Hesekiel 37,1-14 | Pfingstsonntag | 19.05.2024
Einführung zum Ezechielbuch
1. Einführung und Entstehungszeit
Das Ezechielbuch
Das Buch weist eine charakteristische Sprache (etwa die durchgehende Anrede Ezechiels mit dem Titel „Menschensohn“) sowie einen straffen Aufbau auf, der vor allem durch die durchlaufenden Datierungen erzeugt wird, die die Jahre 593–571 v.Chr. als Verkündigungszeitraum des Propheten vorstellen. Zusätzlich strukturieren die großen Visionsberichte in Ez 1–3
In seiner heute vorliegenden Endgestalt weist das Buch folgende Gliederung auf: Nach der großen Einführungsvision, die den Propheten Gott auf einem mobilen Thron schauen lässt (Ez 1–3) folgen in Ez 4–24 Unheilsansagen an Israel/Juda, die mit zahlreichen und wiederholten Vergehen des Volkes in kultischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten begründet werden (vgl. die Geschichtsentwürfe in Ez 16; 20; 23). In Ez 24,24 wird dem im babylonischen Exil weilenden Propheten angekündigt, dass er durch einen aus Jerusalem entronnenen Volksgenossen über den Fall der Stadt informiert werden wird. Diese Ankündigung erfüllt sich in Ez 33,21f. Dazwischen stehen Unheilsankündigungen gegen Nachbarvölker Israels, die die Zeit der Belagerung und Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar gewissermaßen überbrücken (Ez 25–32). Dieses konzeptionelle „Überspringen“ der Unheilsereignisse im eigenen Land wird in der aktuellen Forschung manchmal als Bewältigungsstrategie für das durch den Fall der Stadt ausgelöste kollektive Trauma gedeutet. In jedem Fall deutet sich in den Fremdvölkerworten an, dass Israel/Juda in seinem Schicksal nicht isoliert, sondern eng mit den umliegenden Völkern verbunden ist. In Ez 33–37 folgen Heilsankündigungen an Israel/Juda, die viele der Unheilsszenarien aus dem ersten Teil aufgreifen und ihnen positive Bilder entgegenhalten. Das Buch schließt mit der großen Vision vom künftigen, idealen Heiligtum in Ez 40–48.
2. Wichtige Themen
Einige Themen verbinden kontrastierend die Unheilsansagen (Ez 1–24) mit den Heilsankündigungen (Ez 33–48): Ezechiel stellt die sündige, gottferne Existenz des Gottesvolkes in der Vergangenheit einer idealen, mit Gott vereinten Zukunft gegenüber. Besonders anschaulich wird der Entwurf der Gottesferne Israels vor dem Exil in den Geschichtsentwürfen in Ez 16; 20; 23, die Israels Geschichte als wiederkehrenden Abfall von Gott inszenieren (zu den Geschichtsentwürfen vgl. Krüger). Den Bundesbrüchen dieser früheren Epoche steht der neue Bund Gottes mit Israel in Ez 34–39 als heilvolle Zukunftsverheißung gegenüber (vgl. Ez 34,25; 37,26 im Gegensatz zu Ez 16,59–63; 20,37).
Von zentraler Bedeutung ist, auch auf Ebene der Struktur des Buches, das Gegenüber des unreinen Kultes am Jerusalemer Tempel vor dessen Vernichtung (Ez 8–11) und der Vision vom erneuerten, idealen Heiligtum mit seinem bereinigten Kult (Ez 40–48). Dieses Motiv ist verknüpft mit der Vorstellung, dass die Erneuerung des Gottesvolkes aus der Gruppe der Exilanten geschehen wird: Statt im Heiligtum (wie in Jes 6!) erscheint Gott dem im Exil weilenden Propheten auf einem mobilen Thronwagen (Ez 1–3).
Andere Kontrastbilder, die das Buch prägen, sind das Gegenüber der Kritik an den letzten Königen Judas (Ez 15; 17; 19) und der Hoffnung auf eine Erneuerung des davidischen Königtums, wie sie sich in den messianischen Heilsbildern in Ez 34,23f und Ez 37,24f fassen lässt, sowie die anvisierte Reinigung des Landes Israel (Ez 36), die dem Gericht über seine Unreinheit (Ez 6) als positives Bild entgegengehalten wird.
