klar. Alle Spekulationen über ein Überleben der Kreuzigung sind grundlos.
In der Kreuzigung treten die jüdischen Hohenpriester als Ankläger hervor. Der Römer Pilatus lässt Jesus gegen seine Überzeugung hinsichtlich seiner Unschuld zur Kreuzigung abführen. Formal hat er die rechtliche Verantwortung, doch ist in Jerusalem ein Gentlemen-Agreement unter den Mächtigen am Werk. Gleichwohl ist die joh Passion weniger antijüdisch als die des Mt, in der das Volk die Verantwortung für seinen Tod übernimmt (Mt 27,25). Joh differenziert hier (mehr als sonst) zwischen den Oberen und der von ihnen beeinflussten Menge.
Es ist klar, dass Joh nicht einfach das historische Geschehen berichtet, sondern in einer Erinnerung (2,22; 12,16) aus nachösterlicher Zeit schreibt. In diesem (österlichen) Licht kann Jesus nicht um Verschonung gebeten haben (wie nach Mk in Gethsemane), sondern nur um seine Verherrlichung (Joh 12,27f), er kann nicht in Gottverlassenheit gestorben sein, sondern nur in Einheit mit dem Vater.
Jesu Tod erfolgt in der von Gott bestimmten „Stunde“, als Vollendung des in der Schrift niedergelegten göttlichen Willens, ja als Akt der liebenden Hingabe zugunsten der Seinen und letztlich als Erweis der Liebe Gottes zur Welt (3,16). Er ist heilswirksam und auch heilsnotwendig (16,7), denn nur danach konnte der Geist von ihm gesandt werden. Er ist schon physisch ein Akt der „Erhöhung“ (von der Erde), aber für den Glauben zugleich zum Vater. Er erfolgt in Stellvertretung „für das Volk“, „für seine Freunde“ oder „für die Schafe“. Besonders zentral ist der Aspekt des Königtums: Während der Unglaube argumentiert, Jesus habe sich unberechtigt zum König gemacht (19,7), ist Jesus für Johannes der wahre König, der vom Kreuz aus durch sein Wort über die regiert, die seine Stimme hören.
Literatur:
- Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
- Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
- Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
- Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.
A) Exegese kompakt: Johannes 19,16-30
Johannes hilft in der Todesstunde Jesu zu sehen, was hinter dem Augenschein ist: Vor Augen steht eine grausige Exekution – und doch wird sie durch viele kleine Signale erkennbar als Akt der Vollendung der Liebe, als Zielpunkt der ganzen Geschichte, Manifestation des Heils.
Übersetzung
16 [Danach übergab er (= Pilatus) ihn (= Jesus) ihnen, damit er gekreuzigt würde.] Sie nahmen (nun) Jesus 17 und er trug sein Kreuz selbst und ging hinaus zu der sogenannten Schädelstätte, die hebräisch Golgotha heißt, 18 wo sie ihn kreuzigten, und mit ihm zwei andere auf beiden Seiten, in der Mitte aber Jesus.
19 Pilatus aber schrieb eine Überschrift und setzte sie über das Kreuz. Es war aber geschrieben: „Jesus der Nazoräer, der König der Juden.“ 20 Diese Überschrift lasen viele aus den Juden, denn nahe bei der Stadt war der Ort, an dem Jesus gekreuzigt worden war, und es war geschrieben auf Hebräisch, Lateinisch [und] Griechisch. 21 Da sagten die Hohepriester der Juden zu Pilatus: „Schreibe nicht ‚der König der Juden‘, sondern dass jener gesagt hat: ‚König der Juden bin ich.‘“ 22 Pilatus antwortete: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“
23 Die Soldaten nun, als sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, jedem Soldaten ein Teil, und [dazu] das Untergewand. Das Untergewand aber war saumlos von oben an ganz durchgewirkt. 24 Sie sprachen aber zueinander: „Diesen wollen wir nicht zerschneiden, sondern um ihn losen, wem er gehören soll.“ So sollte die Schrift erfüllt werden [die sagt]: „Sie haben meine Kleider untereinander verteilt und über mein Gewand haben sie das Los geworfen.“ Die Soldaten taten nun dies.
