Sünde / Sünder (AT)
(erstellt: August 2017)
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→ Ethik
1. Die Begriffe im Deutschen
1.1. Sünde
Das deutsche Wort Sünde bezeichnet im allgemeinsten Sinne eine Verfehlung gegen eine anerkannte Verhaltensnorm. Im Kern ist der Begriff aber religiös geprägt: Es geht um einen Verstoß gegen göttliche Normen oder Absichten. Auch die umgangssprachliche Rede von Verkehrs-, Umwelt- oder Diätsünden bleibt in ihrer Dramatisierung oder Ironisierung darauf zurückbezogen. Das christlich-theologische Sündenverständnis als Quelle des neuzeitlichen Sündenbegriffs knüpft an das Alte, aber mehr noch an das Neue Testament an (vgl. Bieberstein / Bormann, 570).
1.2. Schuld
Für den Begriff Schuld spielt demgegenüber der Gottesbezug keine konstitutive Rolle. Schuld setzt neben den zwei Parteien eines Konfliktfalls (Schuldige und Geschädigte) eine Instanz voraus, die eine Tat als Fehlverhalten qualifiziert und anhand einer Norm die Schuld bemisst (vgl. Hock, 1870). Diese Norm kann theologisch, ethisch oder juristisch definiert sein.
Der Begriff ist im Deutschen mehrdeutig: Wer von „Schuld“ spricht, meint entweder das Geschuldete (obligatio / debitum), also eine rechtliche oder ethische Verpflichtung (in finanzieller Hinsicht differenzieren wir, s.u.) oder die Verschuldung (culpa), also die juristisch, aber auch völkerrechtlich oder theologisch zurechenbare Verursachung eines Schadens (vgl. Fischer, 43; Honecker, 218; Niemann, 105).
Zu beachten ist die semantische und auch begriffliche Nähe zum finanztechnischen Terminus „Schulden“. Zwar unterscheidet das Deutsche zwischen den Nomina „Schuld“ (moralisch, juristisch) und „Schulden“ (finanziell). Beim Verb „schulden“ gibt es jedoch Überschneidungen: Man kann jemandem nicht nur Geld, sondern auch Respekt, Dank, eine Erklärung oder auch sein Leben schulden.
Schuld ist in allen ihren Spielarten die Haftung für einen nicht erfüllten berechtigten Anspruch. Während die Bezeichnung „Sünde“ eine Tat bewertet, geht es bei „Schuld“ um die Handlungsfolgen und das Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Sünde ist im theologischen Sinne Schuld, insofern sie von Gott als Schuld zugerechnet wird und er sie einfordert (vgl. Krötke, 1868; Metzner, 1879).
1.3. Böses
Ohne zwingenden theologischen Bezug kommt auch die Beurteilung als „böse“ aus. Sie ist in der Gegenwartssprache die wohl radikalste Disqualifizierung, zugleich die am wenigsten greifbare, weil „gut“ und „böse“ immer subjektiv bestimmt werden. Die einzige allgemeingültige Definition, die dem Gesamtphänomen des Bösen – als malum physicum und malum morale – gerecht wird, ist sein „Kontrastbezug“ (Dalferth, 236) zum Guten: Böse ist das, was das Gute schädigt, behindert, stört und zerstört.
2. Der Sprachgebrauch der Hebräischen Bibel
2.1. Wortfeld und Konzept „Sünde“
Der theologische Begriff „Sünde“ ist zwar durch biblische Ideen maßgeblich geprägt, steht aber nicht für eine konkrete Vokabel des Urtextes, sondern für ein Konzept. Dieses Konzept spiegelt sich in verschiedensten alt- und neutestamentlichen Ausdrücken, die ein menschliches Tun oder Verhalten als Widerspruch gegen Gottes Willen qualifizieren bzw. disqualifizieren. Das hermeneutische Problem besteht darin, dass einzelne griechische und hebräische Vokabeln aus dem Wortfeld des Konzepts „Sünde“ traditionell mit dem Wort „Sünde“ übersetzt werden, in einem Zirkelschluss also mit einem Wort, das aus einem biblischen Konzept abgeleitet ist, genau dieses Konzept beschrieben wird. Das mag für das Neue Testament noch angehen: Der bei weitem häufigste Sündenbegriff, ἁμαρτία hamartía (s.u. 2.6.), kommt unserem theologischen Sündenbegriff sehr nahe. Anders im Alten Testament: die verschiedenen hebräischen Lexeme im Wortfeld „Sünde“ stehen durchaus ebenbürtig nebeneinander. Keins von ihnen ist ausschließlich theologisch definiert. Und sie unterscheiden sich wesentlich von unserem moralischen, auf den Täter fokussierten Sündenbegriff.