Ein wiederkehrendes Element ist die Auseinandersetzung des „Propheten“ mit sprichwortartig zusammengefassten Ansichten des Gottesvolkes wie z.B. in Ez 18, wo aus dem Sprichwort „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Söhnen sind die Zähne stumpf geworden“ eine umfassende theologische Reflexion über individuelle und kollektive Schuldhaftung (wohlgemerkt: im Verhältnis zu Gott, nicht im zwischenmenschlichen Bereich) entwickelt wird.
Einige späte Texte des Buches bereiten bereits die Apokalyptik vor, indem sie z.B. eine Mittlergestalt einführen, die die Visionen erklärt (vgl. Ez 43,3), oder das kosmische Aufeinandertreffen Gottes mit widergöttlichen Mächten als Endzeitszenario imaginieren (Ez 38f).
3. Besonderheiten
Das ganze Buch Ezechiel macht den Eindruck, mehr „Theologie“ als „Prophetie“ zu sein (Kratz). Es systematisiert aus einem größeren historischen Abstand Vorstellungen, die in den älteren Prophetenbüchern als Erklärungen vor allem zur Bewältigung der Erfahrung des Untergangs Jerusalems und des Verlusts der staatlichen Souveränität entwickelt wurden. Auch wenn sich einzelne Texte im Ezechielbuch isolieren lassen, die durchaus in zeitlicher Nähe zum Ende des Staates Juda entstanden sein können (insbesondere in Ez 15*; 17*; 19*), lassen der Großteil der Texte und die Struktur des Buches doch einen, teils deutlichen, Abstand von den Jahren des Untergangs erkennen. Nur so erklärt sich die systematische Reflexion des Gottesverhältnisses Israel/Judas, wie sie sich in den Geschichtsrückblicken (Ez 16; 20; 23) oder der Reflexion über individuelle und kollektive Schuldhaftung (Ez 18) niederschlägt. Gerade vor dem Hintergrund einer langen Entstehung des Buches ist die Deutung von Ez als „Traumaliteratur“ mit Vorsicht zu handhaben. Sicher ist, dass die Texte größtenteils nicht von einer traumatisierten Einzelfigur des 6. Jh. („Ezechiel“) stammen. Will man hier dennoch mit der hermeneutischen Kategorie des Traumas arbeiten, so bedarf es folglich eines Verständnisses von „Trauma-Literatur“, das nicht von dem Erleben des Propheten ausgeht, sondern literarische Muster der bewussten Konstruktion und Aktivierung kollektiver Traumata als Mittel zur Schaffung eines (theologischen oder nationalen) Selbstbewusstseins aufdeckt. Im Blick auf die homiletische Auseinandersetzung mit dem Ezechielbuch wird es in jedem Fall ratsam sein, es als Ausdruck elaborierter Theologie zu verstehen, hinter der die Gestalt des Propheten und seine (imaginierte oder tatsächliche) Verkündigungszeit beinahe ganz verschwinden.
Literatur:
- Gertz, J. C./ Körting, C. (Hrsg.), 2020, Das Buch Ezechiel. Komposition, Redaktion und Rezeption. BZAW, 516, Berlin/Boston.
- Klein, A., 2008, Schriftauslegung im Ezechielbuch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39 (BZAW 391), Berlin/New York.
- Kratz, R. G., 2022 Die Propheten Israels, München (Auflage?).
- Krüger, Th., 1989, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch (BZAW 180), Berlin/New York.
- Pohlmann, K.-F., Forschung am Ezechielbuch 1969-2004 (I-III). In: ThR 71 (2006), 60–309.
- Tooman, W. A./ Barter, P., 2017, (Hrsg.), Ezekiel. Current Debates and Future Directions. FAT I 112, Tübingen.
- Zimmerli, W., 21979, Ezechiel, BK.AT XIII/1.2, Neukirchen-Vluyn.
A) Exegese kompakt: Hesekiel 37,1-14
Was ist Ez 37,1–14 – ein Auferstehungstext (als der er schon seit der Antike oft gelesen wird, vgl. das berühmte Fresko in Dura Europos), oder eine theologische Abhandlung über den göttlichen Geist und seine Wirkungsweisen?
Ezechiel 37
Übersetzung
1 Die Hand JHWHs kam über mich und er führte mich hinaus durch den Geist JHWHs und er setzte mich ab inmitten der Ebene. Und sie war voller Knochen.
2 Und er ließ mich hindurchgehen zwischen ihnen – ringsum, ringsum – und siehe: (sie waren) sehr zahlreich auf der Ebene. Und siehe, sie waren sehr vertrocknet.
