Johannes 1,1-5.9-14(16-18) | Christfest I | 25.12.2024
Einführung in das Johannesevangelium
Das Johannesevangelium ist wie ein Fluss, in dem ein Kind waten und ein Elefant schwimmen kann.
Robert Kysar
Das Evangelium „nach Johannes"
Joh ist wie Mk eine kerygmatische Erzählung vom Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu, d.h. ein Evangelium
Joh enthält eigentümliche Stoffe (Prolog, Abschiedsreden, ausgedehnte Reden und Dialoge Jesu mit Nikodemus, der Samaritanerin oder Pilatus), Erzählungen wie das Weinwunder (Joh 2), Lazarus (Joh 11), die Fußwaschung (Joh 13). Wichtige synoptische Stoffe (z.B. Geburtsgeschichten, Gleichnisse, Bergpredigt, Endzeitrede) fehlen. Die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) ist aus dem Passionskontext an den Anfang umgestellt, der Todesbeschluss des Hohen Rates (Joh 11,45-54) erfolgt ebenfalls schon vor der Passion als Antwort auf die Lazarus-Erweckung. Dies weist auf eine bewusste Umgestaltung der älteren Jesusüberlieferung hin, die auch geschichtliche Sachverhalte in großer Freiheit anders erzählt. Dies zeigt sich auch in der anderen Sprache Jesu, die im Grunde die Sprache aller anderen Figuren und des Autors ist. D.h., auch in Jesu Worten und Reden spricht faktisch der joh Autor.
1. Verfasser
Das „Evangelium nach Johannes“ ist wie alle kanonischen Evangelien anonym überliefert. Die Überschrift ist im 2. Jh. nachgetragen. Traditionell wurde es ab dem späten 2. Jh. dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugeschrieben, der mit der Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ (Joh 13,23) identifiziert wurde. Diese Zuschreibung ist erklärlich, weil man diesen ‚Lieblingsjünger‘ (LJ) mit dem ‚unbekannten‘ zweiten Jünger aus Joh 1,35-40 identifiziert hat und (aufgrund von Mk 1,16-20 oder Apg 3-5
Aufgrund von Stoff, Sprache und erzählerischer Gestalt ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass der galiläische Fischer im hohen Alter das Werk verfasst hat. Und selbst wenn er der Autor wäre, wäre schwer erklärlich, warum es sich von der älteren Tradition so unterscheidet.
Nur das wohl als ‚Nachtrag‘ angefügte Kapitel 21 führt die Abfassung auf den LJ zurück, in Joh 1-20
Schriftzitate und Anspielungen belegen eine gute Kenntnis des AT, das aber höchst selektiv benutzt wird. Analog ist auch für die übrigen Traditionen eine sehr eigenständige Verwendung anzunehmen. Nichts ist nur ‚abgeschrieben‘, Joh 20,30f bezeugt eine bewusste Auswahl des Autors aus den ihm verfügbaren Stoffen. Daraus folgt aber: Die Eigenständigkeit in Stoff und literarischer Ausgestaltung belegt keine ‚Unabhängigkeit‘ von der synoptischen Tradition. Jede Rekonstruktion schriftlicher Quellen (z.B. einer ‚Semeia‘-Quelle mit Wundergeschichten oder eines eigenen Passionsberichtes) ist m.E. unmöglich, doch sind neben den Synoptikern (v.a. Mk) mündliche und schriftliche Gemeindetraditionen anzunehmen, die aber alle eigenständig umgestaltet sind. Der Autor kennt das Mk (wie z.B. die Anspielungen auf die Gethsemane-Episode in 12,27f; 14,31 und 18,11 zeigen) und setzt die Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus (s. 3,24), evtl. kennt er auch Lk oder Stoffe daraus, eine Kenntnis des Mt ist nicht zu belegen. Er ist gleichfalls vertraut mit jüdischen Bräuchen und wohl auch mit Gegebenheiten in Jerusalem. Vielleicht ist er ursprünglich ein Palästiner, der dann im Zuge des jüdischen Krieges nach Kleinasien kam.
2. Adressaten
Das Joh ist wohl in Gemeindekreisen entstanden, die auch in 1-3Joh
Nach den Abschiedsreden erscheinen die Adressaten selbst verunsichert ‚in der Welt‘, so dass Jesu Wort und das ganze Joh im Durchgang durch die Geschichte Jesu eine Antwort darauf bietet. Zugleich ist das Joh nicht nur als konkretes Wort an einen begrenzten, gar ‚sektiererisch‘ abgeschlossenen Gemeindekreis zu lesen, vielmehr zielt es auch auf Lesende in einem weiteren Rahmen, ja auf die Welt der Bücher, wenn es in 1,1 die Genesis überbietend aufnimmt und in 21,25 mit einem Hinweis auf viele Bücher endet.