In der Hebräischen Bibel finden sich mehr als 50 Wörter, die ein menschliches Verhalten negativ qualifizieren und damit im weitesten Sinne als Sündenvokabeln gelten können (vgl. Cover, 31; Boda 2009, 6; zum Wortfeld: Quell, 268f; Knierim 1997, 79-82; Knierim 2001, 365-368). Das Wortfeld lässt sich jedoch weiter eingrenzen, wenn man nur diejenigen Lexeme in den Blick nimmt, die keinen konkreten Tatbestand wie „morden“, „Gewalt ausüben“, „ehebrechen“ etc. beschreiben, sondern als formale Oberbegriffe dienen für Verhaltensweisen, die Gottes Willen widersprechen.
Die häufigsten und wichtigsten „Qualifikationsbegriffe“ (von Soosten, 102) dieser Art sind die Ableitungen der Wurzeln חטא ḥṭʼ, רשׁע rš‘, עוה ‘wh und פשׁע pš‘. Diese Hauptbegriffe, deren Semantik sich vielfach überschneidet, erscheinen an verschiedenen Stellen summarisch nebeneinander und umschreiben dann die Gesamtheit denkbarer Sünden (z.B. Ex 34,7
In ähnlicher Funktion wie die Hauptbegriffe und zum Teil synonym verwendet werden weitere Vokabeln, die ein Verhalten als verfehlt klassifizieren (s.u. 2.2.5.).
Daneben tritt die Beurteilung als „schlecht“ oder „böse“ (Wurzel רעע r‘‘): Dort, wo Gott ein Tun als „böse“ oder „schlecht“ im Sinne von „schädigend“ beurteilt, ist der Tatbestand von „Sünde“ erfüllt (s.u. 2.4.).
Eng mit dem Konzept „Sünde“ verbunden, aber in der Hebräischen Bibel doch in spezifischer Weise von ihr unterschieden, ist die Rede von „Schuld“ (s.u. 2.3.).
Außerdem hat das priesterliche Kultsystem eigene Begriffe für ein ordnungswidriges Tun und Lassen entwickelt. Die priesterlichen Kategorien „Unreinheit“ und „Abscheulichkeit“ bilden aussagekräftige Schnittmengen mit dem Konzept „Sünde“ (s.u. 2.5.).
2.2. Begriffe für Sünde
2.2.1. חטא ḥṭʼ „fehlgehen / sich verfehlen“
Verb. Eine Verbform ist 237-mal belegt: 181-mal im Qal („ein Ziel verfehlen / sich verfehlen / sündigen“); 15-mal im Pi. (in Gen 31,39
Nomen. Als Nomen belegt sind 33-mal חֵטְא ḥeṭʼ für den Tatbestand „Verfehlung / Sünde“, 293-mal חַטָּאת ḥaṭṭāʼt für den Zustand, der durch die Verfehlung hervorgerufen wurde: „Verfehlung / Sünde / Schuld“, und gleichzeitig für seine Behebung: 111-mal (inklusive Mi 6,7
2.2.1.2. Grundbedeutung: Trotz ihres meist religiösen Gebrauchs lässt sich hinter der Wurzel חטא ḥṭʼ noch die profane Grundbedeutung „ein Ziel verfehlen“ erkennen (Ri 20,16
Koch 1977, 859f, erwägt, ob umgekehrt im seltenen profanen Sprachgebrauch der übertragene Sinn zu erkennen sei wie etwa beim deutschen „Verkehrssünder“. Aber semitische Parallelen mit ähnlicher Grundbedeutung (vgl. Knierim 1971a, 541; Koch 1977, 858f) sprechen dagegen (vgl. Cover, 32).