26 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die [Frau] des Klopas und Maria Magdalena. 26 Als nun Jesus seine Mutter und den Jünger, den er liebte, dastehen sah, spricht er zur Mutter: „Frau, siehe, dein Sohn.“ 27 Danach spricht er zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter.“ Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie in das Seine.
28 Danach, als Jesus sah, dass schon alles vollendet war, spricht er, damit die Schrift vollendet würde: „Ich habe Durst.“ 29 Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten nun einen Schwamm getränkt mit dem Essig auf einen Ysop und reichten ihn ihm zum Mund. 30 Als er nun den Essig genommen hatte, sprach Jesus: „Es ist vollendet.“ Und er neigte seinen Kopf und übergab den Geist.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
16a αὐτοῖς wer sind die „sie“ (und das Subjekt in V. 16b). Das bleibt sprachlich offen: Etwa die Ankläger? Historisch- können hier nur die röm. Soldaten gemeint sein, die die Exekution durchführten. Später wurde auch die Kreuzigung Jesu immer mehr ‚den Juden‘ angelastet.
17 Ἑβραϊστὶ faktisch Aramäisch: auch Γολγοθα ist eine aramäische Wortbildung
19 γέγραφα Das Perfekt betont: das was geschrieben ist, steht jetzt (rechtlich) gültig da.
26 Unklar ist, ob drei (wie in Mk) oder vier Frauen gemeint sind. Eher drei: seine Mutter, die Frau des Klopas, ihre Schwester, die auch Maria genannt wird, und Maria Magdalena.
28 τετέλεσται τελέω = vollenden (eins Werkes, vgl. 4,34), vollständig erfüllen (Luther: „vollbringen“). Das Pf. Betont, dass dieses Resultat gültig und beständig ‚dasteht‘.
2. Literarische Gestalt und Kontext
V. 16a gehört noch als Abschluss zum Pilatusprozess. Der neue Abschnitt beginnt mit 16b und umfasst Jesu Kreuzigung und drei Szenen unter dem Kreuz, sowie die Todesstunde. Die Lesung sollte mit 16b („Sie nahmen aber Jesus“) beginnen. V. 30 ist ein natürliches Ende.
Obwohl „sie“, d.h. wohl die römischen Soldaten, Subjekt der Kreuzigung Jesu sind, die nur ganz knapp, einem Halbsatz erzählt wird, steht Jesus, sein freiwilliges Handeln im Mittelpunkt: Er geht (aktiv) hinaus und trägt sein Kreuz selbst. Ein Simon von Kyrene, der ihm bei Mk hilft, ist nicht nötig. Später regelt er aktiv vom Kreuz seine Verhältnisse, sieht, dass alles vollendet ist und trägt noch aktiv zur völligen Erfüllung der Schrift bei, und selbst im Sterben haucht er nicht bloß aus, sondern übergibt aktiv den Geist.
Zwischen Kreuzigung und Todessstunde stehen drei je in sich abgerundete Episoden: der Streit um den titulus crucis, die Verteilung der Kleider, und die Szene mit Maria und dem Jünger.
Auffällig ist die Häufung der Vollendungsterminologie (3x τελ) in V. 28-30. Damit ergibt sich ein intertextueller Verweis auf Gen 2,1f. LXX, den Abschluss der Werke Gottes in der Schöpfung: Jesu ganzer Weg vom Prolog (Joh 1,1 vgl. Gen 1,1 LXX) an steht in Analogie zum Schöpfungsgeschehen.
