Deutsche Bibelgesellschaft

Religionsunterricht, evangelisch

(erstellt: Januar 2015)

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1. Einführung

Es gibt in Deutschland kein Unterrichtsfach, das im Kanon der Unterrichtsfächer eine rechtlich vergleichbare Stellung besitzt wie der Religionsunterricht (RU). Im Grundrechtsteil des Grundgesetzes (GG) vom 23. Mai 1949 wird er als „ordentliches Lehrfach“ für alle öffentlichen Schulen festgeschrieben (Art. 7.3 GG). Unter staatlicher Aufsicht wird er von der jeweiligen Religionsgemeinschaft inhaltlich verantwortet und deshalb als „evangelischer“, „katholischer“, „jüdischer“ oder auch „islamischer“ Religionsunterricht erteilt. Dadurch haben alle Schülerinnen und Schüler grundsätzlich die Möglichkeit, sich mit grundlegenden Fragen der persönlichen Sinn- und Handlungsorientierung zu befassen und damit auch im Raum der Schule von ihrem Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit Gebrauch zu machen (Kirchenamt der EKD, 2014, 38-42). Gleichzeitig bringt der dem religiösen Neutralitätsgebot verpflichtete freiheitliche Rechtsstaat dadurch zum Ausdruck, dass sich seine Werteordnung nicht von selbst trägt, d.h., dass religiöse Überzeugungen nicht nur für die persönliche Lebensorientierung bedeutsam sind, sondern auch für die Gestaltung eines solidarischen Gemeinwesens.

2. Historische Aspekte

Dass der Religionsunterricht in Deutschland eine vergleichsweise starke Stellung besitzt, ist auch ein Erbe der Reformation des 16. Jahrhunderts (Schröder, 2007), die die Schule für die weltliche und die religiöse Erziehung in die Pflicht genommen hat, weil Bildung sowohl dem Leben als auch dem Glauben dient, der verantwortungsbewussten Ausübung des weltlichen Berufs und der religiösen Mündigkeit gleichermaßen (Kothmann, 2014). Evangelisch-reformatorisches Bildungsdenken bezieht sich bis in die Gegenwart auf die jüdisch-christlichen Grundlagen des Bildungsbegriffs, nach denen sich das Personsein des Menschen in der Beziehung zu Gott und dem Nächsten verwirklicht. Mit der Betonung der in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründenden Würde und Unverfügbarkeit jeder einzelnen Person wehrt dieses Bildungsverständnis gleichzeitig jeder einseitigen Funktionalisierung von Bildung.

Dass Bildung mehr ist als Wissen und Lernen, Ausbildung und ökonomische Leistungsfähigkeit hat die Bildungsdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auch im Jahr 2003 in der Debatte um eine zeitgemäße Bildung zum Ausdruck gebracht, wenn dort Bildung in einem umfassenden Sinn als „Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens“ (Kirchenamt der EKD, 2003, 66) verstanden wird.

Vor dem Hintergrund der engen Verbindung von Staat und Kirche, Bildung und Religion müssen sowohl die historisch bedeutsame Rolle des schulischen Religionsunterrichts verstanden werden, der nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht an den Volksschulen im 19. Jahrhundert in einem Umfang von bis zu sechs Wochenstunden erteilt wurde, wie generell die rechtlichen Regelungen über das Verhältnis von Staat und Kirche in Verfassung, Gesetzen und Verträgen.

2.1. Religionsunterricht in der Weimarer Reichsverfassung und im Grundgesetz

Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 14. August 1919 hat in Art. 137.1 zwar eine organisatorische Trennung von Staat und Kirche angeordnet, beiden aber keineswegs die Kooperation und die Beibehaltung besonderer Beziehungen untersagt (Art. 137.5 WRV). Die Weimarer Religionsartikel wurden über Art. 140 als vollgültiges Verfassungsrecht in das GG von 1948 inkorporiert. Sie schließen auch die Bestimmungen über den Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach in Verantwortung der betreffenden Religionsgemeinschaften ein (Art. 149 WRV). Sowohl die WRV als auch die Väter und Mütter des GG räumten damit der Religion bewusst einen Ort im öffentlichen Raum und der staatlich verfassten Schule ein (Heinig, 2014, 144).

2.2. Religionsunterricht in der DDR

Eine ganz andere Entwicklung nahm der Religionsunterricht zwischen 1945 und 1989 in der DDR (Hueck, 2000). Im Konflikt zwischen dem sozialistischen Staat und den christlichen Kirchen um gesellschaftliche Einflussnahme wurde der konfessionelle Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in der „demokratischen Einheitsschule“ im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie 1946 verboten. Zwar garantierte die Verfassung der DDR (VerfDDR) vom 7. Oktober 1949 in Art. 40 den selbstorganisierten und -finanzierten Religionsunterricht als Anmeldefach, erteilt von durch „die Kirche ausgewählten Kräften“ in den Räumen der Schule, allerdings führte die zunehmend marxistische Ausrichtung der DDR seit Beginn der 1950er Jahre zu einer Reihe von kirchenfeindlichen Maßnahmen, die die Durchführung des freiwilligen Religionsunterrichts zunehmend erschwerten. Nachdem seit 1958 der Religionsunterricht nur noch an der acht Jahre umfassenden Grundschule erteilt werden durfte und die Zahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler dramatisch zurückging, zog sich die Kirche seit Beginn der 1960er Jahre mit ihrem Unterricht aus den Schulen zurück und erteilte ihn fortan in Form der gemeindlichen Christenlehre (Aldebert, 1990), eingebettet in das kirchliche Leben vor Ort. Auch wenn es seit 1970 zu einer wechselseitigen Anerkennung von Kirche und Staat in der DDR kam („Kirche im Sozialismus“) und damit auch zu gewissen Zugeständnissen an die Kirche, gelang es dem SED-Regime doch, die ehemals evangelischen Stammlande weithin zu entchristlichen.