2.2.1.3. חטא ḥṭʼ als Sündenbegriff: Im weit überwiegenden übertragenen Sinn meint חטא ḥṭʼ im Qal dann eine Verfehlung an Menschen oder an Gott.
חטא ḥṭʼ Qal + לְ lə bedeutet „sich verfehlen gegen jemanden“ oder „sich vergehen an jemandem“; so in Bezug auf zwischenmenschliche Konfrontation in Gen 20,9
Auch in religiösem Kontext ist das Verb oft mit indirektem Objekt konstruiert: „sich an (לְ lə) Gott verfehlen / versündigen“ (z.B. Gen 13,13
חטא ḥṭʼ steht also für die Verfehlung eines Gemeinschaftsverhältnisses, sei es zu anderen Menschen oder zu JHWH. Kriterium für die Beurteilung als חטא ḥṭʼ ist demnach nicht in erster Linie, ob bestimmte Gebote eingehalten oder übertreten werden, sondern ob Gemeinschaft bewahrt oder gestört wird. Eine solche Störung kann natürlich auch durch die Verletzung gemeinschaftlicher Normen eintreten (vgl. Knierim 1971a, 545; Koch 1977, 860).
Wie unser Wort „Sünde“ ist חטא ḥṭʼ ein Formalbegriff, der inhaltlich ganz verschieden gefüllt wird. Er „nennt nicht die böse Tat, sondern qualifiziert sie“ (Knierim 1965, 59). Anders als „Sünde“ im Deutschen meint חטא ḥṭʼ aber nicht nur die willentliche, ethisch verwerfliche Tat, sondern „alles, was (in irgendeiner Weise und aus irgendeinem Grund) von Gott trennt“ (Hieke, 89). Die Qualifizierung bzw. Disqualifizierung als חטא ḥṭʼ „umgreift unterschiedslos sowohl rechtliche als auch ethisch-soziale und kultische Verfehlungen“ (Knierim 1965, 61). Auch unabsichtliche oder zunächst unbewusste Vergehen gelten als חטא ḥṭʼ (Lev 4f). Natürliche Gegebenheiten wie die Geburt eines Kindes (Lev 12,6.8
Wichtig für das Verständnis von חטא ḥṭʼ ist seine Rolle im → Tun-Ergehen-Zusammenhang
In diesem Zusammenhang ist eine Differenzierung der Substantive zu beobachten: חֲטָאָה ḥǎṭāʼāh meint die einzelne sündige Tat, חַטָּאת ḥaṭṭāʼt die Tatsphäre, den „bei Gott vorhandenen Schuldtatbestand“ (Koch 1977, 861; vgl. Ex 32,30-32
חטא ḥṭʼ hat zudem kollektive Auswirkungen: Die Schuld der Verfehlung ist, so die altorientalische Vorstellung, vom Täter und seinem Umkreis zu tragen (1Kön 13,34
Umso dringender wird die Frage, ob dieser verhängnisvolle Zusammenhang unterbrochen werden kann. Die Antwort findet Israel im Opferkult (→ Opfer
2.2.1.4. Der ḥaṭṭāʼt-Ritus trägt seinen Anlass im Namen: Der Opferritus behandelt „Verfehlungen“ (חטא ḥṭʼ) und die Störungen, die aus ihnen resultieren. Ziel ist das Unwirksam-Machen der Folgen von Verfehlungen – und zwar auch unabsichtlicher und nicht moralischer (vgl. Nolland).