Zwei Psalmzitate sind hier eingestreut, beide aus Psalmen (22 und 69), die bereits in der älteren Passionsüberlieferung prominent sind. Für Ps 22,18 wird hier (anders als in den Synoptikern) explizit die Erfüllung festgestellt; für Ps 69,22 leitet Jesus selbst die Erfüllung ein, dabei ist die Erfüllungsformel, die im Joh nur im Passionskontext zwischen 12,38 und 19,36f. begegnet, hier abweichend nicht mit ἵνα πληρωθῇ, sondern mit ἵνα τελειωθῇ formuliert. Jesu Tod ist Erfüllung und Vollendung der Schrift. Auffällig ist die Nennung des Ysop. Ysop ist kein Holz, aus dem Stangen gefertigt werden, wie das „Rohr“ (κάλαμος) in Mk 15,36, sondern ein Busch, dessen Zweige im AT als ‚Pinsel‘ zur Besprengung in Entsündigungsriten (Lev 14; Num 19; vgl. Ps 51,9) verwendet werden. Die historisch inkorrekte Ersetzung des Rohrs durch einen Ysop spielt diesen sachlichen Aspekt der ‚Entsündigung‘ bzw. Reinigung ein, ohne zu spezifizieren, ob nun Jesus selbst oder letztlich durch seine Lebenshingabe andere bzw. ‚die Welt‘ gereinigt werden.
Die Sterbensszene ist sorgfältig gestaltet. Nach der (durchaus emotionslosen) Feststellung der Vollendung senkt Jesus das Haupt, was durchaus auch im Sinne eines bestätigenden Nickens gelesen werden kann, mit dem z.B. ein König einem Bittsteller seine Bitte gewährte. Dann übergibt er (aktiv) „den Geist“. Damit ist nicht nur ein Aushauchen gemeint (so Mk 15:37: ἐξέπνευσεν; auch Lk 23,46), aber auch nicht wie im Sterbegebet Jesu bei Lukas das Anbefehlen „seines“ Geistes an den Vater (Lk 23,46). Ist hier ggf. nicht nur Jesu (Lebens-)Geist gemeint, sondern „der Geist“, der Heilige Geist? Und nicht nur die Rückgabe an den Vater, sondern die Übergabe an die (späteren) Empfänger? Sollte also von 19,30 ein Bogen zum joh Pfingsten am Ostertag (Joh 20,22f.) angelegt sein: Die Gabe des Geistes gründet im Kreuz, bzw. in der Zusammenschau von Kreuz und Osterereignissen?
3. Kontexte und historische Einordnung
Die sogenannte ‚Schädelstätte (Golgotha) lag wohl wenig außerhalb der damaligen Stadtmauer (der sog. 2. Mauer Jerusalems), historisch vermutlich im Steinbruchgebiet, über dem heute in Jerusalem die ‚Grabeskirche‘ steht. Joh nennt viele Ortsnamen aus Jerusalem und trifft auch in der Beschreibung des Zusammenwirkens der judäischen Aristokratie mit dem Statthalter die historischen Sachverhalte gut. Auch die Überschrift über dem Kreuz (wie bei Mk 15,26) ist historisch denkbar – als zynisch-antijüdische römische Geste und abschreckende Warnung.
