Deutsche Bibelgesellschaft

Christologische Hoheitstitel

Für die Christologie der Schriften des Neuen Testaments ist charakteristisch, dass Aussagen über Jesus zugleich immer Aussagen sind, die von seiner Bedeutung für die Christen sprechen. Viele der im NT überlieferten Bekenntnisse bezeichnen Jesus mit Titeln, in denen die Christologie der frühen Christen wie mit einem Brennspiegel zusammengefasst ist. Diese Titel werden als christologische Hoheitstitel bezeichnet.

Fast alle dieser Titel stammen aus der biblisch-jüdischen Tradition. Die Verwendung im Neuen Testament zeigt, dass die Christen diese Tradition mit großer Souveränität benutzt haben. Häufig werden mit einzelnen Titeln Vorstellungen verbunden, die ursprünglich aus anderen Traditionszusammenhängen stammen. Den Anstoß zu dieser Kombination verschiedener Traditionen gab offensichtlich die Tatsache, dass gerade Jesus mit seinem besonderen Geschick mit diesen Titeln bezeichnet wurde.

Ob Jesus selbst in seiner Verkündigung christologische Hoheitstitel verwandt bzw. auf sich bezogen hat, ist eine in der Forschung viel diskutierte Frage. Sie wird meist negativ beantwortet. Ein anderes Problem ist, ob seine Anhänger bereits zu seinen Lebzeiten durch Hoheitstitel ausgedrückte (quasi messianische) Hoffnungen auf ihn setzten. Diese Annahme kann angesichts der Anklage des politischen Aufruhrs, die zur Kreuzigung führte, zumindest nicht pauschal verneint werden. Über mehr oder minder begründete Hypothesen wird man in beiden Fällen ohnehin nicht hinauskommen.

Die Darstellung aller christologischen Hoheitstitel ist im Rahmen dieser Bibelkunde nicht möglich. Nur die wichtigsten sollen hier besprochen werden.

Messias/Christus

Der Titel „Christus“ begegnet im Neuen Testament häufig in der Form Jesus Christus, d. h. er ist zum Beinamen geworden. Diese Entwicklung dürfte auf die griechisch sprechende Gemeinde zurückgehen. Der titulare Charakter blieb aber im Bewusstsein. Das zeigen insbesondere die Evangelien, die Namen und Titel häufig getrennt verwenden.

„Christus“ (χριστός/christos) ist die griechische Übersetzung des aramäischen „Messias“ (יחשׁמ/māšiah). Beide Worte bedeuten „der Gesalbte“. Ursprünglich ist das eine Art Ehrentitel, mit dem im Alten Testament der König bzw. der Hohepriester bezeichnet werden konnten, die bei ihrer Amtseinführung mit Öl gesalbt wurden.

In nachexilischer Zeit entwickelt sich „Messias“ zu einem Titel für Personen, auf die man eschatologische Befreiungshoffnungen setzte. In der frühjüdischen Tradition zur Zeit Jesu gibt es eine große Anzahl von Belegen für die lebendige Hoffnung auf einen Messias. Dabei handelt es sich immer um einen Menschen und irdischen Herrscher, der häufig die idealtypischen Züge Davids trägt. Von seiner Herrschaft erwartet man ein Reich des Friedens, der Treue zur Tora und der Gerechtigkeit. Er soll die Fremdherrschaft über Israel beenden und die Zerstreuten zurückführen.

Die entscheidende Innovation der frühen Christen bestand darin, dass sie den Christus-Titel mit Jesu Tod und Auferstehung verbunden haben. Das wurde möglich, weil sie mit Hilfe von Ps 110,1 die erfahrene Auferstehung Jesu als Einsetzung in das himmlische Königsamt deuteten (Apg 2,33-36; vgl. Röm 1,3f.). Daran anknüpfend konnte die Parusie dann als Aufrichtung dieser Königsherrschaft auf Erden verstanden werden (vgl. vor allem Apk). Andererseits interpretierten sie Jesu Tod soteriologisch als Sühnetod und verknüpften so die Tradition des leidenden Gerechten mit der Messiasvorstellung.