Verbal wird der Vorgang mit חטא ḥṭʼ Pi. beschrieben. Es ist entweder als privatives Piel, von חֵטְא ḥeṭʼ denominiert, im Sinne von „entsündigen“ (z.B. Ps 51,9
Die traditionelle Bezeichnung lautet Sündopfer. Hieke (88 u.ö.) schlägt „Entsündigungsopfer“ vor. In Anlehnung an Milgroms Deutung des Rituals (vgl. Milgrom 1991, 253-292) hat sich die Bezeichnung „Reinigungsopfer“ verbreitet (z.B. Staubli, 63). Aber der Ritus gilt beidem: der Beseitigung von Unreinheit und der Aufarbeitung von Sünde. „Verfehlung behandelnder Ritus“ oder „Fehlerbereinigungs-Ritus“ wäre deshalb eine zutreffende Bezeichnung (vgl. Nolland, 615: „defect-addressing-offering“).
Der alltägliche ḥaṭṭāʼt-Ritus (Lev 4,1-5,13
2.2.2. רשׁע rš‘ „freveln“
2.2.2.1. Derivate der Wurzel: Von der Wurzel רשׁע rš‘ gibt es folgende Belege:
Das Verb erscheint im Qal (ohne Ez 5,6
2.2.2.2. Grundbedeutung: רשׁע rš‘ trägt juridischen Charakter: es lässt sich an einer objektiven Rechtsnorm messen. So bedeutet das Verb im Grundstamm „schuldig / falsch gegenüber der Rechtsnorm sein“ und der רָשָׁע rāšā‘ ist ein „Frevler“, weil er gegen eine Norm verstößt (vgl. Gesenius, 18. Aufl., 1271; van Leeuwen, 813-818; Ringgren 1993).
2.2.2.3. רשׁע rš‘ als Sündenbegriff: Oft steht רשׁע rš‘ für moralisch abstoßende Untaten im sozialen Bereich, die dann aber auch Auswirkungen auf das Gottesverhältnis haben: Die רְשָׁעִים rəšā‘îm sind als Gegner der Frommen (z.B. Jes 48,22
Als „wichtigstes Oppositum“ zu צדק ṣdq ist רשׁע rš‘ „Ausdruck für das negative Verhalten, für üble Gedanken, Worte und Werke, ein gemeinschaftswidriges Benehmen“ (van Leeuwen, 814; zum Gegensatz צדק ṣdq – רשׁע rš‘ vgl. Gen 18,23.25
Auch das mit רשׁע rš‘ bezeichnete Schuldigwerden an Rechtsnormen ist als schicksalwirkende Tatsphäre vorgestellt (van Leeuwen, 814). Nicht nur Blutschuld wird eingefordert (Num 35,31
Auch in Bezug auf רשׁע rš‘ kennt die Hebräische Bibel eine Kollektiv- (Gen 18,23-25
2.2.3. עָוֹן ‘āwon „Sündenschuld“
2.2.3.1. Die Wurzel עוה ‘wh: Von der Wurzel עוה ‘wh ist vor allem das 231-mal nur 2-mal im Qal, 4-mal im Nif., 2-mal im Pi. und 9-mal im Hif. vor.
2.2.3.2. Grundbedeutung: Die Etymologie der Wurzel liegt im Dunkel, da auch semitische Parallelen rar sind. Als ursprüngliche Grundbedeutung wird oft „verdrehen / beugen / krümmen“ angenommen (vgl. Knierim 1965, 237-239; Knierim 1976, 244f). Die Semantik „krümmen“ ist aber nur Ps 38,7
Selbst wenn man an einem etymologischen Kern „Beugung“ beim Verb festhalten möchte, spielt dieser keine Rolle mehr für den Gebrauch des Nomens (vgl. von Rad, 276, und Koch 1986, 1161, der sogar einen denominierten Grundstamm annimmt). עָוֹן ‘āwon bezeichnet ein sündiges Tun und seine Folgen.
2.2.3.3. עָוֹן ‘āwon als Sündenbegriff: Wie חטא ḥṭʼ und פשׁע pš‘ ist auch עָוֹן ‘āwon ein Formalbegriff, der als solcher über verschiedene Tatbestände ausgesagt werden kann (vgl. Knierim 1976, 247).