Vieles andere ist primär theologisch und symbolisch ausgestaltet: Die universale Proklamation des Königtums Jesu in drei Sprachen, die quasi-amtliche Bekräftigung durch Pilatus, der ja nach Joh von Jesu Unschuld im Sinne der Anklage überzeugt ist und diese mehrfach betont. Die Differenzierung zwischen Kleidern und Untergewand wird vorgenommen, weil das Psalmwort Ps 22,18 im parallelismus membrorum so formuliert und der Evangelist anders als die Synoptiker die beiden Zeilen nicht auf einen Akt hin liest, sondern auf zwei Akte verteilt. In historischer Hinsicht haben wir es hier eher mit einer Extrapolation aus der Schrift zu tun. Zugleich wird auf den unteilbaren ‚Unterrock‘ besonderes, wohl symbolisches Augenmerk gerichtet. Auch die Frauen unter dem Kreuz hat Joh aus der Tradition (Mk 15,40), dort sind es drei, hier drei oder ggf. auch vier. Joh trägt die Mutter in die Reihe der nachgefolgten Frauen ein. Historisch ist das unwahrscheinlich, die Familie Jesu stand ihm vor Ostern skeptisch gegenüber (Mk 3,31-35). Unter dem eingetragen wird auch der ideale Jünger, der bei Jesus bleibt, während gemäß der Tradition alle Jünger geflohen waren. Diese ideale und symbolische Szene hat dann in der Kunst alle Darstellungen des Kreuzes, der Kreuzabnahme und der Pietà beeinflusst. Jesu Durst ist ein letzter Ausdruck seiner Menschlichkeit. Die Tränkung mit Essig bzw. saurem Most impliziert nicht Leiden, im Fokus ist aber die Erfüllung der Schrift. Natürlich ist auch Jesu letztes Wort, der Triumph der „Vollendung“ von „allem“ (V. 28), eine theologisch motivierte Ausgestaltung gegen die ältere Tradition.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Der Zielpunkt ist zugleich der Schwerpunkt: Jesu Tod ist Vollendung seiner Sendung (vgl. 4,34) und des göttlichen Willens zum Heil der Welt. Jesus stirbt nicht in Gottesferne, sondern geht als ‚theos´ in die tiefste Tiefe – „oh große Not, Gott selbst ist tot“ (Joh. Rist) – und das vordergründig grausame Exekutionsgeschehen soll als eschatologisches Heilsgeschehen, das Ende als neuer Anfang des Lebens (s. den Lebensstrom aus Jesu Leib V. 34) erkannt werden.
Schwer zu deuten ist der „ungenähte“ Mantel. Eine symbolische Deutung ist naheliegend. Soll hier die Einheit der Kirche in den Blick kommen (vgl. 10,17; 11,51; 17,20)?
Was geschieht in der Szene unter dem Kreuz? Es geht hier nicht nur um einen sozialen Aspekt der Versorgung der Mutter, die der Obhut des geliebten Jüngers anvertraut wird. Es bringt auch wenig, die beiden Gestalten als Symbole (Maria für das Judenchristentum, der Jünger für das Heidenchristentum) zu deuten, wie Bultmann spekulierte. Was hier passiert, ist ein narrativer Platzwechsel (wie in 18,8f.; 18,40 oder auch in der Lazaruserzählung), eine Veranschaulichung der Stellvertretung: Während Jesus am Kreuz den Platz eines Verbrechers einnimmt, wird der paradigmatische Jünger zum Sohn seiner Mutter, er nimmt seinen Platz ein. Hier ist erzählerisch vor Augen geführt, was 2 Kor 5,21 formuliert, oder was Luther mit dem „seligen Tausch“ oder „fröhlichen Wechsel“ gemeint hat. In Jesu Tod tritt Gott an die Stelle des sündigen Menschen, und dem Menschen wird Rettung und Leben eröffnet. Zeuge dessen ist dann der Jünger, der unter dem Kreuz die heilvolle Wirkung bezeugen wird (19,34).