3 Und er sagte zu mir: „Menschensohn, können diese Knochen (wieder) leben?“ Und ich sagte: „Herr JHWH, du weißt es“.
4 Und er sagte zu mir: „Weissage über diese Knochen! Und du sollst zu ihnen sagen: vertrocknete Knochen, hört das Wort JHWHs!
5 So spricht der Herr JHWH zu jenen Knochen: Siehe, ich gebe Geist in euch, so dass ihr lebt.
6 Und ich werde Sehnen auf euch geben und ich werde euch mit Fleisch überziehen und ich werde Haut über euch ausbreiten und ich werde in euch Geist geben, damit ihr lebt. Daran werdet ihr erkennen, dass ich JHWH bin“.
7 Und ich weissagte, wie mir befohlen worden war, und es gab ein Geräusch, als ich weissagte, und siehe, ein Beben, und die Knochen rückten zusammen, Knochen an Knochen.
8 Und ich sah hin, und siehe, auf ihnen waren Sehnen und Fleisch war heraufgezogen, und Haut zog sich über sie. Aber Geist war nicht in ihnen.
9 Und er sagte zu mir: „Weissage dem Geist! Weissage, Menschensohn, und sag zum Geist: so hat der Herr JHWH gesprochen: von den vier Winden her komm, Geist, und atme diese Getöteten an, dass sie leben!“
10 Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte, und Geist fuhr in sie hinein, und sie wurden lebendig und standen auf ihren Füßen: ein sehr, sehr großes Heer.
11 Und er sagte zu mir: „Menschensohn, jene Knochen, sie sind das ganze Haus Israel. Siehe, sie sagen: ‚Vertrocknet sind unsere Knochen und verloren ist unsere Hoffnung, wir sind abgeschnitten [d.h. vom Leben od. von der Hand JHWHs wie in Ps 88,6]‘.
12 Daher, weissage und sage zu ihnen: so hat der Herr JHWH gesprochen: siehe, ich öffne eure Gräber und ich führe euch hinauf aus euren Gräbern (als) mein Volk. Und ich bringe euch ins Land Israel.
13 Und ihr werdet erkennen, dass ich JHWH bin, wenn ich eure Gräber öffne und wenn ich euch aus euren Gräbern herausführe (als) mein Volk.
14 Und ich werde meinen Geist in euch geben, damit ihr lebt, und ich werde euch in euer Land setzen. Und ihr werdet erkennen, dass ich, JHWH, geredet habe und es tue, Spruch JHWHs“.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
Allgemeine Anmerkungen: Liest man den Text (laut vor), so fällt sogleich die für moderne Hörer eher sperrige doppelte Gottesbezeichnung (אדני יהוה = Herr JHWH) auf. Die antiken Versionen enthalten nicht wenige Varianten für diese doppelte Gottesbezeichnung, die nachfolgend nicht einzeln diskutiert werden. Ein wesentlicher Teil der Septuagintaüberlieferung hat in Ez 37 jeweils nur ein einfaches „der Herr“ (κυριος). Es ist auf Linie dieser Tradition also denkbar, beim Verlesen des Predigttextes nicht das sperrige „der Herr, Herr“ zu lesen, sondern einfach „der Herr“. Ein wichtiger griechischer Textzeuge (Papyrus 967) liest „Herr Gott“ (κυριος ο ϑεος) – auch dies bietet sich als Variante für das Verlesen des Predigttextes an (vgl. auch Luther 2017: „Gott der Herr“ u.ä.).
V.1 Die „Hand“ (im Hebr. ein Nomen fem.) JHWHs lässt eigentlich eine Fortführung mit einer fem. Verbform erwarten. Eine analoge Fortführung mit mask. Subjekt weist aber Ez 40,1 (ähnlich Ez 3,22) auf. Man darf schlussfolgern: „In seiner ‚Hand‘ handelt Jahwe selber“ (Zimmerli, BK, 886; dementsprechend übersetzt die Septuaginta). „Die Ebene“ wird hier als eine bekannte Größe eingeführt, genau wie in Ez 3,22f (vgl. auch 8,4).
V.6 „und ihr werdet erkennen, dass ich JHWH bin“ ist eine im Ezechielbuch sehr häufig vorkommende Abschlussformel, die in vielen Fällen v.a. eine textgliedernde Funktion erfüllt. Es ist ratsam, die Gotteserkenntnis hier nicht vorschnell als Folge des Geist-Gebens zu verstehen (so auch in V.13). Das Geben des Geistes führt in erster Linie dazu, dass die Knochen wieder lebendig werden. Die Heilserfahrung der Wiederbelebung insgesamt soll sodann Israels Gotteserkenntnis bewirken (vgl. die hier vorgeschlagene Übersetzung)
V.7: Wörtlich „und Knochen näherten sich, ein Knochen zu seinem Knochen“. Die Formulierung impliziert, dass die Knochen in ihre richtige Position rücken, ein jeder Knochen an den Knochen, mit dem zusammen er eine Funktion im menschlichen Skelett erfüllt.