3. Rahmenbedingungen

3.1. Gesellschaftlich

Die Situation des Religionsunterrichts in Deutschland ist nicht nur durch die Wiedervereinigung unübersichtlicher geworden. Auch religiös-kulturelle Pluralisierungstendenzen, wie das verstärkte Aufkommen des Islam, und der gesamtgesellschaftliche Bedeutungsverlust der Kirchen und nicht zuletzt die Individualisierung von Lebensstilen haben den schulischen Religionsunterricht, insbesondere in seiner konfessionsbestimmten Gestalt, begründungspflichtig werden lassen. Diese Entwicklungen werfen mittlerweile nicht mehr nur in religiös heterogenen oder den mehr oder weniger entchristlichten Regionen Deutschlands die Frage nach alternativen Organisationsformen religiös-ethischer Bildung auf.

Was die Anerkennung des Faches betrifft, so sprechen die relativ wenigen Abmeldungen allerdings noch immer für eine recht hohe Akzeptanz bei den → Schülerinnen und Schülern (Kirchenamt der EKD, 2014, 27;81; Rothgangel, 2009, 381; Petzold, 2003, 33-40) und den Eltern (Kinder, 2003).

Gleichwohl sind für diese Wertschätzung meist weniger familiäre oder regionale Bedingungen ausschlaggebend als vielmehr die Gestaltung des Unterrichts: wenn Schülerinnen und Schüler sich aktiv und handlungsorientiert mit lebensnahen Themen auseinandersetzen können, bejahen sie den Religionsunterricht, auch wenn dessen Beliebtheit generell in der Sekundarstufe etwas abnimmt.

Trotz der positiven Einschätzung des Religionsunterrichts, werfen die wachsende Zahl von Konfessionslosen (ca. 30 %) und der Kirchendistanzierten einerseits, wie auch die Pluralisierung der religiösen Landschaft andererseits die Frage nach der Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts auf, zumal sich in den vergangenen Jahren nicht nur unterschiedliche Praxen von Religionsunterricht in Deutschland entwickelt haben, sondern auch, weil sich im Bereich der Europäischen Union (Popp, 2013) alternative Formen wie die eines multireligiösen Religionsunterrichts (z.B. in England, Schweden, und einzelnen Schweizer Kantonen) mitunter als zukunfts- und pluralitätsfähiger empfehlen (Kirchenamt der EKD, 2014, 26), obwohl dieser von den Schülerinnen und Schülern zumindest in England mehrheitlich als nicht relevant für deren „spirituelle oder moralische Entwicklung“ empfunden wird, was u.a. auch an der systematischen Ausblendung der Wahrheitsfrage liegen dürfte (Barnes, 2014, 112). Zumindest nach geltendem Recht sind solchen Formen religiösen Unterrichts in Deutschland durch Art. 7 GG ohnehin noch deutliche Grenzen gesetzt (Heckel, 2013, 401-418).

3.2. Rechtlich

3.2.1. Art. 7 GG

Die wichtigsten Rechtsgrundlagen zum Religionsunterricht finden sich im Grundgesetz, nachgeordnet in den einzelnen Landesverfassungen, Schulgesetzen, den Staat-Kirche-Verträgen der Länder, den staatlichen Schulordnungen und kirchlichen Verordnungen über die Erteilung des Religionsunterrichts. Grundlegend sind die Bestimmungen aus Art. 7.2 und 3 GG:

„(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.“

Dieser Artikel enthält sowohl eine Institutionsgarantie des Religionsunterrichts wie auch das Grundrecht auf dessen Erteilung. Dieses Grundrecht steht den betreffenden Schülern bzw. ihren Eltern und den betreffenden Religionsgemeinschaften zu. Es steht in einem engen Zusammenhang mit der in Art. 4 GG geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit, die sowohl die Bekenntnisfreiheit, die Religionsausübungsfreiheit und die religiöse Vereinigungsfreiheit einschließt („positive Religionsfreiheit“), wie auch die sogenannte „negative Religionsfreiheit“, das heißt, die Freiheit areligiös zu sein, aus der Kirche auszutreten, sich vom Religionsunterricht abzumelden (Art. 7.2 GG) und das Recht des Lehrers, nicht gegen seinen Willen Religionsunterricht erteilen zu müssen (Art. 7.3 GG).

1) „Ordentliches Lehrfach“

Als gemeinsame Angelegenheit von Kirche und Staat unterliegt der Religionsunterricht der staatlichen Schulaufsicht. Der Staat ist für die Einrichtung des Faches verantwortlich und trägt die Kosten für Lehrpersonal und Sachbedarf. Die inhaltliche Ausgestaltung des Faches obliegt der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Als ordentliches Lehrfach ist der Religionsunterricht ein obligatorisches Unterrichtsfach, dessen Einrichtung nicht im Belieben des Staates steht, allerdings von einer Mindestschülerzahl abhängig sein kann (z.B. in Bayern/Saarland: 5; Niedersachsen: 11). Als ordentliches Lehrfach ist der Religionsunterricht prinzipiell mit anderen Fächern gleichgestellt. Das heißt, der Religionsunterricht muss bei der Stundenzahl in angemessener Weise berücksichtigt werden, die Religionslehrkräfte haben Sitz und Stimme in der Lehrerkonferenz und der Schulträger trägt die Kosten für Lehrpersonal und Sachbedarf.