5. Theologische Perspektivierung
Johannes stellt heraus, was bedeutsam ist in dieser Stunde: Jesus will in den Tod gehen – aus Liebe, die hier zur Vollendung kommt (13,1). Als der wahre König aller, die sein Wort hören (18,36f.), setzt er sein Leben ein zugunsten seiner Freunde (15,13), ja für das Leben der Welt (6,51). Nicht das Leiden steht im Fokus, sondern der Ertrag, der Lebensgewinn, die von Jesus erbetene „Verherrlichung“ (12,28; 17,1). Nichts von dem, was hier geschieht, ist durch menschliches Tun zu ‚verdienen‘. Es ist Jesu testamentarische Verfügung vom Kreuz, dass die von ihm Geliebten in den Status der Gotteskinder
Die universale, die Welt besiegende (16,33) und erneuernde Bedeutung dieses Geschehens – das historisch nichts als die Exekution eines politisch beschuldigten Provinzialen war – könnte nicht kühner zur Darstellung gebracht werden. Es ist alles (!) „vollendet“.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
„Es ist vollbracht.“ Ein kraftvoller Satz, der mir an Karfreitag in jedem Jahr wieder durch Mark und Bein geht. Damit verbunden das intuitive Begreifen: Hier passiert etwas, das alles verändert. Alles, was zuvor geschah und was noch geschehen wird. Doch was genau ist vollbracht, erfüllt, vollendet? Was kommt so kraftvoll daher und verändert das ganze Leben?
Durch die Exegese werde ich mitten hineingenommen in das absonderliche Geschehen, das hier als Vollendung dargeboten wird. Sie lenkt mein Augenmerk darauf, wie Jesus in einer Situation absoluten Ausgeliefertseins fast schon befremdlich souverän agiert. Ihm sind die Hände gebunden, sein Geist aber entfesselt sich auf sein Geheiß. In seinem Nicken: kein Aufgeben, sondern Hingabe. Die drei Etappen – Kreuzesüberschrift, Kleiderkreisel, Familienkarussell – geben mir Orientierung bei meinen vorsichtigen Schritten hin zum Kreuz.
Neu ist für mich der Entsündigungsbeiklang des Ysopstabes. Damit können soteriologische Fässer aufgemacht werden, die kaum zu (er-)füllen sind. Im ungenähten Mantel die Einheit der Kirche zu sehen, wird mir zur Hürde. Zur Ekklesiologie kann ich so schnell nicht vorspringen. Die Heilsdeutung des Todes bedarf meiner ganzen Aufmerksamkeit.
2. Thematische Fokussierung
Das Karfreitagsgeschehen begreiflich zu machen und für das Leben gelten zu lassen, ist eine Lebensaufgabe. Es ist gewissermaßen die Kerndisziplin protestantischer Verkündigung. Warum bedeutet der Tod des Einen unser aller Heil?
Das Kreuz baut hermeneutische Stolperfallen, und zwar mit Bedacht. Keine Todesdeutung erfasst das Geschehen ganz. Sonst würde es in menschlichen Machbarkeitsstudien verrechenbar, nachahmbar werden. Es ist eben ein Ein-Für-Alle-Mal-Ereignis, das nicht wiederholt werden kann. Wie immer man es zu beschreiben versucht, welche Überschrift man auch über das Kreuz setzt, man wird hinter dem Wunder von Kreuz und Auferstehung zurückbleiben. Was dann geschrieben ist, ist geschrieben. Deshalb ist der Satz „Es ist vollbracht“ so kraftvoll. Darin steckt die ganze Erfüllung, das Ziel der Schrift, die Vollendung der Schöpfung, aber auch der Vorbehalt dagegen, das Geschehen auf (Kreuzes-)Überschriften wie „Opfer“, „Entsühnung“, „Stellvertretung“, „Loskauf“, „Liebestat“ festzuschreiben.
Trotzdem sendet die johanneische Kreuzigungserzählung Signale des Verstehens aus, Leitplanken des Begreifens. Oder besser: Leitplanken des Falsch-Verstehens.
Die Kreuzigung ist nicht zu verstehen als Tod irgendeines unbedeutenden Menschen aus Nazareth. Er trägt einen Ehrentitel. Was geschrieben ist, ist geschrieben, sogar auf allen Amtssprachen. Er ist König der Juden, er ist ohne Schuld. Es ist aber auch kein entrücktes Gotteswesen, das da zum Schein getötet wird, wie die Gnostiker dachten. Es ist dieser Mensch aus Nazareth. Mensch wie wir. Irgendwie austauschbar und zugleich doch überhaupt nicht.