Obwohl עָוֹן ‘āwon in kultischen Formeln, z.B. im Schuldbekenntnis, eine wichtige Bedeutung bekommen hat, stammt der Begriff ursprünglich nicht aus dem Kultus. Er bringt vielmehr eine für den altorientalischen Menschen alltägliche Lebensauffassung zum Ausdruck: den Zusammenhang von Tat und Tatfolge (vgl. Knierim 1965, 185-237; Knierim 1976, 246f). Dieser → Tun-Ergehen-Zusammenhang
Das eigene Schuldbewusstsein ist – entgegen früherer Annahmen – kein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von den anderen Sündenvokabeln: Gen 15,16
Damit ergibt sich ein Übersetzungsproblem: עָוֹן ‘āwon ist weder mit „Strafe“ noch mit „Schuld“ hinreichend wiederzugeben. Vergehen, Schuld und Strafe sind im Begriff als Einheit zusammengedacht. Im Grunde beschreibt עָוֹן ‘āwon nicht entweder das eine oder das andere, sondern die Tatsphäre insgesamt: „die unheilschwangere Tat, die verhängnisvolle Folgen auslösen und den Täter bei seiner Verantwortung behaften wird“ (Schenker 2001, 733).
Der עָוֹן ‘āwon wird dabei als „dingähnliche Substanz“ (Koch 1986, 1164) vorgestellt, zuweilen auch als „eine eigenwirksame, zurückschlagende Macht“ (ebd.): Sie findet (מצא mṣʼ) ihren Urheber (2Kön 7,9
Wie schon im Blick auf חטא ḥṭʼ und רשׁע rš‘ beobachtet, übt die Schuld-Strafe-Sphäre ihre Macht nicht nur auf den Täter aus, sondern wirkt auch auf die Gemeinschaft (Lev 22,16
Eine Abwendung des Schuldverhängnisses vom Täter ist von JHWHs Willen abhängig und nur ihm allein möglich (vgl. 2Sam 24,10
Besonders im Ritus des → Versöhnungstags
2.2.4. פשׁע pš‘ „brechen mit; Delikt / Verbrechen begehen“
2.2.4.1. Derivate der Wurzel פשׁע pš‘: Die Wurzel פשׁע pš‘ ist 41-mal als Verb (1-mal Nif., sonst Qal) und 93-mal als Nomen פֶּשַׁע pæša‘ belegt.
2.2.4.2. Grundbedeutung: Neben dem unspezifischen Gebrauch „sündigen / sich an jemandem vergehen“ hat das Verb פשׁע pš‘ an markanten Stellen die Bedeutung „abtrünnig sein“. Im Blick ist dabei eine Loslösung von Gott, von Menschen oder auch von verbündeten Völkern. Das Nomen פֶּשַׁע pæša‘ steht für Eigentumsdelikte, Sittenverstöße oder religiöse Vergehen. Das semantische Feld kann unter den Stichworten „brechen mit“, „Rechtsbruch“, „Verbrechen“ zusammengefasst werden (vgl. Knierim 1965, 178-180; Knierim 1976a, 490f; Seebass 1989). Die früher postulierte Grundbedeutung „Bestreitung / Rebellion“ (vgl. von Rad, 276) hält einer Überprüfung nicht stand.
2.2.4.3. פשׁע pš‘ als Sündenbegriff: פשׁע pš‘ hat rechtlichen Charakter und wird deshalb in besonderer Weise an seiner Auswirkung auf die Gemeinschaft und an ihren Normen gemessen. Wie bei den anderen Sündenbegriffen ist der → Zusammenhang von Tat und Folge
Dabei ist פשׁע pš‘ „ein außerordentlich starker Begriff“ (Knierim 1965, 180): „Wer pæša‘ begeht, rebelliert nicht einfach gegen Jahwe oder bäumt sich gegen ihn auf, sondern er bricht mit ihm, nimmt ihm das Seine weg, raubt, unterschlägt es, vergreift sich daran“ (Knierim 1976a, 493).