V.9: Im Unterschied zu den V.5; 6; 8 (und 10, s.u.) ist „der Geist“ hier determiniert. Zur Übersetzung „die vier Winde“ s.u.
V.10: Wörtlich „der Geist ging in sie hinein“. Der wichtige Pap. 967 bezeugt hier eine wahrscheinlich ursprünglichere Lesart ohne Artikel („Geist“, nicht „der Geist“). Diese Lesart wurde hier in der Übersetzung aufgegriffen.
V.11: Wörtlich: „wir sind abgeschnitten von uns“. „Wir sind abgeschnitten“ ist vor dem Hintergrund alttestamentlicher Psalmen-Sprache ein gut verständliches Bild (vgl. unten die Exegese) und bedeutet so viel wie „wir sind abgeschnitten vom Leben“ (vgl. auch Jes 53,8). Es könnte auch eine konkrete Anspielung auf Ps 88,6 („sie sind abgeschnitten [נִגְזָרוּ] von deiner [=JHWHs] Hand“) vorliegen.
V.12: „Mein Volk“ fehlt in LXX* und der syrischen Peschitta (dort auch in V.13) und ist vermutlich eine spätere Hinzufügung im hebr. Text. Charakteristisch für das Ezechielbuch ist, dass das „Land Israel“ (sonst auch Erez Israel = ישראל ארץ) mit dem eigentlich den Ackerboden bezeichnenden Begriff אדמה bezeichnet ist.
V.14: das Verb נוח („ich werde euch setzen“), hat die Konnotation von Ruhe und Wohnen in Sicherheit.
2. Literarische Gestaltung
Innerhalb des Ezechielbuchs nimmt Ez 37 eine Schlüsselposition ein. Die Vision von den Totengebeinen hat viele Bezüge zur großen Vision am Anfang des Ezechielbuchs in Ez 1–3 (die Verortung in der Ebene, die prominente Rolle des Geistes u.a.m.), so dass diese beiden Kapitel einen Rahmen um den ersten Buchteil bilden. Ursprünglich dürfte dieser erste Teil mit Ez 37 geendet haben, da mit Ez 38–39 ein jüngerer Einschub vorliegt. Mit der Vision von den belebten Totengebeinen setzt Ez 37 also einen prägnanten, von der Hoffnung auf Restitution geprägten Schlusspunkt unter das Buch, das über das babylonische Exil als die große Katastrophe Israels und angesichts dieser kollektiven Unheilserfahrung über die Gerechtigkeit JHWHs reflektiert. Thematisch knüpft auch Ez 37,1–14 als Schlusspunkt an diese Themen an; sie bilden den theologischen Hintergrund der Totengebein-Vision.
Ez 37,1–14 lässt sich in einen Visionsteil (V.1–10) und einen interpretierenden Teil (V.11–14) unterteilen. Der Visionsteil beginnt in der „Ebene“ – eine Landschaftsbezeichnung, die die mesopotamische Landschaft des Exils vielleicht bewusst kontrastiv zu den „Bergen Israels“, dem Sehnsuchtsort der exilierten Judäer (vgl. Ez 36), verwendet. Hier sieht der Prophet trockene Knochen, deren stufenweise Wiederbelebung er dann vorgeführt bekommt. Die Vision lebt von dem Dialog zwischen Prophet und Gott und dem Mitwirken Ezechiels sowie der stufenweisen Auferweckung der Totengebeine. Am Ende steht das wiederbelebte Israel da – ein sehr sehr großes Heer.