3. Entstehungsort
Die Herausgabe des Evangeliums wird seit der altkirchlichen Tradition in Ephesus
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die hohe Christologie: Jesus ist der eine Offenbarer Gottes, ja er ist ‚Gott‘. Er gibt Leben, gibt den Geist. Sein Tod ist ‚Vollendung‘ der Schrift und des Willens Gottes (19,30), seine Sendung (ans Kreuz) der Erweis der ‚Liebe‘ Gottes zur Welt (3,16). Auffällig ist die ‚Vergegenwärtigung‘ der Eschatologie
5. Besonderheiten
Das Joh will, dass seine Leser:innen besser und tiefer verstehen. Diesem Ziel dient die literarische Ausgestaltung durch ein eine Vielzahl literarischer Gestaltungsmittel: die Vor-Information durch den Prolog lässt die Leserschaft stets ‚wissender‘ sein als die textlichen Figuren, deren ‚dumme‘ Fragen oft Verwunderung auslösen. Die Wundergeschichten sind durch textliche Verweise so ausgestaltet, dass sie nie nur als Bericht eines vergangenen Ereignisses gelesen werden können, sondern stets auf das Ganze des Heilsgeschehens bezogen sind. Explizite und implizite Erzählerkommentare und Erläuterungen lenken den Blick auf textliche und theologische Bezüge. Narrative Figuren bieten Identifikationsangebote und provozieren durch ihre Ambivalenz zur Stellungnahme. Miteinander vernetzte, z.T. breit symbolisch ausgestaltete Metaphern (wie Wasser, Brot, Hirte, Weinstock, aber auch Geburt, Familie, Tempel, Garten) verstärken das Wirkungspotential des Textes und laden die Lesenden ein, ihn „zu bewohnen“ (Ricœur). Als subtiler literarischer Text spiegelt das Joh nicht nur die hohe Kunst seines Autors, sondern wurde selbst zur Weltliteratur.
6. Der Johannesprolog
Der Johannesprolog (Joh 1,1-18) ist einer der wirkungsvollsten Texte der Weltliteratur. Die Worte In principio erat verbum zieren Christus- und Johannes-Ikonen und die Einbände von Prachtbibeln. Das uranfängliche Wort wurde Chiffre des Wortes Gottes überhaupt, und die Rede von der Fleischwerdung dieses Wortes zum Grundmodell der Christologie (Zwei-Naturen-Lehre), wobei dann diskutiert werden musste, ob der Logos nur menschliches Fleisch oder einen ganzen Menschen (Leib und Seele) ‚angenommen‘ hat und wie diese Vereinigung dann vorgestellt werden konnte (Chalcedon). Goethe lässt seinen Faust auf der Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, den Anfang des Prologs zitieren, wo er dann das Wort „Logos“ erst mit „Wort“, dann mit „Sinn“, „Kraft“ und „Tat“ übersetzt und sich für „Tat“ entscheidet , für den ‚promethisch‘ schaffenden Menschen, gegen das Verständnis einer vom Schöpfer abhängigen, auf sein Wort hörenden Existenz.
Obwohl Joh 1,1-18 bei antiken Autoren und in Handschriften kaum als zusammenhängende Einheit betrachtet wurde, da man in V. 15, 17 oder 18 einen Neueinsatz sah, gilt der Johannesprolog heute als ein abgerundeter Text, gerahmt durch θεός (V. 1.18), strukturiert durch ὁ λόγος (V. 1.14) und μονογενής (V. 14.18). Der Logos ist auch in V. 3f.9–12.16 Subjekt bzw. durch Pronomina repräsentiert. Der Name Jesus Christus begegnet hingegen erst in V. 17.
„Prolog“ ist auch in antiker Literatur und im Theater ein Terminus für eine Einleitung in ein Werk. Den Lesern/Hörern wird etwas vorab zur Verfügung gestellt, was zum Verständnis des Werkes nötig ist. Der Johannesprolog bietet weder die Vorgeschichte der joh Erzählung noch eine Zusammenfassung ihrer Themen oder Motive. Er redet in der Sprache des Mythos vom „Anfang“ Jesu Christi „bei Gott“ – und doch ist er kein Mythos, keine ‚Göttergeschichte‘, die „niemals war und immer ist“ – sondern thematisiert spätestens in V. 14 ein geschichtliches Geschehen. Der Prolog ist poetisch, doch nicht im Sinne griechischer Poesie, eher im Sinne der Psalmen. In Terminologie und Stil hebt er sich von der in 1,19 beginnenden Erzählung ab. Doch unterbrechen die V. 6–8.15, die von Johannes dem Täufer reden, auch stilistisch den Duktus. Wie ist dieses Zusammenspiel und die eigenartige Textgestalt zu begreifen?
Seit Anfang des 20. Jh.s wurde vermutet, dass der Evangelist einen ‘Logoshymnus’ übernommen, durch die Ergänzungen V. 6–8.15 u.a. polemisch gegen Täuferjünger gewendet (V. 7: Der Täufer war „nicht das Licht“) und mit dem ‚ursprünglichen‘ Evangelienanfang verzahnt hätte (Bultmann u.v.a.). Für den Hymnus wurden vielerlei verschiedene Abgrenzungen und strophische Gliederungen vorgeschlagen. Doch gibt es für solche unabhängige Existenz dieses Textes keinen Beleg. Alternativ kann man den Prolog als einen am Ende dem (nahezu abgeschlossenen) Evangelium vorangestellten Text sehen. Dann ist der Text als Einheit zu lesen, die drei verschiedene ‚Anfänge‘ Jesu (V. 1.6.14) zusammenbindet und provokant den Gedanken der Fleischwerdung des Logos dem Beginn der Narration des Evangeliums voranstellt.