Diese Bedeutungsschwere der Vokabel schlägt sich besonders in der prophetischen Verkündigung nieder: פשׁע pš‘ wird zum Zentralbegriff ihrer Kult- und Sozialkritik (Jes 1,2
Bei einem „Verbrechen“ oder „Treubruch“ ist natürlich ein willentliches und bewusstes Verhalten vorausgesetzt, das hebt פֶּשַׁע pæša‘ von חַטָּאת ḥaṭṭāʼt oder עָוֹן ‘āwon ab (vgl. Cover, 32). Dennoch „bezeichnet der Begriff als solcher nicht die Gesinnung, sondern das Verbrecherische einer Tat, das im Wegbrechen von Eigentum oder im Bruch einer Gemeinschaft besteht“ (Knierim 1976a, 493). Die häufige Wendung פשׁע pš‘ + בְּ bə „brechen mit“ und damit „sündigen an“ (1Kön 8,50
2.2.5. Weitere Vokabeln
Neben den vier Hauptbegriffen gibt es weitere Vokabeln, die ein Verhalten als verfehlt klassifizieren, sei es ethisches Fehlverhalten (etwa בְּלִיַּעַל bəlijja‘al „Niederträchtigkeit“, z.B. Ri 19,22
Weil sie der göttlichen Weisheit entgegensteht, kann auch „Torheit“ als Sünde gelten (Schenker 2001, 731f.734, Boda 2009, 11.359-376). So wird die Wurzel נבל nbl I in der Bedeutung „töricht / gottlos“ zum formalen Sünden-Lexem (als Adjektiv z.B. in Dtn 32,21
2.3. Begriffe für Schuld
Das biblische Hebräisch kennt neben עָוֹן ‘āwon (s.o. 2.2.3.) zwei allgemeine Begriffe für Verpflichtung, die aus Schuld erwächst. Separat dazu hat sich eine spezielle Terminologie für ökonomische Verschuldung entwickelt, deren Wortfeld sich aber selten mit den Sündenbegriffen überschneidet (s.u. 3.8.).
2.3.1. אשׁם ʼšm „haftpflichtig sein / werden“
Die Wurzel אשׁם ʼšm ist im biblischen Hebräisch 35-mal belegt, davon 33-mal im Qal, je einmal im Nif. und Hif., sowie als Nomina 46-mal אָשָׁם ʼāšām, 19-mal אַשְׁמָה ʼašmāh und dreimal das Verbaladjektiv אָשֵׁם ʼāšem.
Das Nomen אָשָׁם ʼāšām ist mit „Schuld“ nur unzureichend wiedergegeben. Es bezeichnet nie das Vergehen, sondern immer nur seine Folge (vgl. Knierim 1971, 253; Janowski, 256). Darin steht der Begriff עָוֹן ‘āwon nahe, hat aber einen anderen Schwerpunkt: „‘āwōn spricht das Moment der Schwere, der Belastung, der Last (der Schuld) an, ’āšām dagegen das Moment des Verpflichtet-Seins (zur Schuldableistung)“ (Knierim 1971, 254).
Die Ableitungen der Wurzel אשׁם ʼšm lassen sich also mit dem Kunstwort „Schuldpflicht“ oder mit dem in der Alltagssprache gebräuchlichen „Haftpflicht“ bzw. „haftpflichtig sein / werden“ wiedergeben. Zu beachten ist jedoch, dass in den Aspekt der Verpflichtung die Ableistung („Haftpflicht erstatten“) eingeschlossen sein kann und die Haftpflicht zuweilen auch als abstractum pro concreto die materielle Wiedergutmachung bezeichnet (vgl. Knierim 1971; Henning-Hess, 618-621).