Der hintere Teil (V.11–14) deutet das Visionsgeschehen und verheißt dem im Exil lebenden Israel nicht weniger als einen „neuen Exodus“, zurück in ihr Land. Dabei bemüht dieser Abschnitt selbst eine weitere Gattung prophetischer Rede: die V.11–14 sind an die für das Ezechielbuch typische Gattung der Disputationsworte angelehnt, in denen der Prophet sich mit einer im Volk kursierenden Meinung auseinandersetzt (vgl. Ez 18,1–4; Ez 33,20f und Ez 33,24). Oft wird der interpretierende Teil Ez 37,11–14 vom Visionsgeschehen Ez 37,1–10 literarkritisch als spätere Deutung abgehoben. Man kann aber fragen, ob der Visionsteil ohne die Deutung, also aus sich heraus, wirklich verständlich ist. Nur die ursprüngliche Zusammengehörigkeit beider Teile erklärt auch z.B. die Erkenntnisformel in V.6b, die im Ezechielbuch zwar durchaus „formelhaft“ als reine Abschlussformel verwendet werden kann, im Anschluss an die Knochenvision aber nichtsdestotrotz die Deutung der Knochen auf Israel voraussetzt. Ein literarkritischer Schnitt zwischen Vision und Deutung ist also nicht verständnisförderlich. Deutlich ist hingegen, dass die V.13b–14 ein sekundärer Anhang an den Text sind, der eine theologische Neuakzentuierung mit sich bringt. Die Weiterführung der Erkenntnisformel in V.13b ist auffällig, da diese Formel im Ezechielbuch sonst ausschließlich als Abschlussformel am Ende einer Sinneinheit und niemals – wie hier – als Einleitung für die Erläuterung eines Sachverhalts verwendet wird.
3. Kontexte
Ez 37,11 und die Sprache der Klagepsalmen
V.11, zur Grundschicht gehörend, zitiert eine Aussage des Volkes. Ähnliche Aussagen über das Aufhören existenzieller Körperfunktionen, gerade auch mit dem Motiv der Vertrocknung und der geschundenen Knochen, kennt man aus den Klagepsalmen, vgl. z.B. Ps 22,15–16; Ps 88,4–6.
Nach israelitischer Weltsicht kann der Tod bereits mitten im Leben als real erlebt werden, ehe er physisch eingetreten ist. Die Sphäre des Todes wird wirksam in Erfahrungen von Einsamkeit, Gefangenschaft, Rechtlosigkeit, Ausweglosigkeit, Gottverlassenheit, – nota bene eine Erfahrung, die auch modernen Menschen nach den zermürbenden Corona-Lockdowns mit damit einhergehender sozialen Isolation, Handlungsunfähigkeit und Ausgeliefertsein vertraut sein dürfte.
Dem Volk in der Diaspora wird hier also eine Klage in den Mund gelegt, wie sie in Israel/Juda üblich war. Sie drückt aus, dass das Dasein fern der Heimat nicht besser erlebt wird, als sei man direkt ins Totenreich hinabgeschickt worden (vgl. auch Ez 33,10).
Auf diese Klage reagiert JHWH in Ez 37,12–13a mit der Ankündigung, Israel aus seinen Gräbern herauszuholen. Auch wenn hier eindeutig das „Grab des Exils“ gemeint ist, ist Vorsicht geboten, das Befreiungsereignis simpel metaphorisch zu deuten. Natürlich hat man auch im antiken Israel gewusst, dass der physische Tod und der „soziale Tod“ sich unterscheiden. Dennoch sind die Todeserfahrungen, die die Klagepsalmen schildern, mehr als nur metaphorische Ausdrücke für unglückliches Leben – man darf davon ausgehen, dass der Tod hier tatsächlich als wirksame Sphäre, als „raumgreifende Macht“ (Christoph Barth, Die Errettung vom Tode, Zürich 1947) gedacht ist, die auch den lebenden Menschen angreifen kann. Gott hingegen nimmt Israel aus seiner Todesverfangenheit hinaus, was im Visionsbild mit dem Zweischritt aus dem Zusammenbau der Körper und der Einhauchung des Lebensgeistes visualisiert wird. Auch wenn damit (noch) nicht „Auferstehung“ im christlichen Sinn gemeint ist, sondern eher an die „Neuschöpfung“ eines Kollektivs, des Volkes Israel, gedacht ist (s.u.), deutet sich hier wie auch in den Klagepsalmen die Hoffnung an, dass JHWH auch in der Scheol wirksam sein kann und Macht über die Todessphäre hat, vgl. auch 2 Sam 2,6: „JHWH tötet und macht lebendig, er führt in die Scheol hinab und wieder hinauf“.