Insofern ist der Prolog des Joh eine ‚Leseanleitung‘, ein ‚Schlüssel‘ zur Lektüre der 1,19 beginnenden Erzählung. Er ist ein einführender ‚Metatext‘ zum Evangelium, der in anderer Terminologie („Logos“) das Folgende in einen Horizont stellt. Die Leserschaft des Evangeliums ist durch ihn informiert über die ‚wahre‘ Herkunft Jesu, während die Figuren im Text, auch die Jünger Jesu, dies noch nicht verstehen. So trägt der Prolog zur Dynamik der Lektüre bei. Die Lesenden wissen schon mehr und können das (Miss-)Verstehen der Personen, die Jesus begegnen, ermessen und selbst zum besseren Verstehen kommen.
Das Johannesevangelium greift mit seinem Anfang weit hinter die anderen Evangelienanfänge zurück, es verweist auf den Anfang der Schriften (Gen 1,1) bzw. noch hinter diesen, auf ein Sein (ἦν: V. 1–2) Gottes, in dem das Heil gründet, die Sendung Jesu (Joh 3,16), ja der Gesandte, der „Sohn Gottes“ selbst. Er, der „eins mit dem Vater“ ist (Joh 10,30), ist das uranfängliche Wort, das „bei Gott“, ja „Gott“ war.
Die Frage stellt sich, ab wann sachlich von Jesus und seinem (irdischen) Wirken die Rede ist: Erst ab V. 14 (Fleischwerdung), oder schon ab V. 9 (Kommen in die Welt) und 12 (Glauben an seinen Namen), oder gar schon in V. 5 („das Licht scheint“ / „die Finsternis hat es nicht ergriffen“ als rückblickende Zusammenfassung auf Passion und Ostern). Traditionell hat man im Prolog eine temporale Abfolge gesehen: vom Wirken des Logos (vor und bei) der Schöpfung (V. 1–5) über sein Wirken „in der Welt“ (in allen Menschen / der Vernunft oder in der alttestamentlichen Geschichte) als dem logos asarkos bis zum Wirken als Fleischgewordener (logos ensarkos). Daraus wurden weitreichende theologische Folgerungen gezogen über das Verhältnis zwischen der allgemeinen (in der Schöpfung gegebenen) Vernunft und der (Christus-)Offenbarung oder auch zwischen dem im AT ‚vorauslaufenden‘ Wirken des Logos (z.B. in der Sinaioffenbarung, in den Propheten etc.) und dem Wirken in Jesus Christus.
Der Johannesprolog ist von unterschiedlichen biblischen Horizonten geprägt. Am Anfang steht die Tradition der Schöpfung durch das Wort (1,1–4), in der Rede von der Schau der ‚Herrlichkeit‘ (V. 14) und von ‚Gnade und Wahrheit‘ (V. 14.16) sind Elemente der Sinaitradition aufgenommen, und in der Rede vom Logos, seinem göttlichen Ursprung, seiner Wirksamkeit und seinem „Zelten“ klingt die Weisheitstradition nach. Die Gegenüberstellung von Mose und Jesus Christus ist nicht als Kontrast, aber doch als überbietende Weiterführung konzipiert: In Jesu Weg und Geschick ist das Wesen des unsichtbaren Gottes manifest, offenbar geworden. Mit der Rede vom Logos am Anfang spielt der Prolog zugleich an antike Diskurse an. Das Konzept der Fleischwerdung ist dabei für jüdische wie für griechisch-römische Rezipienten gleichermaßen sperrig.
Mit dem Gedanken der Präexistenz und Mit-Schöpferschaft des Logos bzw. Christi steht der Johannesprolog jeder Trennung von Schöpfer und Erlöser bzw. Schöpfung und Erlösung strikt entgegen. Spätere platonische oder gnostisierende Ausleger haben diese Einheit aufgebrochen. Mit seiner Betonung der „Fleisch“-Werdung des göttlichen Wortes ist einem ‚Doketismus‘ oder einer Infragestellung der wirklichen und vollen Menschheit Jesu Christi gleichfalls ein Riegel vorgeschoben. Insofern bietet der Johannesprolog sachlich entscheidendes Material zur der späteren Christologie der Zwei-Naturen.
Literatur:
- Meyers KEK: Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016; C.K:Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Üs. H. Balz (KEK Sonderband), Göttingen 1991.
- Martin Hengel, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993.
- Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften 1, WUNT 307, Tübingen 2013: https://www.mohrsiebeck.com/buch/die-herrlichkeit-des-gekreuzigten-9783161527968?no_cache=1
- Francis Moloney, The Gospel According to John, Sacra Pagina 4, Collegeville MN 1998; Marianne Meye Thompson, John: A Commentary, NTL, Louisville KN 2015.
A) Exegese kompakt: Joh 1,1-5.9-14(16-18)
Wo gründet das Heil, das das Evangelium zusagt und das am Christfest gefeiert wird? Nicht in der wechselvollen Geschichte, sondern im Uranfang, bei Gott, in seinem liebenden Willen!
Übersetzung
(1) Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos. (2) Dieser war im Anfang bei Gott. (3) Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn ist auch nicht eines geworden, das ist. (4) In ihm war (das) Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. (5) Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht überwältigt.