Die Verpflichtung kann auf zwischenmenschlicher Schuld (Gen 26,10
Besonders der ʼāšām-Ritus, das „Entschuldigungsopfer“ (vgl. Hieke, 85-88) oder „Haftungsopfer“ (Schenker 2001, 732; traditionell: „Schuldopfer“), macht deutlich, dass es im Kontext von אשׁם ʼšm um die Wiederherstellung eines gestörten Lebenszusammenhanges durch Ausgleichsmaßnahmen geht (Lev 5,14-26
Die Opferdarbringung selbst ist nicht der Schadenersatz, sondern ein eigenständiger Beitrag zur Störungsbehebung: Im ʼāšām-Ritus wird das Bewusstwerden und Anerkennen von Schuld ausgedrückt (vgl. Henning-Hess, 621). Während die Kompensation und Erstattung des Schadens zivilrechtlich vollzogen wird, ist das kultrechtliche „Entschuldigungsopfer“ ein Angebot Gottes, das Vergebung und somit Versöhnung mit Gott ermöglicht (Hieke, 86f.286).
Das Bewusstwerden, also die subjektive Komponente, ist in den priesterlichen Texten das semantische Proprium von אשׁם ʼšm. Nach Milgrom (1976, 3-12) meint אשׁם ʼšm in Lev 4f nicht den „state of guilt“, sondern den daraus hervorgehenden psychologischen Effekt: „feel guilt“. Dies wird von Kiuchi (1987, 31-34) korrigiert in „realize guilt“; vgl. Rendtorff, 137-142.152f: wer „sich seiner Schuld bewusst wird“; so auch Hieke, 85-87.235.246f; Boda 2009, 62-64; anders Sklar 2005, 24-41: „to suffer guilt’s consequences“, was allerdings nur zum nichtpriesterlichen Sprachgebrauch, nicht aber in Lev 4f passt (vgl. Boda 2009, 63f).
2.3.2. חוב ḥwb „schuldig sein / werden“
Von der Wurzel חוב ḥwb, die später zu einer wichtigen Sündenvokabel wird (s.u. 3.8.), sind in der Hebräischen Bibel nur je einmal ein Verb und ein Nomen belegt. חוב ḥwb Pi. in Dan 1,10
2.4. Das Böse: die Wurzel רעע r‘‘ „böse / schlecht sein“
Das Gegensatzpaar „gut“ und „böse“ bestimmt in den meisten Sprachen das moralische Koordinatensystem. Das ist auch im biblischen Hebräisch so (allerdings mit zwei wesentlichen Besonderheiten: s.u. 2.4.1. und 2.4.2.). Das hebräische Pendant zu „böse“ und Antonym zu טוֹב ṭôv „gut“ ist das Adjektiv רַע ra‘, das oft substantiviert verwendet wird. Aus seiner Wurzel רעע r‘‘ sind außerdem das Verb im Qal, Nif. und Hif. sowie die Substantive רָעָה rā‘āh, רֹעַ ro‘a und מֵרַע mera‘ abgeleitet. Insgesamt gibt es 780 Belege im Alten Testament. Davon zu unterscheiden ist רעע r‘‘ II, eine Nebenform des west- und südsemitischen rṣṣ „zerbrechen“.
Im Folgenden sind die semantischen Besonderheiten der Wurzel und die Schnittmenge mit dem Konzept „Sünde“ darzulegen:
2.4.1. רעע r‘‘ wird funktional bestimmt: Während in europäischen Gegenwartssprachen beim Gegenteil von „gut“ in einen moralischen (böse, evil, mal) und einen funktionalen (schlecht, bad, mauvais) Begriff unterschieden wird, umfasst die hebräische Wurzel רעע r‘‘ I beides.