2) „[…] in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“

Dass der Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt wird, bedeutet: (1) Der Religionsunterricht ist bekenntnisbezogen und keinesfalls ein (nur) religionskundlicher Unterricht. Denn ein solcher würde nicht nur die „Religionsfreiheit der Schüler, Eltern und ihrer Religionsgemeinschaften“ verletzen, sondern dem jeder Religion eigenen, existentiell betreffenden Wahrheitsanspruch mit einer bestimmten Sinn- und Handlungsorientierung widersprechen (Heckel, 2013, 392-394). Von Art. 7.3 GG ebenfalls nicht gedeckt ist ein interreligiöser Unterricht, weil der Religionsunterricht der Entfaltung des jeweils „eigenen Glaubensbekenntnisses“ dienen soll, der die Schülerinnen und Schüler nicht kontinuierlich „fremden Glaubenseinflüssen“ unterwirft (Heckel, 2013, 401). (2) In diesem Religionsunterricht geht es nach dem verfassungsrechtlich leitenden Religionsbegriff um Religion und Glaube im Vollsinn. D.h. Glaubenspraxis wird nicht nur geduldet, sondern ist staatlicherseits auch gewollt, wie verschiedene Schulordnungen deutlich machen, in denen Schulgebet, Einkehrtage und Schulgottesdienste verankert sind. (3) Die Auswahl der Religionslehrerinnen und -lehrer bedarf der kirchlichen Zustimmung (der „vocatio“ auf evangelischer und der „missio canonica“ auf katholischer Seite). (4) Die Lehrpläne für den Religionsunterricht werden einvernehmlich festgelegt, das heißt, von Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Religionsgemeinschaft erstellt und dem zuständigen staatlichen Ministerium genehmigt. (5) Es besteht ein Visitationsrecht durch Vertreter der betreffenden Religionsgemeinschaft. (6) Die Entscheidung über den Teilnehmerkreis obliegt der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Es können aber auf Antrag auch Schülerinnen und Schüler einen anderen Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit wie auch bekenntnislose Schülerinnen und Schüler zugelassen werden. In der Praxis machen davon in der Regel auch eine größere Anzahl an konfessionslosen und nichtchristlichen Schülerinnen und Schüler Gebrauch, nachdem die evangelischen Landeskirchen prinzipiell nur auf der Konfessionsbindung der Lehrkräfte und Inhalte bestehen („Zweier-Homogenität“).

3) „Grundsätze der Religionsgemeinschaften“ nach evangelischen Verständnis

Eine inhaltliche Bestimmung und Präzisierung der Grundsätze der Religionsgemeinschaften hat die EKD in einer „Gutachterliche[n] Äußerung zu verfassungsrechtlichen Fragen des Religionsunterrichtes“ vorgenommen. Gemäß dieser Entschließung versteht sich der evangelische Religionsunterricht nicht nur als Unterricht aus und in einer bestimmten Religion, sondern er schließt auch den Unterricht über nichtchristliche wie auch areligiöse Lebens- und Weltdeutungen ein, der dadurch „den Dialog und die Zusammenarbeit einübt“ (Stoodt, 1985, 147). Nach Art. 7.3 GG sind alle öffentlichen (d.h. staatliche oder kommunale Schulen) zur Erteilung des Religionsunterrichts verpflichtet und grundsätzlich alle Religionsgemeinschaften zur Erteilung von Religionsunterricht berechtigt. Ausnahmen ergeben sich zum einen aus schulorganisatorischen Gründen, weshalb der Religionsunterricht wegen geringer Schülerzahl zum Teil auch in Form eines außerschulischen zentralen Unterrichts erteilt wird (häufig der Fall im jüdischen, neuapostolischen oder griechisch-orthodoxen Religionsunterricht). Zum anderen bedarf die Einrichtung eines Religionsunterrichts als gemeinsame Angelegenheit von Staat und jeweiliger Religionsgemeinschaft, stets eine von dieser autorisierten Instanz, die deren „Grundsätze“ gegenüber dem Staat festlegen kann. Weil muslimische Gemeinden traditionell kein den christlichen Kirchen vergleichbares Mitgliedschaftsrecht kennen, gestaltet sich die Einrichtung eines flächendeckenden bekenntnisorientierten Islamischen Religionsunterrichts (IRU) bislang schwierig, weil noch in keinem Bundesland ein muslimischer Zusammenschluss als Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7.3 GG anerkannt ist .