… (9) Er war das wahrhaftige Licht, das jeden Menschen erleuchtet, bei seinem Kommen in die Welt. (10) In der Welt war er, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt hat ihn nicht erkannt. (11) In sein Eigentum kam er, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. (12) So viele ihn aber aufnahmen, gab er ihnen die Vollmacht, Gottes Kinder zu werden, (denen,) die an seinen Namen glauben, (13) die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind.
(14) Und (Er,) der Logos wurde Fleisch und nahm Wohnung unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, Herrlichkeit als des Einzigen vom Vater voller Gnade und Wahrheit. …
[(16) Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade um Gnade. (17) Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden. (18) Gott hat niemand je gesehen. Der Einzige, der Gott ist, der im Schoß des Vaters ist, Er hat [ihn] verkündet.]
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 1 ὁ λόγος (traditionell: „das Wort“) hat ein breites Bedeutungsspektrum, es kann das Schöpferwort Gottes (Gen 1) oder auch die Tora meinen, aber auch Vernunft o.ä.; in der Weisheit wird es mit der Weisheit Gottes austauschbar; bei Philo ist der λόγος personal als Mittlerwesen, ja „zweiter Gott“. λόγος hat in der griechischen Philosophie von Heraklit bis zur Stoa eine breite Bedeutung, das Weltdurchwaltende, die Verbindung von Makro- und Mikrokosmos.
V. 1 πρὸς τὸν θεόν = „bei“ Gott, eigentlich „auf Gott hin“, ihm zugewandt.
V. 3–4: Die Frage, ob ὃ γέγονεν nachklappend zum Vorigen („nicht eines von dem, was [geworden] ist“) oder zum Folgenden („Was ist, in ihm war Leben“ oder „Was ist, in ihm war er das Leben“) zu ziehen ist, ist textkritisch nicht zu entscheiden, da es nur um Satzzeichen geht, die in den meisten alten Texten fehlen und die ersten Rezeptionen (bei dem Valentinianer Herakleon) bereits Interpretation sein können. Die Zeichensetzung in Nestle-Aland 28 ist daher abzulehnen.
V. 5 οὐ κατέλαβεν „nicht ergriffen“ – wohl nicht im intellektuellen Sinn („nicht begriffen“, „nicht aufgenommen“), sondern im Sinne des „Sich Bemächtigen“, „Überwältigen“: Die Finsternis hat das Licht nicht auslöschen können (im Tod Jesu) – es scheint (jetzt, seit Ostern).
V. 9 ἐρχόμενον εἰς τὸν κόσμον ist in seinem Bezug unklar. Ist es auf „jeden Menschen“ bezogen, d.h., der Logos erleuchtet „jeden Menschen, der in die Welt kommt (= geboren wird)“? Dann wäre die Erleuchtung eines jeden mit der Vernunft gemeint. Oder ist es auf den Logos bezogen, „bei seinem Kommen in die Welt“, dann ist eine Erleuchtung durch das Kommen des Logos/Christi gemeint.
V. 11 τὰ ἴδια = seine Eigenen – damit sind nicht einfach alle Menschen gemeint, sondern eher speziell das „Eigentumsvolk“ (vgl. Ex 19,5), bzw. „die Juden“ (Joh 2–12) während mit „die Welt“ (V. 10) auf die Abschnitte Bezug genommen ist, in denen die Welt Gegner der Glaubenden ist (Joh 13-17).
V. 13 ἐγεννήθησαν. Die Plural-Lesart zielt auf die Gotteskinder, die stark bezeugte Singular-Lesart bietet einen Bezug auf Jesus, der „aus Gott geboren“ ist. Doch ist das wohl eine spätere Veränderung aus christologischem Interesse.
V. 14 ἐσκήνωσεν „zeltete“ – nicht im Sinne von nur kurzzeitigem Aufenthalt, sondern im Sinn eines dauernden Wohnung-Nehmens. Im Hintergrund steht die Rede vom Wohnung-Nehmen der atl. personifizierten Weisheit (Sir 24).
V. 14.18 μονογενής „der einzige“ (nicht: „einziggeborene“ oder gar „eingeborene“): es geht um den Einzigen seiner Art (γένος), nicht um die Rede vom Geborenwerden (γεννάω mit zwei νν). Das Wort hat mit der Geburt Jesu nichts zu tun – erst später wird es auf die ‚ewige‘ Zeugung des Logos „aus dem Vater vor aller Zeit“ (Nicänum) bezogen.
2. Beobachtungen zur literarischen Gestaltung und ihrer Bedeutung
Der Zuschnitt der Perikope setzt exegetische Entscheidungen voraus. Die auf den Täufer bezogenen V. 6–8.15 sind ausgelassen, V. 14 wird als Höhepunkt, V. 16–18 als ggf. verzichtbar angesehen. Durch die Weglassung von V. 6–8 wird auch der Bezug von V. 9–11 unklar. Diese sind aber im (Rück-)Blick auf die Jesusgeschichte zu lesen.