Geistbegabung als Neuschöpfung
Das Bedeutungsspektrum des hebr. Wortes רוַּח (rûaḥ) ist im AT sehr vielfältig und reicht von der ganz profanen Bezeichnung für „Wind“ (vgl. auch Ez 37,9) bis hin zu numinosen Phänomenen wie prophetischer „Geistbegabung“ (vgl. z.B. Num 11). Zwischen diesen Enden des Bedeutungsspektrums kann רוַּח auch den Lebensatem bezeichnen, der das Lebewesen vom toten Körper unterscheidet – so in Ez 37,5.6.8 (vgl. auch z.B. Gen 6,17). Das Konzept der רוַּח im Menschen verweist auf die Herkunft des Lebensatems von JHWH her: Er gibt seinen Geist, der den Menschen lebendig macht, und nimmt ihn beim Tod des Menschen zurück.
Von den vielen theologischen Kontexten, in denen rûaḥ eine Rolle spielt, sind für Ez 37 insbesondere solche Texte erhellend, die das Schöpfungsgeschehen thematisieren, so v.a. Ps 104,27–30 und Gen 2,7.
Wahrscheinlich wurde die zweistufige Auferweckungsszene in Ez 37,6–8 analog zur zweistufigen Schöpfung in Gen 2,7 gestaltet. Zwar wird dort ein anderes Wort für „Lebensatem“ (נְשָׁמָה, nešāmâh) verwendet, dies führt jedoch direkt dazu, dass der Mensch ein lebendiges Wesen (חַיָּה נֶפֶשׁ, næphæš ḥajjah) wird. נֶפֶשׁ (næpæš) und רוַּח (rûaḥ) wiederum werden nicht selten synonym verwendet. In beiden Texten wird der Lebensatem „eingeblasen“ (hebr. נָפַח, nāphaḥ).
Folglich ist die Auferweckungsszene in Ez 37,6–8 in ihrem Kern Neuschöpfung, und zwar die Neuschöpfung eines Kollektivs: Israels. Dem in der Diaspora befindlichen Israel wird seine Neuschöpfung durch Rückführung ins Land angekündigt.
Der Geist JHWHs und Israels „JHWH-Empfänglichkeit“ Mit den V.13b–14, einer jüngeren Fortschreibung des Kapitels, ist im Rahmen des Neuschöpfungsmotivs die Rolle des Geistes nochmals stärker betont und damit ganz zentral geworden. Die Restitution Israels ist auf dieser Textstufe nicht mehr auf die Rückführung aus dem Babylonischen Exil (den „zweiten Exodus“) eingegrenzt und damit an das Leben im eigenen Land geknüpft, sondern auf die zukünftige Begabung Israels mit dem Geist JHWHs ausgerichtet. Der Geist JHWHs ist hier nun mehr und anderes als der „Lebensatem“, er ist Israels Antenne für JHWH: Gesprächspartner innerhalb des Ezechielbuchs sind für Ez 37 nun v.a. Ez 36,24–28 und 11,19. Die genannten Texte versprechen Israel einen „neuen Geist“. Wie Ez 36,25f deutlich machen, verbessert die Erneuerung des Geistes Israels „JHWH-Empfänglichkeit“ und verhindert einen erneuten Abfall wie den, der überhaupt erst zum Exil geführt hat. Ezechiel steht hier in einer Deutungstradition, die sich auch im Jeremiabuch und im dtr. Geschichtswerk niedergeschlagen hat und die das babylonische Exil als gerechte Strafe für Israels Abfall von JHWH versteht – eine Bewältigungsstrategie, die letztlich theologisch die Möglichkeit eröffnete, trotz der Katastrophe überhaupt am JHWH-Glauben festzuhalten. Wird nun für die Zukunft ein neuer Geist versprochen, so geht damit die Vorstellung einher, dass es durch ihn Israel dauerhaft möglich sein wird, nach JHWHs Willen zu leben. Diese Zukunftsperspektive ist eine eschatologische (vgl. Ez 36,24–28), die bereits die Erfahrung voraussetzt, dass auch nach Israels Rückkehr ins Land die Beziehung zwischen Volk und JHWH nicht störungsfrei war. Die Geistausgießung ist also eine Zukunftshoffnung, die aus der nachexilischen Perspektive heraus noch aussteht.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Ez 37,1–14 ist meistens im Hinblick auf seine Auferstehungshoffnung gelesen worden (so bereits in der Antike, vgl. das berühmte Fresko in Dura Europos). Dieses Interesse ist deutlich geleitet von einer spezifisch christlichen Perspektive. Die rabbinischen Texte zu Ez 37,1–14 hingegen zeigen, dass die Deutung als frühes Zeugnis für eine entstehende Auferstehungshoffnung keineswegs zwingend ist. Nicht nur mit Blick auf den Pfingstsonntag ist es daher aus exegetischer Sicht ratsam, den Schwerpunkt der Interpretation auf die Rolle des Geistes und seiner (diesseitigen) Wirkungsweisen zu legen. In Ez 37,1–14 ist er als Hilfsmittel bei prophetischen Einsichten (37,1), als Lebenskraft des Menschen (37,5.6.8.9.10), und als besondere, von Gott mitgeteilte „Ausstattung“ des Gottesvolkes (37,14) im Blick.