Die Kreuzigung ist nicht zu verstehen als Bruch mit allem, was man zuvor von Gott wusste. Sie ist die Erfüllung dessen, was prophezeit ist. Ja sogar die Vollendung der Schrift. Zielpunkt. Danach braucht es keine weitere Prophetie. Die Geschichte Gottes mit den Menschen läuft ohne Unterbrechung bis ans Kreuz und findet dort ihren Tief- und Höhepunkt.
Der Tod ist nicht zu beschönigen. Er ist kein reiner Durchgang, nicht bloßes Gottesspiel. Dahingehend sollte man Luthers „fröhlichen Tausch“ nicht falschverstehen. Hier kulminiert alles, was in unserer Welt und in unserem Leben falsch läuft und unfassbar bitter schmeckt. Es wird uns vorgehalten. Man kann es nicht mit einem „Alles wieder gut“ übertünchen. Der Ysopstab ist kein Bauchpinsel.
Das Leiden Jesu ist nicht als Selbstzweck zu verstehen. Nicht das Leiden steht im Vordergrund, sondern der Lebensgewinn. In der Freiwilligkeit erfüllt, vollendet und transformiert das Leiden alles Geschriebene und alle Festschreibungen. Das heißt aber nicht, dass wir nun alles Leid hochstilisieren müssen, als sei es immer schon Indiz für Christusnachfolge. Ich erinnere mich an eine Passage aus dem Buch „Toxische Weiblichkeit“ von Sophia Fritz: „Als Kind fiel es mir schwer, den sonntäglichen Gottesdienst mit seiner trägen Dramaturgie auszuhalten. Nur in dem aus Holz geschnitzten Mann, auf den ich aus Langeweile starrte, sah ich einen Leidensgenossen. Immer wieder wurde von dem Pfarrer betont, wie viel Jesus ausgehalten hat. Wie viel er leiden musste. Dabei wäre die stärkere Botschaft des Christentums doch der auferstandenen Jesus gewesen: Eine Lichtfigur, die den Tod überwunden hat. (…) Doch wir zeigen ihn nicht in seiner Stärke, sondern an seinem allerschwächsten Punkt, an dem er keine Hilfe bekommt, klinisch tot ist und eben noch seinen eigenen Vater angezweifelt hat. Und ewig soll er leiden. Egal wie oft ich die Kirche betrete, wenn ich sie wieder verlasse, hängt er immer noch über dem Altar.“ An dieser ehrlichen Beobachtung wird ersichtlich, welche Gefahr Todesvereindeutigungen bringen. Sie können töten. Wer das Leiden Jesu nicht begreiflich macht, tötet alle Verbindungen zu unserer Erfahrungswelt. Jesus ist unser Leidensgenosse. Nur deshalb geht uns das Geschehen am Kreuz etwas an. Jedoch: wer ewig bei Jesu Leiden stehen bleibt, das Leiden selbst als Vollendung glorifiziert, tötet ihn immer wieder. Bringt ihn um und sich selbst um Gottes Lebenswillen. Ein toter Gott trägt nichts mehr aus.
Sophia Fritz, Toxische Weiblichkeit, 20246, 102f.
Fremd bleibt mir und vielen die Entsühnungs- und Opferthematik. Unausrottbar hält sich das Missverständnis, Gott brauche ein Opfer, um sich versöhnen zu können. Und wer möchte an einen solchen Gott glauben?