In der Zuordnung des Textes zum Christfest sind im Folgenden selektiv Schwerpunkte zu setzen:
- Literarisch bilden V. 1–5 eine Satzreihe, die im „Uranfang“ beginnt und in die Gegenwart zielt: Jetzt „scheint“ das Licht in der Finsternis, es ist da, die Finsternis konnte es nicht auslöschen (V. 5). Auch V. 9 spricht von dem Inkarnierten als „dem wahren Licht“ (vgl. Joh 8,12), das mit seinem Kommen die Menschen ins Licht bringt. Auch die zweite Satzreihe, die V. 6 mit Johannes dem Täufer beginnt, mündet in V. 12–13 in die Gegenwart des Glaubens und der Gotteskinder. Die dritte Satzreihe von V. 14–18 bewegt sich ganz in der Gegenwart der Zeugen. Der Johannesprolog will nicht eine mythologische Vorgeschichte bieten, sondern interpretiert das Christusgeschehen für das Jetzt.
- „Im Anfang“ knüpft an den Anfang der Bibel (Gen 1,1) an, geht aber hinter diesen zurück: Im Anfang „war“ (Imperfekt), bevor „alles wurde“ (V. 3: Aorist), das „ist“. Hier wird mythologisch geredet: der Logos war „auf Gott hin“ (V. 1), wie am Ende der Inkarnierte, der „Einzige“, Jesus Christus, als Erhöhter „im Schoß des Vaters“ ist (V. 18). Der irdische Jesus, der Gekreuzigte, Auferstandene und Erhöhte ist der, der von Anfang an engstens mit Gott verbunden ist, ja sein ‚ewiges‘ und gültiges Wort ist.
- V. 10–11 sprechen im zusammenfassenden Rückblick von Jesu Kommen in die „Welt“ bzw. zu Israel. Für beide wird gleichermaßen die Ablehnung als die ‚normale‘ Reaktion konstatiert, während Glaube nach V. 12 die Ausnahme, das Wunder ist.
- V. 14 bietet einen Neueinsatz, auf V. 1 zurückbezogen (erstmals wieder λόγος); mit σάρξ ἐγένετο wird der größtmögliche Kontrast zu V. 1 θεὸς ἦν eröffnet. Dabei meint ἐγένετο nicht nur eine zeitlich begrenzte Erscheinung oder Metamorphose, sondern eine reale, dauerhafte Veränderung. Der Logos wird bleibend zu etwas, das er vorher nicht war. Inkarnation ist das Eingehen Gottes in die menschliche Geschichte. In Jesus, im Gekreuzigten und Auferstandenen bleibt er von der Geschichte gezeichnet. An den Wundmalen erkennt Thomas Jesus als „mein Gott“. - Der Schluss des Johannesprologs V. 18 bietet den Zielpunkt: In dem Fleischgewordenen, in Jesus Christus, dem „Einzigen vom Vater, der Gott ist“, in seinem ganzen Weg, der im Folgenden erzählt wird, hat sich der unsichtbare Gott gültig offenbart: als der den Menschen in Liebe zugewandte Gott (Joh 3,16), als „die Liebe“ (1 Joh 4,8f.). Das eine Bild dieses Gottes ist – Jesus Christus.
3. Traditionsgeschichtlicher Kontext und historische Einordnung
Gegenstand des Textes ist zunächst der Logos (in V. 3–4.9-12.16 durch Pronomina bezeichnet), λόγος wird meist trotz der Bedeutungsbreite als ‚Wort‘ übersetzt und auf das Schöpfungswort in Gen 1 (vgl. Ps 33,6; Weish 9,1; 4 Esra 6,38) bezogen (und zugleich auf andere Formen des Wortes Gottes: die Tora, das in der Geschichte wirksame Wort (Jes 55,11) etc.). Wesentlich ist der Bezug zur Weisheit, die schon im AT in personaler Gestalt begegnet: Die Identifikation von (personifizierter) Weisheit (Spr. 8,22–31) und Logos begegnet in Weish 9,1–2; nach Sir 24 ist die Weisheit himmlischen Ursprungs, ja aus dem Munde Gottes, sie ist in die Welt gesandt, hat Wohnung („Zelt“) genommen in Zion, in Israel. Für Philo ist der λόγος ‚personifiziert‘, als „Erstgeborener“, „zweiter Gott“ und Mittler zwischen Gott und Welt, mit kosmologischer und anthropologischer Funktion. Auch in der späteren jüdischen (targumischen) Tradition kann das Wort (‚memra‘) personifiziert sein und den Gottesnamen repräsentieren. Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass der Logos in der griech. Philosophie seit Heraklit und v.a. in der Stoa breite Bedeutung hat als die göttliche Substanz, die das All durchdringt und den menschlichen Verstand mit dem Göttlichen verbindet und zum Guten führt. Die Logos-Konzeption des Prologs basiert zwar auf atl.-jüdischen Traditionen, löst aber auch Resonanzen aus bei einer Leserschaft, die von griechischem Denken geprägt ist.
Das „Wohnen“ des Logos „unter uns“ greift die Rede von der Einwohnung (Zelten) der Weisheit in Israel (Sir 24,8.11) auf und damit auf die Motivik der Einwohnung des göttlichen kavod, des Lichtglanzes (= „Herrlichkeit“) im Zelt der Begegnung (Ex 25,8; 29,45f.) oder die Hoffnung auf das eschatologische Einwohnen Gottes in seiner Herrlichkeit (Sach 2,14f.; 8,3; Joel 4,17.21; vgl. Offb 21,3). Die abstrakte Rede von der Fleischwerdung wird so durch ein biblisches Bild veranschaulicht. Im Fleischgewordenen hat der göttliche Logos unter den Menschen bleibend Wohnung genommen. Hier will er sein.