Ursprünglich beschäftigte die Vision von den vertrockneten Totengebeinen (Ez 37,1–13a) wahrscheinlich die Situation der Babylonischen Gola, also der ab 597 durch die Neubabylonier aus Jerusalem deportierten Oberschicht des von Nebukadnezar zerschlagenen Königreichs Juda. Das Schicksal und Erleben dieser Gruppe wird in ihrer wörtlichen Rede in V.11 aufgegriffen („Vertrocknet sind unsere Knochen und verloren ist unsere Hoffnung, wir sind abgeschnitten“). In der den Klagepsalmen entlehnten Sprache drücken sie aus, dass ihr Leben fernab der Heimat im Grunde dem Totsein gleichkommt. Dementsprechend sind die Gräber (V.12–13) hier am ehesten metaphorisch zu verstehen: genau wie im Visionsteil die vertrockneten Knochen stehen sie für das Totsein mitten im Leben, das Israel in der Diaspora empfindet (vgl. Ps 88,6.12). Zur Veranschaulichung in der homiletischen Bearbeitung des Textes ist hier vielleicht der Verweis auf vergleichbare Erfahrungen vom Tot-sein mitten im Leben nützlich, die auch moderne Menschen machen. Oben wurde auf die Erfahrungen von Isolation und Handlungsunfähigkeit während der Corona-Lockdowns verwiesen, daneben könnten aber z.B. auch Erfahrungen aus Trennungs- und Trauersituationen relevant sein. In diese Situation hinein verheißt der Prophet eine neue Zuwendung JHWHs zu seinem Volk, das ins Heimatland zurückkehren darf. In Reaktion auf die Klage, man fühle sich in der Diaspora wie lebendige Tote, verwendet der Text das Bild von der Auferstehung der Knochen, denen der Lebensgeist eingehaucht wird.
Eine jüngere Fortschreibung in den V.13b.14 aktualisiert den Text mit größerem Abstand vom babylonischen Exil. Nun geht es um die Frage, wie das restituierte Israel im Land so leben kann, dass es JHWH gefällt. Dafür, so Ez 37,13b.14, ist die Ausstattung Israels mit JHWHs Geist selbst nötig. Dieser funktioniert wie eine „Antenne“ für Israels JHWH-Empfänglichkeit, mit deren Hilfe Israel eine wesenhafte Verbindung mit JHWH eingehen kann.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Der Gottesgeist ist vor allem Schöpfergeist und Lebensatem. Das hat die Exegese eindrücklich herausgearbeitet. Diese Funktion ist so grundlegend, dass sie als Grundton aller anderen Facetten des Geistes, die alttestamentlich und neutestamentlich durchdekliniert werden, gelten kann. Der Geist als Lebensatem ist das Wesentliche, das, was über die reine Anatomie, wie sich „Knochen an Knochen“ (V.7) ordnet, hinausgeht. Der Text formuliert und denkt dabei verschlüsselt und doch sehr konkret und leiblich – eine Herausforderung für die eigene Predigtsprache. Die Beschreibung der Vision beschränkt sich nicht auf eine allgemeine Beschreibung, dass sterbliche Überreste wieder mit Leben gefüllt werden, sondern beobachtet: Sehne um Sehne, Fleisch, Haut, Knochen an Knochen (V.6f). Auch die Betonung, dass die Todessphäre bzw. die Selbstaussage des Volkes in V.11 nicht allein metaphorisch zu verstehen ist, sondern der Tod als raumgreifende Macht gedacht wird, die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen niederschlägt, unterstreicht für mich, dass es diese Selbstaussagen (damals wie heute) ernst zu nehmen gilt.