Kyrios

Der Titel „Kyrios“ (κύριος, gr. Herr) bezieht sich im Neuen Testament häufig auf Gott. Dieser Sprachgebrauch knüpft an einen auch im Frühjudentum nachweisbaren Brauch an, den Gottesnamen (JHWH) durch den Titel „(der) Herr“ zu ersetzen (vgl. 1QGenApoc 20,12f.; TestLevi 18,2).

Die Verwendung des Titels für Jesus findet sich bereits in den ältesten vorpaulinischen Bekenntnissen (1Kor 12,3; Röm 10,9; Phil 2,11). Auch der aramäische Gebetsruf māranā tā (Unser Herr komm!; 1Kor 16,22) weist auf die palästinischen frühesten Gemeinden als Ursprung der Verwendung dieses christologischen Titels für Jesus. Er impliziert, dass der auferstandene und erhöhte Jesus Gott gleichgestellt wurde. Zugleich bedeutete die Anrede des Erhöhten als Kyrios auch eine bewusste Abgrenzung von der Verehrung anderer „Herren“ (vgl. 1Kor 8,6), insbesondere des römischen Kaisers.

Außerhalb der authentischen Paulusbriefe wird der Titel auch auf die irdische Wirksamkeit Jesu bezogen. Hier bezeichnet er Jesus vor allem als Sieger über den Tod.

Sohn/Sohn Gottes

Eine Reihe von neutestamentlichen Belegen für diesen christologischen Titel machen deutlich, dass er an die alttestamentliche Königsideologie anknüpft. Dort wird von der Adoption und Einsetzung des sein Amt antretenden oder des erwarteten Königs durch Gott gesprochen (vgl. 2Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27f.; Jes 9,5). Die Bezeichnung als „Gottessohn“ bedeutet also die göttliche Bevollmächtigung bzw. die Übertragung einer bestimmten Aufgabe durch Gott. Die Verwendung des Titels für eine eschatologische Gestalt ist bisher im Frühjudentum nicht eindeutig nachweisbar. In dem in diesem Zusammenhang oft zitierten Fragment 4Q 246 fehlt das für die Identifikation entscheidende Subjekt.

Die neutestamentliche Verwendung des Titels für Jesus hat vor allem drei Aspekte. Zum einen wird das Verhältnis zwischen Gott und Jesus als eines von Vater zu Sohn, also engster personaler Gemeinschaft, bezeichnet (vgl. Mt 11,27 par Lk 10,22). Zum anderen wird Jesus als von Gott zum Heilsbringer eingesetzt verstanden (vgl. Mk 1,11 par Lk 3,22). Schließlich wird „Sohn Gottes“ als Wesensbezeichnung interpretiert, die Jesus von den übrigen Menschen abhebt (vgl. Lk 1,35; Mk 9,2-7). Das führt dazu, dass der Titel schließlich mit Präexistenzaussagen verbunden wird (vgl. Joh 1,1-18; insbes. 1,14). Im Detail haben die Autoren des Neuen Testaments den Titel sehr unterschiedlich gefüllt. Vor allem Paulus sieht Person und Geschick Jesu insgesamt durch seine Gottessohnschaft bestimmt. Deshalb kann er eine Fülle von Formeln und Traditionen mit diesem Titel verbinden.

Sohn Davids

Anknüpfungspunkt für diesen Titel ist eine starke Strömung alttestamentlich–jüdischer Messiaserwartung. Sie erhofft den eschatologischen Heilbringer anknüpfend an 2Sam 7,16 aus der Nachkommenschaft Davids (vgl. Jes 9,1-6; 11,1-10; PsSal 17,21; 4QFlor 1,11-13).

Indem die frühen Christen Jesus als den „Sohn Davids“ bezeichneten, wurde er als derjenige benannt, in dem sich diese Verheißung erfüllt hatte. Dabei bezieht sich der Titel vor allem auf die irdische Existenz Jesu (Röm 1,3; 2Tim 2,8), konkret auf seine Wunderwirksamkeit (Mt 12,23; vgl. Mk 10,47f. par.).