„Gnade und Wahrheit“ (V. 14.16) sind nicht neu in Jesus, sie sind schon in Ex 34,6 Teil von Gottes Wesen. Neu ist in der Jesusgeschichte, dass sich diese „Gnade und Wahrheit“ darin gültig manifestiert, dass Gott sich hier unzweideutig als zugewandt und treu zeigt. Auch V. 17 bietet keinen Gegensatz zwischen alt und neu: was in der Tora gesagt war, hat sich nun geschichtlich gezeigt. Der unsichtbare Gott hat sich in der Geschichte Jesu offenbart.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Der Logos ist nach V. 1–2 präexistent, vor der Schöpfung. Nach V. 3f. ist er Mit-Schöpfer. Nichts ist ohne ihn und seine Mitwirkung entstanden. D.h. der Erlöser ist der Schöpfer, und der Schöpfer ist der Erlöser. Die Welt ist nicht negativ, von einer untergeordneten oder gar bösen Macht gefertigt, sondern von Gott selbst und seinem Logos. Erlösung erfolgt durch den, der die Welt gemacht hat, sie ist nicht Erlösung von der Welt, sondern Erlösung der von Gott geschaffenen Welt. Der Johannesprolog ist nicht weltnegativ, sondern eminent positiv.
Inkarnation – die „Fleischwerdung“ des göttlichen Wortes (oder gar eine ‚Menschwerdung‘ Gottes) sprengt sowohl atl.-jüdisches wie griechisches Denken. Der biblische Gott ist von seinen Geschöpfen strikt unterschieden, er wird nicht Mensch. Auch griechische Götter, die ‚Unsterblichen‘, wie Zeus, erscheinen, verwandeln sich temporär, z.B. um sich einer Frau zu nähern – aber sie werden nicht Fleisch, Mensch, sterblich. Der Prolog formuliert provokant etwas ‚Undenkbares‘, und der joh Autor weiß um diese Provokation.
„Wir sahen seine Herrlichkeit“ formuliert ein Paradox. Gemeint ist nicht, dass an Jesus mit physischen Augen ein Lichtglanz, eine besondere Macht o.ä. sichtbar gewesen wäre. Gesehen wurde und wird mit den Augen des Glaubens. Die Herrlichkeit an Jesus haben auch seine Jünger erst nach Ostern und angesichts seines ‚unherrlichen‘ Todes gesehen. Das Paradox von Fleisch und Glanz wird nur unwesentlich erleichtert durch das Motiv der Schechina „und wohnte unter uns“. Gottes Glanz wohnt in dem wahren Menschen Jesus und ist in ihm unter uns gegenwärtig.
5. Kurzcharakteristik des Textes
Der Text verankert das Heil der Welt im Uranfang, jenseits der Wechselfälle irdischer Geschichte und menschlichen Handelns – im liebenden Gedanken Gottes, in der Präexistenz. Nicht kosmologische Spekulation (die ab dem 2. Jh. die Leser interessiert hat) ist sein Anliegen, sondern Begründung der Gottheit Jesu und Sicherung der Gültigkeit des in ihm gewirkten Heils.
Wann erfolgte die ‚Fleischwerdung‘ des Wortes? Joh 1,14 ist weder auf die Geburt Jesu noch auf seine Zeugung / Verkündigung bezogen, beides ist im Joh unwichtig. Die Rede von der „Fleischwerdung“ des Wortes erfasst den „Anfang“ Jesu in einer anderen, übergreifenden Dimension, der Einwohnung Gottes unter den Menschen. Erst im 2. Jh. wurden die Texte aus Mt und Lk mit dem Gedanken des Fleisches, der Fleischwerdung verbunden. Ist der „einzige“ (μονογενής) im Joh noch als der einzige Sohn des Vaters (vgl. Joh 3,16.18) verstanden, wird das Wort später auf das ewige Hervorgehen (‚Zeugung‘) des Logos aus dem Vater bezogen (Nicänum: „gezeugt, nicht geschaffen, aus dem Vater geboren vor aller Zeit“).