4) Verpflichtete Schularten/Abmeldung vom Religionsunterricht

In Ländern, in denen es keinen Wahlpflichtfachbereich, sondern eine Ersatzfachregelung gibt, sind alle Schülerinnen und Schüler des betreffenden Bekenntnisses zur Teilnahme am Religionsunterricht ihrer Konfession verpflichtet. Aufgrund von Art. 4 GG besteht jedoch die Möglichkeit, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Bei Abmeldung besteht die Pflicht zur Teilnahme am Ethik-, Philosophie- oder Werte-und-Normen-Unterricht, sofern ein solches Fach eingerichtet ist. Die Berechtigung zur selbstständigen Abmeldung eines Schülers oder einer Schülerin vom Religionsunterricht ergibt sich in der Regel aus der Religionsmündigkeit, mit Vollendung des 14. Lebensjahres gemäß § 5 des Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG):

„Nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs steht dem Kind die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das zwölfte Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden.“ In Bayern, Rheinland-Pfalz oder auch im Saarland ist eine selbstständige Abmeldung der Schülerinnen und Schüler durch anderslautende Regelungen in den Landesverfassungen ohne Zustimmung der Eltern erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres möglich („partielles Bundesrecht“).

3.2.2. Alternativen und territoriale Ausnahmebestimmungen

1) Hamburg

Ein alternatives Organisationsmodell gibt es in Hamburg. Auf der Grundlage von Art. 7.3 GG wird in der Hansestadt ein von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (EKiN) verantworteter „Religionsunterricht für alle“ erteilt, d.h. ein Religionsunterricht, der für Schülerinnen und Schüler aus anderen Religionsgemeinschaften offen ist. Dieser dialogische Religionsunterricht zielt auf die Realbegegnung mit Angehörigen anderer Religionen und Kulturen als Unterrichtsprinzip im Kontext der von mehr als hundert verschiedenen Religionsgemeinschaften geprägten Hansestadt. Der für alle – mit Ausnahme der katholischen Schüler – gemeinsame Religionsunterricht weiß sich in didaktischer Hinsicht dem Begegnungs- und Erfahrungslernen verpflichtet. Ausgangspunkt des Unterrichts sind nicht ein geschlossenes konfessionelles oder religiöses System, sondern gemäß seines lebensweltlichen Ansatzes, die religiösen Fragestellungen der Schüler. Religiöse Alphabetisierung heißt in diesem Modell demzufolge nicht Sozialisation in eine bestimmte Konfession hinein, sondern gemäß des didaktischen Strukturprinzips des Perspektivenwechsels, Befähigung „zu einem humanen Umgang mit Vielfalt“ (Doedens/Weiße, 2009, 133). Gleichwohl kommt in diesem – aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht unumstrittenen Modell (Link, 2002) – der Begegnung und Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition aufgrund ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Relevanz, eine besondere Bedeutung zu. Nach den Vorstellungen der EKiN, muslimischer Verbände, der jüdischen Gemeinde und der Senatsverwaltung soll dieser Religionsunterricht künftig zu einem sowohl von der evangelischen Kirche als auch den anderen Religionsgemeinschaften verantworten Religionsunterricht weiterentwickelt werden (Keßler, 2014, 47ff.), was aus verfassungsrechtlichen Gründen zumindest bislang nicht möglich ist (Heckel, 2013, 405).

2) Bremen

Eine territoriale Ausnahmebestimmung für den konfessionellen Religionsunterricht sieht das Grundgesetz für Bremen vor. Art. 141 GG besagt: „Art 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.“ Diese Bestimmung wurde von der Regierung der Hansestadt bei den Verhandlungen zum Grundgesetz zur conditio sine qua non ihres Beitritts zu dessen Geltungsbereich gemacht (Lott/Schröder-Klein, 2009, 111), da in Bremen traditionell ein bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht in Biblischer Geschichte (BG) auf „allgemein christlicher Grundlage“ von Lehrerinnen und Lehrern erteilt wird, die sich dazu bereit erklärt haben. Über die Teilnahme der Kinder an diesem Unterricht entscheiden die Erziehungsberechtigten. Unabhängig davon haben die Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften das Recht, „außerhalb der Schulzeit in ihrem Bekenntnis oder in ihrer Weltanschauung diejenigen Kinder zu unterweisen, deren Erziehungsberechtigte dies wünschen“ (BremVerf Art. 32). Das zentrale Anliegen dieser Regelung besteht darin, dass – ähnlich dem Hamburger Modell – die Kinder und Jugendlichen im Religionsunterricht nicht nach Konfessionsgruppen getrennt werden, sondern gemeinsam lernen. Das Konzept eines undogmatischen, überkonfessionellen Religionsunterrichts begründet sich aus einer besonderen schulischen Tradition, die sich bis in 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.

3) Berlin

Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVewG) ist Art. 141 GG auch auf Berlin anwendbar. Seit 2006 schreibt das Schulgesetz für das Land Berlin (SchulG) – bestätigt durch einen im Jahr 2009 gescheiterten Volksentscheid für eine Wahlpflichtregelung zwischen Religions- und Ethikunterricht – für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 einen für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtenden Ethikunterricht vor (Häusler, 2009, 70ff.). Es besteht in Berlin nicht die Möglichkeit den Ethikunterricht durch den Religionsunterricht zu ersetzen, dieser kann nur als zusätzliches Unterrichtsfach besucht werden. Der Religionsunterricht ist hier kein ordentliches Unterrichtsfach, sondern gemäß dem Berliner Schulgesetz ausschließlich „Sache der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ (§ 13 Abs. 1 S. 1 SchulG). Den Schülerinnen und Schülern des betreffenden Bekenntnisses steht es frei, diesen freiwilligen Unterricht zusätzlich zu besuchen.