Das Adjektiv רַע ra‘ kann mit „schlecht“ oder „böse“ bzw. substantiviert „das Schlechte“ oder „das Böse“ übersetzt werden, das Verb mit „schlecht oder böse sein“ (Qal), „schlecht oder böse ergehen bzw. behandelt werden“ (Nif.) und „Schlechtes oder Böses verursachen“ (Hif.). Das Substantiv רֹעַ kann nicht nur „Boshaftigkeit“, sondern auch „Schlechtigkeit“ im Sinne von Unbrauchbarkeit (Jer 24,2f.8
Das semantische Feld der Wurzel רעע r‘‘ umfasst dementsprechend neben willentlicher moralischer Bosheit (s.u. 2.4.5.) auch materiellen (z.B. Gen 41,19f
2.4.2. רעע r‘‘ bezeichnet sowohl moralisch Böses als auch physisches Übel: Aus dem funktionalen Charakter von רעע r‘‘ ergibt sich die zweite Abweichung vom Konzept des „Bösen“ im europäischen Sprachraum. Während wir in der Regel intuitiv zwischen dem moralischen Bösen, das einer tut, und dem physischen Übel, das einer erleidet, unterscheiden und die abendländische Philosophie dementsprechend malum physicum und malum morale auseinander hält, steht die hebräische Wurzel רעע r‘‘ gleichermaßen für böses Wollen und Tun wie für übles Ergehen. Auch wenn es legitim (und manchmal notwendig) ist, in der Übersetzung zwischen aktiv verübtem und passiv erlittenem רָעָה rā‘āh, also zwischen „Bösem“ und „Unheil“, zu differenzieren – letztlich liegt die Eigenart der hebräischen Auffassung gerade darin, beides zusammenzudenken.
Der semantische Schlüssel dafür ist die Opferperspektive, aus der רעע r‘‘ immer gedacht ist: Was mit רעע r‘‘ qualifiziert wird, muss nicht unbedingt moralisch böse sein (Täterperspektive), aber es ist – oder scheint – immer schädlich oder lebensabträglich für jemanden oder etwas (Opferperspektive).
So bedeutet der Kausativstamm (רעע r‘‘ Hif.) zunächst einfach „schlecht handeln, jemandem Schwierigkeiten machen, Schaden zufügen“ (Stoebe, 801). Der Schwerpunkt der Aussage liegt auf der Wirkung, nicht auf der moralischen Absicht, die dahinter steht. Auch unbeabsichtigtes (Gen 43,6
Das „Böse“ wird in der Hebräischen Bibel also nicht von seiner Absicht, sondern von seiner Wirkung her als solches beurteilt (vgl. Brandenburger, 29). An diesem Punkt berührt es sich eng mit dem hebräischen Sündenkonzept. „Böses“, das Menschen verüben, wird dann auch oft parallel mit den gängigen Sündenvokabeln beschrieben. Das „Böse in JHWHs Augen“, d.h. in seinem Urteil, ist die prägnanteste Definition von Sünde schlechthin (s.u. 2.4.5.). Wo allerdings Gott „Böses / Unheil“ (רעע r‘‘) verursacht, wird das nie mit den Sündenlexemen bezeichnet (vgl. Schenker 2001, 728).
2.4.3. רעע r‘‘ ist relational und subjektiv: Hinter dem hebräischen רעע r‘‘ steht genau wie hinter unserem „böse“ keine objektiv messbare Tatsache, sondern immer ein Urteil, das je konkret für jemanden und nur in bestimmter Hinsicht gilt. Das Böse ist relational und subjektiv. Wie subjektiv die Einschätzung als רעע r‘‘ sein kann, illustriert etwa Jon 4,1.6
2.4.4. Der Kontrastbezug von טוֹב ṭôv „gut“ und רַע ra‘ „böse“: Gut und Böse sind in der Hebräischen Bibel klare Gegensätze wie Licht und Finsternis – sowohl im Tun (Jes 5,20
Oft werden טוֹב ṭôv und רַע ra‘ auch pointiert als die Alternativen einer Entscheidung genannt. Den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen ist ein Zeichen der kognitiven und moralischen Reife (Dtn 1,39
Vor diesem Hintergrund muss die viel diskutierte Wendung „Gut und Böse“ in der Bezeichnung des → Paradiesbaumes
2.4.5. Das „Böse“ als Sündenbegriff. Das Konzept „Sünde“ als ein von Gott als falsch beurteiltes Verhalten findet in der stereotypen Wendung, ein Tun oder Verhalten sei „böse in JHWHs Augen“ (רַע בְּעֵינֵי יְהוָה ra‘ bə‘ênê jhwh), seinen knappsten und präzisesten Ausdruck in der Hebräischen Bibel. Manchmal geht es dabei um ein spezielles Verhalten oder Vorhaben (Gen 38,10