2. Thematische Fokussierung
Die Selbstaussagen von Klagenden und die Sphäre des Todes ernst zu nehmen wird besonders dann zur Herausforderung, wenn man die Einschätzung der Situation nicht uneingeschränkt teilen kann. Auch bei der Situation der Judäer im babylonischen Exil ist Vorsicht geboten, deren Situation (in der Predigt) als durchweg negativ zu schildern (vgl. z.B. Chr. Frevel, 22018, Geschichte Israels, Stuttgart, 325 oder Jer 29): z.T. waren sie in Babylon sozial und wirtschaftlich gut integriert. Dennoch fühlt sich mindestens ein Teil von ihnen „abgeschnitten“. Abgeschnitten vom Heimatland, abgeschnitten von der Freiheit hingehen zu können, wo sie wollen, abgeschnitten von Gott, tot. Hier geht es um Deutung und subjektives Erleben der eigenen Situation, das nicht objektivierbar ist. Zugleich wird dieser Selbstwahrnehmung im Disputationswort eine Vision gegenübergestellt, die die eigene Wahrnehmung aufbricht und Raum für neues Leben schafft. Die Vision setzt damit auf sprachlicher Ebene um, was im Bild geschieht.
3. Theologische Aktualisierung
Die Exegese charakterisiert den Text als einen, der ein theologisch tiefgründiges Hoffnungsbild vor dem Hintergrund subjektiv-kollektiver Hoffnungslosigkeit entfaltet. Nimmt man die exegetische Analyse ernst, war die Zusage Gottes, dass er Gräber öffnet und Israel als sein Volk heraufführt (Ez 37,12), einmal als Endpunkt des Textes konzipiert. Dieser zuversichtlich hoffnungsvolle Schlusspunkt kann auch den Spannungsbogen der Predigt bestimmen: Neuschöpfung ist möglich. Neutestamentlich wird das Motiv der Neuschöpfung auch von Paulus aufgegriffen (2Kor 5,17; Gal 6,15) in Bezug auf die Existenz der einzelnen Christ:innen, wobei hier nie explizit vom Geist die Rede ist. Gleichwohl kennt Paulus auch den Geist als lebensspendende Macht des Schöpfers, als Wirkmacht bei der Auferstehung Jesu (Röm 1,3b–4a) und die Kraft, die aus der Sphäre des Todes befreit (Röm 8,1). Auch das Glaubensbekenntnis von Nicäa und Konstantinopel kennzeichnet den Geist als den, der „Herr ist und lebendig macht“ – vielleicht gerade an diesem Pfingstsonntag ein Impuls, genau dieses Glaubensbekenntnis im Gottesdienst zu sprechen.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Der Text entfaltet die als aussichtslos erlebte Lage einer Gruppe. Diese kollektive Perspektive schließt gut an die Prägung des Pfingstsonntags an.
Der Wochenspruch aus Sach 4,6b bespielt in seinem Kontext ein ähnliches Szenario wie der Predigttext: Aus den Trümmern des zerstörten Tempels wird der Grundstein für den neuen gefunden. Gerade mit Blick auf den Pfingstsonntag, an dem auch grundlegend über das Zustandekommen und die Beschaffenheit der Kirche nachgedacht wird (Apg 2
5. Anregungen
Die bereits in der Exegese benannten Lebensbereiche, die von der Sphäre des Todes geprägt empfunden werden – Einsamkeit, Rechtlosigkeit, Ausweglosigkeit, Gefangenschaft, Gottverlassenheit – könnten in einzelnen Sequenzen möglichst konkret sprachlich umgesetzt und mit V.11b als Kehrvers nebeneinander gestellt werden. Am angemessensten wäre es vielleicht sogar O-Ton-Zitate aufzugreifen, um nicht allein Konstellationen zu imaginieren und damit zugleich mit der eigenen Interpretation zu überschreiben, sondern Betroffenen eine eigene Stimme zu geben. Die noch größere Herausforderung wäre dann, ebenso konkret, wie der Predigttext selbst die Neuschöpfung beschreibt, durchzubuchstabieren, welche Auswirkung Gottes Lebensgeist in jeder einzelnen Dimension haben könnte.
Anregend könnte es auch sein, die konkreten Redeformen des Predigttextes wie Vision oder Disputationswort aufzugreifen und damit selbst die Rolle eines/r Prophet:in anzunehmen.
Versuchen Sie doch z.B. einmal das Sprachmuster von V.11b–12 aufzugreifen und mit aktuellen Klagen oder Vorurteilen zu füllen („Siehe, sie sagen: … Daher, weissage und sage zu ihnen: so hat der Herr JHWH gesprochen: Siehe, ich öffne eure Gräber und ich führe euch hinauf aus euren Gräbern (als) mein Volk.)
Autoren
- Dr. Meike Röhrig (Einführung und Exegese)
- Dr. Ann-Kathrin Knittel (Praktisch-theologische Resonanzen)
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