4) Brandenburg

Ob Art. 141 GG auch auf die neuen Bundesländer anwendbar ist, wurde verfassungsrechtlich bislang nicht abschließend geklärt, wobei sich bis auf Brandenburg alle anderen ostdeutschen Länder für die Einführung des Religionsunterrichts nach Art. 7 GG entschieden haben. Brandenburg beschritt unmittelbar nach der politischen Wende 1989/90 unter Berufung auf Art. 141 GG in Fragen der religiösen und ethischen Bildung einen eigenen Weg. Auch die mehrheitlich konfessionslosen Schülerinnen und Schüler sollten eine Grundinformation über die Weltreligionen und eine grundlegende ethische Orientierung erhalten. Ähnlich wie in Hamburg ging es auch in Brandenburg um die grundsätzliche Frage nach der Angemessenheit des grundgesetzlich vorgesehenen RU in einem Kontext, in dem nur noch die Minderheit (ca. 25 %) an ihm teilnimmt. Deshalb richtete die Brandenburger Landesregierung nach einem Modellversuch 1995 das ordentliche Unterrichtsfach Lebenskunde – Ethik – Religionskunde (→ LER) ein.

Nach den Bestimmungen des Brandenburgischen Schulgesetzes (BbgSchulG) soll das Fach die „Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren. Das Fach dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen“ (§ 11 Abs. 2 BbgSchulG).

Als staatliches Pflichtfach kann LER im Bereich der religiösen Bildung unter Wahrung religiöser und weltanschaulicher Neutralität nur eine bekenntnisfreie Religionskunde bieten, im Sinne einer Einsicht in die religiösen Prägungen unserer Alltagskultur mit dem Ziel einer Haltung des Respekts und des aufgeklärten Interesses gegenüber der Vielfalt von religiösen Bindung, Traditionen und Orientierungen.

Nachdem die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, die CDU/CSU Bundestagsfraktion und eine Elterninitiative gegen die Pflichtfachregelung vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geklagt hatten, kam es auf Vorschlag des BVerfG im Juni 2002 zu einer Vereinbarung zwischen Staat und Kirche, der seither denjenigen Schülerinnen und Schülern den Besuch des bekenntnisorientierten RU anstelle des Faches LER ermöglicht, die dieses gegenüber der Schule erklären (Borck, 2009).

3.3. Bildungspolitisch/schulisch

Der Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach“ unterliegt nicht nur in passiver Weise den Maß- und Vorgaben der Institution Schule, sondern er ist auch aktiv herausgefordert an den Aufgaben und der Entwicklung einer pluralitätsfähigen Schule mitzuwirken.

„Aus der Stellung des Religionsunterrichts in einer Schule, die zunehmend von religiöser und weltanschaulicher Vielfalt geprägt ist, ergeben sich neue Aufgaben für diesen Unterricht, und zwar im Blick auf die Schule insgesamt. Ein Religionsunterricht, der dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dient, sollte gleichzeitig als ein Ort verstanden und ausgestaltet werden, an dem die in der eigenen Schule vorhandene sowie mehr oder weniger bewusst gelebte Vielfalt reflexiv aufgenommen und eingeholt werden kann. Im Religionsunterricht können verschiedene Arten und Weisen, mit dieser Vielfalt umzugehen, ausdrücklich thematisiert werden. Darüber hinaus kann gemeinsam erörtert werden, welche Formen des Umgangs mit der Pluralität sich mit welchen Folgen verbinden und welche deshalb den Vorzug vor anderen verdienen. So können die Schülerinnen und Schüler sich Kriterien erarbeiten oder aneignen, die ihre Urteils- und Handlungskompetenz auch im Alltag der Schule stärken“ (Kirchenamt der EKD, 2014, 103).

Weil sich das deutsche Schulsystem „nahezu permanent in einem Reformprozess“ (Schröder, 2012, 538) befindet, erwachsen daraus für die Religionslehrkräfte unabhängig von den schulart- und schulstufenspezifischen Anforderungen, Herausforderungen und Chancen zugleich. In diesem Zusammenhang ist gegenwärtig vor allem an die Einführung von Bildungsstandards und das Kompetenz-Paradigma zu denken, die Reduzierung bzw. Verlängerung der Grundschulzeit von sechs auf vier bzw. von vier auf sechs Jahre, die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit, die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung, die größere Autonomie von Schulen wie nicht zuletzt auch der Ausbau von gebundenen und offenen Ganztagsangeboten, die meist Bildung, Erziehung und Betreuung zu verbinden suchen. Diese qualifizierte pädagogische Intention wird von den Kirchen nicht nur begrüßt, sondern in enger Kooperation über den RU hinaus durch verschiedene Initiativen und Projekte unterstützt (Kirchenamt der EKD, 2004).

3.4. Kirchlich

3.4.1. Die Identitätsproblematik im Kontext der Pluralität

Im Herbst 2014 hat die EKD unter dem Titel „Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“ eine neue Stellungnahme zum Religionsunterricht vorgelegt, die „im Kern an den besonders in der Denkschrift ‚Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität‘ von 1994 sowie in den ‚Zehn Thesen zum Religionsunterricht‘ von 2006 vorgezeichneten Grundlinien festhält (Kirchenamt der EKD, 2014, 14). Die Dokumente stellen, wie auch die Verlautbarung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) aus dem Jahr 2006 über „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ ein klares Bekenntnis zum konfessionell bestimmten Religionsunterricht dar, wenngleich sich die EKD schon 1994 für einen weitergehenden konfessionell-kooperativen Religionsunterricht aussprach (Kirchenamt der EKD, 1997, 65-73) und ihr Votum für einen „konfessionell-kooperativen, dialogisch ausgerichteten Religionsunterricht“ in der aktuellen Denkschrift noch einmal deutlich unterstreicht (Kirchenamt der EKD, 2014, 14).

