Deutsche Bibelgesellschaft

4.15. Der Hebräerbrief (Hebr)

Überblick über den Hebräerbrief

1,1-4,13 Gottes endgültige Rede in seinem Sohn (narratio)
4,14-10,18 Christus, der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks, sein einmaliges Opfer und dessen für immer gültige Wirkung (argumentatio)
10,19-13,21 Mahnung zur Bewährung des Glaubens (peroratio)
13,22-25 Briefschluss

Der Verfasser

Der Hebr ist ursprünglich anonym abgefasst worden. Ein Präskript, das Hinweise auf den Verfasser liefern könnte, fehlt. Der Briefschluss (13,22-25) lehnt sich an das paulinische Briefformular an. In 13,23 wird der Paulusmitarbeiter Timotheus erwähnt. Beides könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass der Verfasser sein Werk in die Tradition der paulinischen Briefe stellen wollte. Die sprachlichen und sachlich–theologischen Differenzen sowohl zu den authentischen Paulusbriefen als auch zu den Deuteropaulinen sind allerdings so groß, dass der Verfasser des Hebr nicht einmal als Paulusschüler bezeichnet werden kann. Er vertritt vielmehr eine ganz eigene theologische Position, die stark von der jüdisch–alexandrinischen Theologie beeinflusst ist.

Der Verfasser des Hebr war offensichtlich ein sprachlich und theologisch geschulter Mann. Er hatte eine umfassende Kenntnis der frühchristlichen Bekenntnistraditionen und des Alten Testaments, das er in der LXX-Fassung zitiert. Weite Passagen des Hebr sind im Grunde genommen Schriftauslegung. In der Argumentation bedient sich der Verfasser der gängigen jüdisch-hellenistischen Auslegungsmethoden seiner Zeit. Er nutzt aber auch rhetorische Elemente der antiken oratio. Die Formulierung in 2,3 (Bestätigung der Verkündigung des Herrn durch die Ohrenzeugen) weist den Autor des Hebr als einen Vertreter der 2. frühchristlichen Generation aus. Wahrscheinlich war er ein frühchristlicher Lehrer. Eine genauere Identifikation des Verfassers ist nicht möglich. Zu dieser Auffassung war im Übrigen schon der Kirchenvater Origines gelangt: „Wer den Brief geschrieben hat – die Wahrheit weiß Gott allein.“

Die Adressaten

Auch die Adressaten des Hebr lassen sich kaum genauer lokalisieren. Die sekundäre Überschrift „An die Hebräer“ hilft nicht weiter. Der Gruß in 13,24 sagt über den Wohnort der Adressaten auch nichts Verwertbares, liefert aber den Hinweis auf Italien. Dieses schwache Indiz wird durch 1Clem 36,2-5 gestärkt, da dort auf Hebr 1,3f. Bezug genommen worden zu sein scheint. Selbst wenn es sich nur um gemeinsame Tradition handeln sollte, wird eine Entstehung des Hebr in Italien doch wahrscheinlicher. Dann dürften auch die Adressaten dort zu suchen sein.

Deutlicher ist die Situation der Adressaten. Sie gehören wie der Verfasser der zweiten bzw. dritten frühchristlichen Generation an (2,3; 10,32ff.; 13,7). Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine heidenchristliche Gemeinde. Der Verfasser warnt nämlich in 3,12 ganz allgemein vor einem Abfall vom Glauben und nicht vor einem Rückfall ins Judentum. Außerdem nutzt er in 6,1ff. Topoi der traditionellen jüdischen Heidenmissionspredigt. Auch der schriftgelehrte Charakter des Briefes spricht nicht gegen eine Einordnung der Adressaten als heidenchristlich. Schließlich war das Alte Testament die Heilige Schrift aller Christen. Auch die Auslegungsmethoden des Verfassers dürften den Adressaten vertraut sein. Letztlich wird man aber sagen müssen, dass das Verhältnis Judenchristen – Heidenchristen im Hebr keine Rolle spielt. Der Verfasser spricht die christliche Gemeinde als ganze an.