Als Text an Weihnachten stellt der Prolog das Geschehen der Geburt Christi in einen denkbar großen, universalen Horizont. Es geht nicht um Krippe und Familienromantik, sondern um das Eingehen Gottes in die menschliche Welt und Geschichte, um seine uranfängliche Intention, seinen Liebeswillen, den das Evangelium bezeugt und der in Jesu Menschwerdung und Kreuz manifest wurde. Es geht um das Licht, das definitiv scheint und die Finsternis erhellt.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Zielpunkt des Prologs ist die Fleischwerdung, die Offenbarung, das Konkret-Werden Gottes in der Welt, das macht mir die Exegese klar. Doch die poetische Sprache, die philosophisch-abstrakte, fast kreisförmige Rede des Prologes, die universalen Begrifflichkeiten: Logos, Anfang, Leben, Licht, Finsternis, Gnade, Wahrheit erschweren mitunter dieses Fleischwerden, das Konkretwerden Gottes in der Predigt. Man muss den weiteren Verlauf der Erzählung, Jesu Geschichte immer schon im Blick haben. Sonst ist man versucht, sich in kosmologisch-philosophische Debatten zu flüchten oder über die Geburt des Gottessohnes vor langer Zeit in einem fernen Land zu romantisieren. Die Exegese schiebt der homiletischen Flucht in die Abstraktion oder in die Fiktion einen Riegel vor. Weihnachten heißt, sich mit Gottes Gegenwart in der Gegenwart auseinanderzusetzen. Aber Moment! Zugleich betont die Exegese doch auch, dass unser Heil eben nicht in der wechselvollen Geschichte gründet, sondern uranfänglich im Willen Gottes verankert ist. Beides zusammen-zudenken: das Gerade-Jetzt und das Immer-Schon ist die homiletische Herausforderung. Weihnachtspredigende können davon ein Lied singen, zwischen Alle-Jahre-Wieder und Dies-ist-die-Nacht (EG 40). Neu ist für mich die Interpretation des Wohnungnehmens (V.14). Bislang habe ich das Zelten vornehmlich unter dem Vorläufigkeitsaspekt gedeutet. Die Exegese macht aber deutlich, dass das Zelten zielgerichtet und auf Dauer angelegt ist. Das befähigt uns, Gottes Beweglichkeit mit seiner Verlässlichkeit zusammenzudenken. Spannend finde ich auch die nüchterne Perspektivierung: Glaube ist Ausnahme, Ablehnung die Norm.
2. Thematische Fokussierung
Der Prolog schafft bei jedem Lesegang Neues. Er redet nicht bloß über das Werden und Entstehen, über Licht und Leben. Er lässt entstehen, er bringt Licht, er ist lebendig. Der Prolog ist durch und durch performative Rede. Das ist Fluch und Segen. Er lässt sich nicht festschreiben. Er zeltet, ist beweglich. Man verzettelt sich leicht. Wo und wie kriegt man ihn zu fassen?
Besonders erfasst hat mich – durch die exegetische Aufschlüsselung – die enge Zusammenbindung von Schöpfung und Erlösung. Aber auch die Einsicht, dass wir oft so wenig von der schöpferischen Weisheit und der liebenden Zuwendung Gottes in den Dingen dieser Welt erkennen. Der Prolog stellt uns eine Sehhilfe zur Seite: Schaut auf Jesus Christus. Er weiß den Schöpferwillen, er war und ist aktiver Teil des Schöpfungsgeschehens. Er trägt den Schöpfungswillen in die Welt hinein und begegnet damit Mensch und Tier und Ding, lädt in die Gotteskindschaft ein. Wie verändern sich dadurch seine Begegnungen? In jeder Kreatur, in allem, was ist, ob es uns nützlich, erfreulich, lebensdienlich oder störend, ordnungswidrig, gar bösartig erscheint, lässt er einerseits Gottes Schöpfungsweisheit und andererseits den göttlichen Erlösungswille aufscheinen. Im Sündhaften, im Fremdartigen, im begriffsstutzigen Schriftgelehrten, im vom Leben Versehrten, im verbitterten Streit, im unverständigen Jünger, im schlechten Wein, im baufälligen Tempel, im falschen Urteil, im Tod. Das soll nicht zum naturalistischen Fehlschluss hinreißen lassen: wie es ist, so soll es sein, so ist es richtig. Das sei ferne! Aber Jesus ist ein lebendiger Hinweis darauf, dass selbst dort, wo es nach unserem Ermessen katastrophal schiefläuft, die Schöpfungsweisheit und der Heilswille schon wirksam sind. Christus ist gekommen, um sichtbar zu machen: Selbst im Tod ist schon das Leben angelegt. In jedem Problem steckt bereits seine (Er-)Lösung.
3. Theologische Aktualisierung
Dieses rundheraus positive Weltverständnis liegt (nicht nur) manchem Christenmenschen (aufgrund der Erbsündenlehre) fern. Wie erwähnt: Ablehnung ist die Norm. Wer will in den Putins, Erdoǧans und Orbáns dieser Welt Gottes Schöpfungsweisheit aufleuchten sehen? Wer will schon das ganz andere als gewollt anerkennen? Wer möchte im Fehlurteil Erlösungschancen erahnen? Wer will in den vielen Konflikten und Krisen der Welt Gottes Allwissenheit erkennen? Mit ehrlichem Blick auf die Welt sehen wir die schlimmen Verkeilungen. Im Nahost-Konflikt, im Ukraine-Krieg, in den vielen Bürgerkriegsländern dieser Welt, deren Namen uns schon gar nicht mehr einfallen, weil der Krieg so lange tobt. Es gibt diese unüberwindbaren Gräben zwischen den Generationen, zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Privilegierten und Marginalisierten. Wir können das demografische Problem nicht wegdiskutieren, nicht den Fachkräftemangel, nicht die Rentenkatastrophe, nicht die Vereinsamung. Wir haben keinen wasserdichten Plan für den Umgang mit der Klimakrise. Wir können den Rückgang landeskirchlicher Strukturen nicht schönreden. Wir resignieren vor der Hartnäckigkeit struktureller Benachteiligungen. Auf die systemische Wunderfrage kann mit Blick auf universale Probleme kaum noch jemand eine Antwort geben: „Angenommen, es würde in der kommenden Nacht ein Wunder geschehen. Am kommenden Morgen wäre das Problem gelöst oder verschwunden: Woran würden Sie dieses Wunder zuerst bemerken?“ An Wunder zu glauben, fällt für manchen schon unter die Kategorie ‚toxische Positivität‘. Was der Prolog und das Wirken Jesu als Schöpfungsmittler uns nahelegt, ist aber weder eine verklärende „Alles ist gut“– noch eine überhebliche Weltüberwinder-Haltung. Vielleicht helfen dazu Alltagsexerzitien. Bei jeder nervigen Begegnung der Gedankenversuch: Den/die hat Gott genau so gewollt. Bei jedem unlösbaren Problem, die Haltung: Da steckt die (Er-)Lösung schon drin. Beide Fragen lassen etwas aufscheinen, was uns nicht unmittelbar einleuchtet. Eben dafür brauchen wir den Logos als Licht für die Welt. Wie verändert sich damit die Beziehung zum Gegenüber und zu den täglichen Anforderungen und Anfechtungen?