Die Begründung des konfessionell organisierten Religionsunterrichts erfolgt jedoch auf beiden Seiten meist in ganz ähnlichen Argumentationsgängen. Sie sind typisch für die Positionierung der Kirchen in der Gegenwart, die mit der Identitätssuche des modernen Menschen im Kontext der religiös-weltanschaulicher Vielfalt legitimiert wird.

In einem argumentativen Dreischritt wird zunächst auf den immensen individuellen Orientierungsbedarf in einer Situation hochgradiger Pluralisierung, funktionaler Differenzierung und Individualisierung verwiesen. Diese gesellschaftliche Verfasstheit, die eine Auflösung traditioneller Bindungen, Orientierungslosigkeit und Sinnverlust mit sich bringt, macht nach Ansicht der Kirchen die staatliche Förderung von Reflexionsräumen wie den schulischen Religionsunterricht unerlässlich. In einem zweiten Schritt wird schließlich die durch die gesellschaftlichen Megatrends verschärfte Identitätsproblematik ins Licht des christlichen Sinnangebotes gerückt. Denn nur durch die Verankerung der individuellen Existenz in einem größeren transzendenten Sinnzusammenhang könne das existenziell verunsichernde Ganzheitsdefizit ausgeglichen werden. Schließlich wird auf die besonderen Bedingungen von Identitätsbildung und Intersubjektivität in einer pluralistischen Gesellschaft Bezug genommen und betont, dass gerade in einer hochgradig pluralen Situation die Artikulation eines konfessionellen Standpunktes unerlässlich sei. Erst ein solcher schaffe die Voraussetzung einer konstruktiven Auseinandersetzung mit anderen Überzeugungen und leiste damit einen wirksamen Beitrag zur individuellen religiösen Identitätsbildung (Kirchenamt der EKD, 2014, 42). Zudem fördere ein eigener stabiler konfessioneller Standpunkt die Fähigkeit zu einer starken Toleranz, die nicht primär auf die Nivellierung von Differenzen, sondern auf ein bewusstes Ja zur gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt zielt (Schmitz, 2002). Zur Identitätsbildung gehört demnach unabdingbar auch die von der aktuellen Denkschrift nachdrücklich eingeforderte Pluralitätsfähigkeit, die „ohne Vertrautheit mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen nicht denkbar ist, da ein reflektierter Umgang mit diesen auch ein Wissen und Verstehen dessen einschließt, was jeweils beurteilt werden soll“ (Kirchenamt der EKD, 2014, 67). Demzufolge ist ein identitätsbildender, pluralitätsfähiger RU aus kirchlicher Perspektive in konfessioneller Bindung und dialogischer Offenheit zu gestalten.

3.4.2. Begründungszusammenhänge

Vor diesem Hintergrund lassen sich die in den „Zehn Thesen des Rates der EKD“ (Kirchenamt der EKD, 2006) vorgetragenen Begründungszusammenhänge für den schulischen Religionsunterricht einordnen, der auch in kirchlicher Perspektive aus pädagogischen Gründen als tragendes Element der Bildungsarbeit und des schulischen Erziehungsauftrags plausibel gemacht werden muss (Kirchenamt der EKD, 2014, 34).

Neben der ethischen Grundlagenproblematik und den Herausforderungen der religiös-weltanschaulichen Pluralität, die kirchlicherseits als vorrangige Schlüsselprobleme identifiziert wurden, ist darüber hinaus auf die kulturgeschichtliche Begründung des Religionsunterrichts zu verweisen, wonach sich „Geschichte und Kultur in Deutschland, in Europa sowie im weltweiten Zusammenhang […] ohne Vertrautheit besonders mit dem Christentum, dem Judentum und dem Islam nicht angemessen verstehen“ lassen (Kirchenamt der EKD, 2006, 1). Dieser Begründungszusammenhang lässt sich durch eine die gegenwärtige Gesellschaft und Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen berücksichtigende situativ-pragmatische Argumentation ergänzen, die sich an deren Kontaktsituationen mit dem Christentum, wie auch deren „religiösen Bedürfnissen und Interessen“ orientiert und die eine gewisse Vertrautheit mit der christlichen Tradition im Sinne einer „Bildungsdiakonie“ als sinnvoll erscheinen lassen. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, dass eine zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen nur noch wenig an religiöser Sozialisation aus Familie und Kirche mitbringt (Kirchenamt der EKD, 2006, 10).

Noch grundsätzlicher erinnert die anthropologische Begründung daran, dass zu den Grundkonstituenten menschlichen Seins nicht nur die Sozialität und Sprachfähigkeit gehören, sondern auch die Fähigkeit der Selbstranszendierung, weshalb sich ein evangelisches Bildungsdenken grundsätzlich am „Leitbild einer gottoffenen Humanität“ orientiert (Kirchenamt der EKD, 2006, Vorwort). D.h., der Religionsunterricht ist nicht zuletzt dadurch von bleibender Bedeutung, dass er grundsätzliche Fragen nach dem Ort und dem Selbstverständnis des Menschen in der Welt stellt und ein rein säkulares Welt- und Menschenverständnis kritisch hinterfragt.