Der Anlass des Briefes

Anlass für die Abfassung des Briefes sind akute Ermüdungserscheinungen in der Gemeinde der Adressaten, die vielleicht aus dem auf ihr lastenden Druck einer abweisenden bis feindseligen Umwelt resultieren. Zweifel an der Gültigkeit der Verheißungen Gottes werden laut (10,23.35f.). Die angeschriebenen Christen sind glaubensmüde geworden (6,12; vgl. 5,11 „schwerhörig“). Der Verfasser sieht die Gefahr, dass sie ihre Glaubenszuversicht „wegwerfen“ könnten (10,35-39). Er meint, dass sie noch einmal bei den Grundlagen des Glaubens anfangen müssten (5,12-6,2). Einige Gemeindeglieder bleiben den Gemeindeversammlungen fern (10,25). Insgesamt ergibt sich das Bild einer zutiefst verunsicherten Gemeinde im nachapostolischen Zeitalter, die mit der Erfahrung der sich dehnenden Zeit bis zur Parusie nicht fertig wird. Um die erschlafften Hände und die wankenden Knie (12,12) zu stärken, schreibt der Autor des Hebr dieser Gemeinde eine „Mahnrede“ (13,22).

Abfassungszeit

Da der Hebr wohl vor den 1Clem zu datieren ist, dürfte er zwischen 80 und 90 geschrieben worden sein.

Literarischer Charakter

Der Hebr ist durch einen ständigen Wechsel von lehrhaften und paränetischen Abschnitten geprägt. Dabei sind die paränetischen Passagen nichts anderes als die – im Sinne des Autors notwendige – Schlussfolgerung aus den vorangegangenen lehrhaften Ausführungen. Eine wichtige Rolle spielen im Hebr Stichwörter, die sowohl einzelne Abschnitte miteinander verbinden als auch längeren Passagen als Leitworte dienen. Häufig kündigt der Verfasser am Ende von Abschnitten das Thema des folgenden bereits an. Und schließlich nutzt er Chiasmen und Inklusionen, um seine Mahnrede zu strukturieren.

Auf die intensive Verwendung des Alten Testaments als Argumentationsbasis im Hebr ist oben schon hingewiesen worden. Weitere (frühchristliche u. a.) Traditionen werden benutzt, ohne dass dies als Zitat im Einzelnen erkennbar ist. Am Beginn des Schreibens (1,3) zitiert der Verfasser eine Bekenntnisformel.

Formgeschichtlich kann der Hebr als Mahnrede mit brieflichem Schluss eingeordnet werden.

Gottes endgültige Rede in seinem Sohn

1. Hauptteil (narratio)

1,1-4 Exordium (Einführung zum Thema)
1,5-14 Die Erhabenheit des Sohnes über die Engel (Entfaltung des Exordiums)
2,1-4 Ermahnung an die Leser, das Gehörte zu bewahren
2,5-18 Die Erniedrigung des Sohnes als Grundlegung des Heils (2,17 erstmalig der Titel „Hoherpriester“)
3,1-4,13 Mahnung zum Hören auf Gottes Wort

Der Autor des Hebr beginnt seine „Mahnrede“ mit grundsätzlichen Aussagen, die den theologischen Horizont der gesamten Rede umreißen (1,1-4).

Die letzte Aussage des Exordiums belegt der Verfasser des Hebr durch eine ganze Reihe von Zitaten aus dem Alten Testament, vor allem aus den Psalmen (Ps 2,7; 104,4; 45,7f.; 102,26-28; 110,1; [1,5-14]). Die Schlussfolgerung für die Adressaten folgt in 2,1-4: Wenn schon die Botschaft der Engel (die Tora) bei Strafe zu befolgen war, um wie viel mehr ist dann auf die Botschaft des Sohnes zu hören.

Der Sohn ist für kurze Zeit unter die Engel erniedrigt worden (Ps 8,5-7). Er hat wie die Menschen, seine Brüder, Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den Teufel zu entmachten. „Denn da er selbst in Versuchung geführt wurde und gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden.“ (2,18; 2,5-18)

Deshalb sollen die Adressaten auf Jesus schauen und auf Gottes Wort hören (3,1-4,13). Jesus, dem das Bekenntnis gilt, hat größere Herrlichkeit empfangen als Mose. Dieser war Gott treu als Diener, jener aber ist treu als Sohn, der über das Haus Gottes gesetzt ist. Die Wüstengeneration wird als warnendes Beispiel für das Schicksal derer angeführt, die ihr Herz verhärten und nicht auf das Wort Gottes hören. Es soll als Mahnung dienen, nicht zurückzubleiben, solange die Verheißung gilt. Das Wort der Verheißung hat der Wüstengeneration nichts genützt, weil es sich nicht durch den Glauben mit den Hörern verband. Die Verheißung des Landes der Ruhe gilt den Christen, die gläubig geworden sind. Am Ende beschreibt der Verfasser mit eindringlichen Worten die Wirkungsmacht des Wortes Gottes, das das innerste Wesen des Menschen offenbar macht (4,12f.).