Menschensohn

Die ungewöhnliche griechische Wortform υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου (hyios toū anthrōpou – Menschensohn) lässt darauf schließen, dass diese Prädikation Jesu aus dem Aramäischen stammt. Da sie zudem mehrfach in Zitaten von oder Anspielungen auf Dan 7,13f. begegnet, ist anzunehmen, dass ihre Bedeutung unter Beachtung dieser Stelle zu erschließen ist. Damit ist der Konsens der Forschung aber auch schon fast erreicht. Es ist sogar strittig, ob „Menschensohn“ überhaupt als christologischer Titel bezeichnet werden sollte.

In Dan 7,13f. ist „Menschensohn“ kein Titel einer eschatologischen Einzelgestalt. Die menschliche Gestalt, die Daniel schaut, symbolisiert „die Heiligen des Höchsten“ (Dan 7,18), steht also für ein Kollektiv. In späteren apokalyptischen Texten erscheint mehrfach die Gestalt eines himmlischen Menschen, dessen Aufgabe im Zusammenhang der endzeitlichen Zusprechung von Gericht und Heil steht (äthHen; syrBar). Nirgendwo aber lässt sich sicher eine vorchristliche Verwendung des Titels „Menschensohn“ auf diese Gestalt nachweisen.

Im Neuen Testament wird die Prädikation beinahe ausschließlich in den Evangelien verwandt. Dabei fällt auf, dass sie dort nur im Munde Jesu erscheint. Man kann zwischen drei Gruppen von Aussagen über den „Menschensohn“ unterscheiden. Die erste Gruppe spricht von seinem irdischen Wirken (Mk 2,10.28; Lk 9,58; 19,10 u. ö.). Die zweite Gruppe besteht aus Worten über das Leiden (und Auferstehen) des „Menschensohnes“ (Mk 8,31 parr.; 9,31 parr.; 10,33f. parr. u. ö.). In der dritten Gruppe von Texten schließlich geht es um die künftige Parusie des „Menschensohnes“ (Mk 13,26f. parr. u. ö.). Dabei hat er häufig die Funktion des Richters (Joh 5,27; Apg 7,56 u. ö.). Nur bei dieser Textgruppe ist der Einfluss der apokalyptischen Tradition erkennbar.

Die genauere Analyse der Texte zeigt, dass die Evangelisten die Prädikation an einer Reihe von Stellen sicher als Titel verstanden haben (z. B. Mk 8,38; 13,26; Joh 5,27 u. ö.). Das legt die Annahme nahe, ihn auch anderswo als solchen zu verstehen.

Da „Menschensohn“ im Aramäischen einfach für „ich“ stehen kann, hat man vermutet, dass die Verwendung als Titel erst in der griechischen Gemeinde entstanden sei, die die aramäische Konstruktion missverstanden habe. Dann ständen am Anfang der Traditionsgeschichte die Aussagen über die irdische Wirksamkeit des Menschensohnes und sein zukünftiges gewaltsames Schicksal, die im Kern auf Jesus zurückgehen könnten. Andere Forscher meinen, Jesus habe den „Menschensohn“ als eschatologischen Richter erwartet. Nach der Ostererfahrung sei er dann von seinen Anhängern mit diesem identifiziert worden. Eine eindeutige Klärung scheint angesichts der Quellenlage kaum noch möglich zu sein.

Literatur

M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998.

W. Kramer, Christus, Kyrios, Gottessohn, Zürich 1963.

F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, UTB 1873, Göttingen 51985.

P. Pokorný, Die Entstehung der Christologie, Berlin / Stuttgart 1985.

G. Vermes, Jesus der Jude: ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993.

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Die Texte auf dieser Seite sind mit freundlicher Genehmigung übernommen aus:

Cover der Bibelkundes des Neuen Testaments von Klaus-Michael Bull

Bull, Klaus-Michael: Bibelkunde des Neuen Testaments. Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter. Überblicke – Themakapitel – Glossar, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Aufl. 2018.

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