3.5. Politisch

Aus politischer Perspektive wird der Religionsunterricht meist im Hinblick auf dessen aufklärerisch-informierende und ethisch-zivilisierende Funktion gewürdigt. Nicht zuletzt auch, weil religiös motivierte Konflikte und Gewalttaten zweierlei deutlich machen: (1) Religion ist nicht einfach eine Privatangelegenheit. Ob sie zu einem friedlichen Miteinander beiträgt oder nicht, ist von öffentlichem Interesse und aus diesem Grund auch ein unverzichtbarer Gegenstand schulischer Bildung. (2) Die freiheitliche Werteordnung trägt sich nicht von selbst. Sie ist voraussetzungsvoll und das hat auch mit Religion zu tun. Religiöse Überzeugungen sind bedeutsam für die persönliche Handlungsorientierung, aber auch für die Gestaltung eines funktionierenden Gemeinwesens. Nachdem der Staat die Bestimmung des moralisch Gebotenen nicht selbst in die Hand nehmen kann, es sei denn um den Preis der Beeinträchtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Einzelnen, kommt dem Religionsunterricht im Rahmen eines Wahlpflichtbereichs zur religiös-ethischen Bildung eine bleibende Bedeutung zu.

4. Praxis

4.1. Situation den einzelnen Bundesländern

Die weithin positive Resonanz des Religionsunterricht bei Schülerinnen und Schülern zeigt sich an den relativ niedrigen Abmeldequoten. Selbst in Berlin, wo nur 21,6 % der Bevölkerung der evangelischen Kirche angehören und Ethik seit 2006 Pflichtfach für alle ist, wird der Religionsunterricht über den Kreis der Kirchenmitglieder hinaus von 25,87 % der Schülerinnen und Schüler besucht. Ähnliches gilt beispielsweise auch für Niedersachsen. Im Hinblick auf die jeweilige Wochenstundenzahl gibt es auffällige Unterschiede. In manchen Ländern wird er nur einstündig erteilt (Mecklenburg-Vorpommern; Sachsen), in der Regel aber meist zweistündig (z.B. Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen, Bayern). In Rheinland-Pfalz dagegen kann der Religionsunterricht je nach Jahrgangsstufe eine, zwei oder sogar zweieinhalb Stunden betragen. Gleichwohl ist zu beobachten, dass etwa in Schleswig-Holstein vermeintlich wegen der Konfirmandenarbeit der Religionsunterricht nicht in allen Klassen angeboten wird. Vor allem durch Unterrichtsausfall reduziert sich die Wochenstundenzahl in verschiedenen Gegenden zum Teil deutlich, betroffen sind davon insbesondere Grund- und Berufsschulen. Darüber hinaus gibt es für den Religionsunterricht als Abiturprüfungsfach im Abitur spezifische Hürden.

„Begünstigt werden solche Tendenzen durch eine weithin zu beobachtende Konzentration auf die sogenannten PISA-Fächer, aber auch durch veränderte Steuerungssysteme im Bildungswesen im Sinne einer eigenverantwortlichen Schule, die nun eine von der Öffentlichkeit kaum zu bemerkende Vernachlässigung bestimmter Bildungsbereiche zulassen. So fällt der Religionsunterricht dann einfach deshalb aus, weil die Unterrichtsversorgung in den anderen Fächern als wichtiger angesehen wird oder der Schwerpunkt des Schulprofils z.B. allein auf naturwissenschaftliche-mathematische Fächer gelegt wird“ (Kirchenamt der EKD, 2014, 27).

Die Voraussetzung der kirchlichen Bevollmächtigung wird in manchen Ländern dadurch unterlaufen, dass entgegen den gesetzlichen Bestimmungen fachfremde Religionslehrkräfte den Religionsunterricht erteilen. Unterschiedlich geregelt ist in den einzelnen Landeskirchen die Erteilung des Religionsunterrichts durch Pfarrerinnen und Pfarrer. Im Gegensatz zu den staatlichen Lehrkräften sind diese (es sei denn, es handelt sich um hauptamtliche Schulpfarrer) meist weniger religionspädagogisch qualifiziert und aufgrund ihrer geringen Stundenzahl an Schulen häufig weniger in der Schule integriert. Umgekehrt können sie angesichts der zunehmenden Ganztagesschulen und der wachsenden Bedeutung des Schullebens eine Brücke hin zum Angebot kirchlicher Jugendarbeit darstellen (Rothgangel, 2009, 381f.).

4.2. Konfessionelle Kooperation

Die Auflösung der überkommenen volkskirchlichen Strukturen, eine nachlassende konfessionelle und kirchliche Bindung („Privatisierung des Glaubens“) und die weltanschaulich-religiöse Pluralisierung der Gesellschaft werfen seit einigen Jahren vermehrt die Frage nach der Zukunft des mono-konfessionellen Religionsunterrichts auf. Nachdem sich die EKD (1994) und die DBK (1996) in den jeweiligen Verlautbarungen zum Religionsunterricht für eine Zusammenarbeit der Konfessionen ausgesprochen hatten, formulierten die beiden Kirchen im Jahr 1998 eine gemeinsame Erklärung „Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht“, in der Grundlagen sowie konkrete Formen und Möglichkeiten der konfessionellen Kooperation erörtert werden. Das Dokument nimmt dabei die drei Ebenen der Schulpraxis, der Schulverwaltung und der Lehrerbildung in den Blick und unterbreitet jeweils konkrete Vorschläge für die Zusammenarbeit.