Christus, der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks

2. Hauptteil (argumentatio)

4,14-16 Überleitung
5,1-10 Der Sohn als „Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks“
5,11-6,12 ParänetischeVorbereitung der Rede von den vollkommeneren Dingen
6,13-20 Die Unverbrüchlichkeit der Verheißung
7,1-10,18 Entfaltung der „Hohenpriester-Christologie“

In einer kurzen Überleitung verknüpft der Autor den Grundgedanken des 1. Hauptteils mit der „Hohenpriester–Christologie“, die den zweiten Hauptteil prägt. Jesus, der Sohn Gottes, ist ein Hoherpriester, der den Himmel durchschritten hat. Zugleich kann er mit den Menschen mitfühlen, denn er ist wie sie in Versuchung geführt worden, aber ohne Sünde (4,15; χωρὶς ἁµαρτίας/choris hamartias; 4,14-16).

Jeder Hohepriester wird aus den Menschen von Gott ausgewählt, zum Dienst für die Menschen. So ist es auch mit Christus geschehen. „Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden.“ (5,8f.; 5,1-10)

Die Adressaten sind „schwerhörig“ geworden. Deshalb müssten ihnen eigentlich noch einmal die Anfangsgründe der christlichen Lehre beigebracht werden. Der Verfasser will aber darauf verzichten und sich den vollkommeneren Dingen zuwenden. Er warnt eindringlich vor dem Abfall vom Glauben, denn wer vom Glauben abfällt, kann nicht wieder umkehren; er schlägt nämlich durch seinen Abfall den Sohn Gottes erneut ans Kreuz (6,4-6). Für die Adressaten hat der Verfasser aber noch Hoffnung, und wünscht, dass sie nicht müde werden (5,11-6,12).

Abraham wird den Adressaten als Vorbild vor Augen gestellt denn er hat das Verheißene durch seine Geduld erlangt. Die Verheißung und der sie bekräftigende Schwur – die beiden Taten Gottes in 6,18 – sind Ansporn für die Christen, die die Hoffnung ergriffen haben. Diese Hoffnung ist ein fester Anker der Seele, der bis hinter den Vorhang (zum Allerheiligsten) reicht. Hinter diesen Vorhang ist Jesus als Vorläufer der Christen gegangen (6,13-20). Damit schafft der Verfasser den Übergang zum zentralen Teil seiner „Mahnrede“, in dem er die „Hohenpriester-Christologie“ entfaltet (7,1-10,18).

Melchisedek wird unter Bezugnahme auf Gen 14,17-20 eingeführt. Er bleibt Priester für immer, denn die Schrift nennt weder seine Eltern, noch berichtet sie von seiner Geburt und seinem Tod (7,1-3). Weil er Abraham segnete und den Zehnten von ihm nahm, ist er Abraham und dem levitischen Priestertum überlegen (7,4-10).

Mit Christus ist ein Priester nach dem Vorbild Melchisedeks eingesetzt worden, „nicht ... aufgrund leiblicher Abstammung ..., sondern durch die Kraft unzerstörbaren Lebens“ (7,16). Damit ist das frühere Gebot aufgehoben, weil das Gesetz nicht die Vollendung gebracht hat. Christus ist der Bürge eines besseren Bundes. Die Überlegenheit seines Priestertums wird auch darin deutlich, dass im levitisch-aaronidischen Priestertum viele Priester aufeinander folgen, da alle sterben. Christus aber bleibt auf ewig. „Darum kann er auch die, die durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten; denn er lebt allezeit, um für sie einzutreten.“ (7,25) (7,11-25)

Christus ist als Auferstandener Priester des wahren Zeltes (Heiligtums), das Gott selbst im Himmel aufgeschlagen hat. Die irdischen Priester dagegen dienen an einem Heiligtum, das nur Abbild des himmlischen ist. Diese Urbild-Abbild-These prägt die weitere Argumentation. Gott spricht in Jer 31,31-34 von einem neuen Bund. Damit erklärt er den ersten für veraltet. Mittler des neuen, besseren Bundes ist Christus (8,1-13).