Und doch ist uns die Opfer-Thematik lebensweltlich so nah. Wir sprechen gegenwärtig andauernd über Opfer- und Täterschaft. Darüber, dass es keine Opfer-Täter-Umkehr geben darf. Darüber, dass Menschen die Chance gegeben werden muss, sich aus Opferrollen zu emanzipieren. Darüber, wie Opferrollen sich verstetigen und wie Opfer entmündigt werden. Die Kirche hat hier eine ganze Menge aufzuholen. Versöhnungszwang („für das Zusammenleben müssen Opfer gebracht werden“) und Leidensstilisierung sind hochgradig gefährlich, insbesondere für Opfer von sexualisierter Gewalt. Wenn man das Kreuz als Aufopferung verstehen will, dann doch bitte so, dass es die Kategorie „Opfer“ ad absurdum führt. Die Souveränität Jesu als Opfer macht das besonders deutlich. Wir sind Gott Gottseidank kein Opfer mehr schuldig. Und trotzdem muss Schuld benannt werden, damit sie übernommen werden kann. Die Schuld finden wir nicht nur in Strukturen, sondern auch bei uns selbst. Nur im Bekenntnis von Schuld können Opfer-Täter-Kreisläufe durchbrochen werden. Ebenso wenig, wie wir Gott weiterhin Opfer darbringen müssen, müssen wir uns füreinander aufopfern, als sei das die einzige Möglichkeit, friedvoll miteinander zu leben oder verschont zu bleiben. Wenn wir über den Opfertod Jesu sprechen, dann nicht um gegenwärtige Opfer-Täter-Schemata zu verstetigen und Opfermentalitäten zu glorifizieren, sondern um sie zu sprengen.
4. Bezug zum Kirchenjahr
An Karfreitag sind viele Erwartungen geknüpft. Für die einen ist er der wichtigste Feiertag des Kirchenjahres, für andere ein unverständliches, gar aufgesetztes Trauerspiel. Die Dramaturgie des Karfreitagsgottesdienstes ist deshalb entscheidend. Weder darf man sich liturgisch allzu schnell am Tod vorbeimogeln, weil draußen dummerweise die Sonne scheint, noch sollte Jesus in den Augen der Gottesdienstbesuchenden am Ende „über dem Altar hängen bleiben“. Die flankierenden Schriftworte helfen dabei, das Kreuz weder in die eine noch in die andere Seite wegkippen zu lassen. Der Tagespsalm 22 rangiert zwischen Gottesklage und Erfüllungsgehilfen: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ Das Gottesknechtslied aus Jes 52,13-53,12 malt wie kein anderer Text Scham, Schande und Entstellung in grausamsten Farben aus und ist doch gerahmt von staunenswerten Verheißungen: „Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.“ Und auch dieses Schriftwort warnt: Was vor Augen ist, kann leicht einseitig missverstanden werden: „Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.“
Das Monatslied „Alles Leid“ vom Popinstitut Nordkirche (https://www.popinstitut-nordkirche.de/song/alles-leid/
5. Anregungen
Möchte man das Bild des Tausches homiletisch ausgestalten, könnte man mit der Gemeinde Perspektivwechsel und Rollentausch inszenieren oder (wenn das den klassischen Karfreitagsrahmen sprengt) Ergebnisse aus derlei Projekten im Rahmen der Konfiarbeit oder der Erwachsenenbildung präsentieren. Das Spiel „Identitätenlotto“ macht es möglich, in andere Lebensrealitäten einzutauchen, Empathie zu erlernen, aber auch zu erkennen, wo der Perspektiventausch an seine Grenzen kommt, welche Leidenserfahrungen nicht einfach übertragbar sind, wo wir des Kreuzes bedürfen (https://identitaetenlotto.de/ilo-das-spiel/
Autoren
- Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
- Dr. Olivia Rahmsdorf (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500108
EfP unterstützen
Exegese für die Predigt ist ein kostenloses Angebot der Deutschen Bibelgesellschaft. Um dieses und weitere digitale Angebote für Sie entwickeln zu können, freuen wir uns, wenn Sie unsere Arbeit unterstützen, indem Sie für die Bibelverbreitung im Internet spenden.
Entdecken Sie weitere Angebote zur Vertiefung
WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon Bibelkunde