Die Möglichkeiten der Kooperation reichen dabei von gemeinsamen Elternabenden zum Religionsunterricht, dem wechselseitigen Gebrauch von Unterrichtsmaterialien zu bestimmten Themen, der Zusammenarbeit bei der Erstellung von Stoffverteilungsplänen, der wechselseitigen Einladung von Religionslehrkräften zu bestimmten Themen und Fragestellungen, einem zeitweiligen Teamteaching, gemeinsamen Unterrichtsprojekten, der Zusammenarbeit in der Schulpastoral/Schulseelsorge bis hin zur gemeinsamen Gestaltung von schulischen und kirchlichen Feiertagen. Wenngleich beide Kirchen am bekenntnisorientierten Religionsunterricht festhalten, sprechen sie sich damit grundsätzlich für einen Unterricht in ökumenischer Gesinnung aus.

Gemäß ihres weithin gemeinsamen Verständnisses von Religionsunterricht im Kontext der Pluralität geht es den Kirchen im Bereich der konfessionellen Kooperation um die Ausbildung einer gesprächs- und verständigungsfähigen Positionalität im Spannungsfeld von Relativismus und Fundamentalismus, nicht aber um die Etablierung eines die konfessionellen Differenzen nivellierenden Ökumenischen Religionsunterricht, der mit Art 7.3 GG nicht vereinbar wäre. Die schulart- und schulstufenübergreifende Praxis der interkonfessionellen Zusammenarbeit im Bereich von Fachkonferenzen, bei verschiedenen Formen gemeinsamen Unterrichts oder der Gestaltung des religiösen Schullebens, hat in vielen Bundesländern bereits eine lange Tradition, wenngleich die konkrete unterrichtliche Zusammenarbeit, wie die in manchen Lehrplänen festgeschriebenen Kooperationsthemen, gewiss noch ausgebaut werden kann. Wobei auch zu bedenken wäre, ob sich nur kontroverstheologische Themen für einen gemeinsamen Unterricht anbieten, oder nicht auch solche, die die bereits bestehende Gemeinsamkeit stärken und vertiefen.

Eine Vorreiterrolle beim Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht (KRU) hat das Land Baden-Württemberg eingenommen, weil es hier schon vor der EKD-Denkschrift von 1994 Überlegungen für einen solchen Unterricht gab und seit dem Schuljahr 2005/06 aufgrund einer Vereinbarung zwischen beiden christlichen Kirchen Konfessionell-Kooperativer Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen durchgeführt wird. In einem verbindlichen Rahmen wurden dabei das Verfahren, die Genehmigung, die Unterrichtsplanung und auch die Bildungsstandards für diesen Unterrichtsversuch in ausgewählten Klassenstufen festgelegt. Trotz des organisatorischen Aufwandes und auch mancher schulorganisatorischer Schwierigkeiten vermitteln die inzwischen durchgeführten Evaluationen des Versuchs ein weithin positives Bild, insbesondere hinsichtlich der von beiden Kirchen angestrebten Hauptziele des Konfessionell-Kooperativen Religionsunterrichts, nämlich ein „vertieftes Bewusstsein von der eigenen Konfession zu schaffen“, „die ökumenische Offenheit der Kirche erfahrbar zu machen“ und „die authentische Begegnung mit der anderen Konfession zu ermöglichen“ (Weinhardt, 2014, 22).

5. Herausforderungen

Trotz seiner festen Verankerung in der Schule und seiner grundgesetzlichen Bestandsgarantie sieht sich der Religionsunterricht seit Jahren immer wieder unter Legitimationszwang. Bei genauerer Betrachtung auch der bundesdeutschen Diskussion wird allerdings schnell deutlich, dass es dabei weniger um eine womöglich ersatzlose Streichung des Faches geht, als vielmehr um die Frage, welche Organisationsform religiös-ethischer Bildung an der öffentlichen Schule im Kontext einer pluralen Gesellschaft die sachgemäße und zukunftsfähige ist und ob möglicherweise Ethik als Pflichtfach für alle auch den Bereich der religiösen Bildung mit abdecken kann (Berlin).

Die unterschiedlichen Praxen von Religionsunterricht in Deutschland geben darauf – unbeschadet der grundgesetzlichen Vorgaben – unterschiedliche Antworten, für die jeweils religionspädagogische, religionssoziologische, historische, rechtliche oder/und auch theologische Gründe angeführt werden. Angesichts der Bedeutsamkeit sinnstiftender Lebensorientierungen für die individuelle Persönlichkeitsbildung ist dabei der Regelfall eines bekenntnisorientierten Religionsunterricht, als einem Lernen aus, über und von einer konkreten Religion im Kontext einer weiter zunehmenden gesellschaftlichen Pluralität keinesfalls überholt. Vielmehr kommt ihm in der Dialektik von Beheimatung und Begegnung nach wie vor eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Diese kann er aber nur erfüllen, wenn seine Positionalität durch eine in der jeweiligen Konfession beheimatete Lehrkraft sachlich und methodisch kompetent vertreten wird, die aber gleichzeitig bereit und fähig ist, die Standpunkhaftigkeit dieses Unterrichts in der konfessionellen Kooperation wie auch einer punktuellen interreligiösen Öffnung zu bewähren. Aus diesem Grund sollten Lehrkräfte bereits in der Ausbildung durch phasenweises gemeinsames Lernen von- und übereinander lernen.

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