In 9,1–10 beschreibt der Verfasser des Hebr unter Bezugnahme auf Ex 25f. die Kultordnung des Alten Bundes. Sie ist nur Sinnbild, das auf die gegenwärtige Zeit hinweist. Christus aber ist ein für allemal (9,12) in das Heiligtum hineingegangen und hat „sich selbst kraft ewigen Geistes Gott als makelloses Opfer dargebracht“ (9,14). Sein Tod war notwendig, weil nur durch den Tod des Erblassers der Neue Bund wirksam werden konnte (der Verfasser operiert hier mit der Doppeldeutigkeit der griechischen Vokabel διαθήκη/diathēkē – Bund/Testament). Außerdem wird Sühnung nach dem Gesetz durch Blut bewirkt. Christus hat durch sein einmaliges Opfer im himmlischen Heiligtum die Sünde getilgt (9,11-28).

Die Opfer, die nach dem Gesetz vollzogen werden, können keine Sünden hinwegnehmen. Christus hebt durch sein Auftreten den alten Opferkult auf (Ps 40,7-9 wird ihm in den Mund gelegt) und setzt den neuen in Kraft. Er gibt seinen Leib hin und führt dadurch die, die geheiligt werden, ein für allemal zur Vollendung (10,1-18).

Mahnung zur Bewährung des Glaubens

3. Hauptteil (peroratio)

10,19-39 Einleitung der Mahnung
11,1-40 Die Wolke der Zeugen des Glaubens
12,1-13,17 Ausgeführte Mahnungen
13,18-21 Bitte um Fürbitte, Segenswunsch

Der Verfasser des Hebr leitet in 10,19-39 von den lehrhaften Ausführungen endgültig zur Paränese über. Jesus hat den Christen den neuen und lebendigen Weg erschlossen. Daraus folgt: „Lasst uns an dem unwandelbaren Bekenntnis der Hoffnung festhalten, denn er, der die Verheißung gegeben hat, ist treu.“ (10,23). Für den, der vorsätzlich sündigt, gibt es kein Entrinnen vor dem Gericht Gottes. Mit dem Hinweis auf die Vergangenheit der Gemeinde ruft der Autor zur Geduld auf, um den Willen Gottes zu erfüllen.

Nach einer Beschreibung des Wesens des Glaubens (11,1) führt der Verfasser die Glaubenszeugen des Alten Testaments auf. „Doch sie alle, die aufgrund des Glaubens anerkannt wurden, haben das Verheißene nicht erlangt, weil Gott erst für uns etwas Besseres vorgesehen hatte; denn sie sollten nicht ohne uns vollendet werden.“ (11,39f.; Kap. 11)

Angesichts dieser Wolke von Glaubenszeugen werden die Adressaten aufgefordert, alle Last und Fesseln der Sünde abzuwerfen (12,1-13,17). Sie sollen dabei auf Jesus, „den Urheber und Vollender des Glaubens“ (12,2) blicken. Verfolgungen werden als Züchtigungen Gottes gedeutet. „Darum macht die erschlafften Hände wieder fest, und ebnet die Wege für eure Füße, damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern geheilt werden.“ (12,12f.)

Die Sinaioffenbarung und die Offenbarung, die die Christen erfahren haben, werden noch einmal nach dem Schema alt/irdisch/unvollkommen – neu/himmlisch/vollkommen einander gegenübergestellt. Die Christen empfangen ein unerschütterliches Reich und sollen Gott deshalb in ehrfürchtiger Scheu dienen (12,18-29).

Im Zentrum der sich anschließenden Einzelmahnungen steht eine kurze lehrhafte Ausführung, die in die Aufforderung mündet, die zukünftige Stadt zu suchen, d. h. sich nicht irdisch einzurichten (13,1-17).

Am Ende der Paränese stehen die Bitte um Fürbitte und ein Segenswunsch (13,18-21).

Briefschluss

Im Briefschluss werden die Adressaten um die bereitwillige Annahme der „Mahnrede“ gebeten. Timotheus ist freigelassen worden und der Autor wird nach seiner Ankunft mit ihm die Gemeinde besuchen. Grüße und ein letzter Gnadenwunsch schließen den Hebr ab.

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Deutsche Bibelgesellschaftv.4.23.1
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