4. Bezug zum Kirchenjahr
Der Prolog spricht mitten in die Feiertagsdysphorie hinein. So viel Anspruch, so viel Enttäuschung rund um das Weihnachtsfest. War das nicht alles besser gedacht? Das könnte man den Schöpfer auch fragen. Und weil sich diese Frage in unserem Leben immer wieder stellt, kommt Christus zur Welt. Die Feiertage leiten die Zeit zwischen den Jahren ein. Eine Zeit des Rückblicks, des Abrechnens, des Innehaltens, des Neuordnens. Dabei hilft der Gedanke: Der Schöpfungswille Gottes ist zwar uranfänglich festgesetzt, durchlebt aber auch Wogen der Veränderung. Die liebende Zuwendung bleibt verlässlicher Anker, ihre Ausgestaltung ist dynamisch, sonst hätte sie wenig mit Liebe zu tun. Gott ist in der Beziehung zu uns beweglich. Auch wir können uns und unseren Überzeugungen und unserem Glauben treu bleiben und trotzdem Dinge grundlegend neuordnen, Tempel abreißen, Zelte neuaufbauen, Traditionen abbrechen, an der Liebe festhalten. In jedem Gegenüber steckt Gottes Kreativität, in jeder Anforderung der göttliche (Er-)Lösungsansatz. Werden die Feiertagsbesuche und die Jahresplanung damit liebevoller?
V. 2 von Psalm 96 gibt uns den Auftrag: „Verkündet von Tag zu Tag sein Heil.“ In jedem Bruchstück ein heiles Teil, in jedem Tag ein Moment Ewigkeit. Es muss nicht immer der große Wurf, die universale Lösung sein. Die ist schon ohne uns in allem angelegt. „Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems“ ruft die AT-Lesung aus Jesaja 52 mitten in die Trümmerlandschaft des Heiligen Landes hinein. Nicht um zu bagatellisieren, nicht um Leid zu ignorieren, sondern um in der Ausweglosigkeit einen Anfang zu setzen.
Als Halleluja-Gesang bietet sich EG+52 Du bist heilig, du bringst Heil („…bist die Fülle, wir ein Teil, der Geschichte, die du webst, Gott wir danken dir du lebst.“). Als Kyrie-Gesang EG 584 Meine engen Grenzen. Das Licht-Thema ist in EG 40 Dies ist die Nacht schön umgesetzt. Die enge Verknüpfung von Schöpfung und Erlösung wird in EG 199 Gott hat das erste Wort ohne viele Schnörkel besungen.
5. Anregungen
Christian Uetz nimmt in seinem Album: Live im Schiffbauch (Im Anfang war das Wort Pt. I) die kreisförmige Rede des Prologs wunderbar aufs Korn. Er hebt an: „Im Anfang war das Wort und das Wort war das Wort und das Wort war das Wort und dieses war im Anfang das Wort. Durch dieses ist alles gewortet worden, was gewortet worden ist. Und ohne es ist nicht eines gewortet worden, was gewortet worden ist.“ Mir hat diese Einspieler schon als Predigtauflockerung gedient. Es fängt die erste Orientierungslosigkeit nach dem Hören des Schriftwortes humorvoll auf.
Man könnte auch damit beginnen, was alle Welt, Wissenschaft und Werbung gern an den Anfang setzt: Im Anfang war der Wasserstoff, heißt der Bestseller von Hoimar von Ditfurth. Im Anfang war das Gefühl, betitelt der Neurowissenschaftler Antonio Damasio sein Buch über die Entstehung der menschlichen Zivilisation. Im Anfang war der Mord, so nennt Elisabeth Georg ihre Kriminal-Kurzgeschichtensammlung. Im Anfang war das Feuer, trällern die Zillertaler Schürzenjäger. Im Anfang war die Rebe, wirbt ein Winzer. Was setzen wir an den Anfang unseres kommenden Jahres? Was soll unser Vorzeichen sein?
Oder wie wäre es, wenn man das Predigtschreiben mal mit dem letzten Satz der Predigt beginnt? Was macht das für den Predigtprozess aus, wenn wir nicht mit dem Problem, sondern der (Er-)Lösung beginnen? Oder was passiert, wenn wir die Predigt selbst mit „Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft…“ beginnen?
Autoren
- Prof. Dr. Jörg Frey (Einführung und Exegese)
- Dr. Olivia Rahmsdorf (Praktisch-theologische Resonanzen)
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