Deutsche Bibelgesellschaft

Luther, Martin (1483-1546)

Andere Schreibweise: Martinus Lutherus; Junker Jörg

(erstellt: Februar 2021)

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1. Martin Luther als Schlüsselfigur der Geschichte christlich-religiöser Erziehung und ihrer Reflexion

1.1. Christentum als Bildungsreligion: Luther als Schlüsselfigur mit Tradition und Prägekraft

Dem Christentum ist von seinem jüdischen Wurzelgrund her ein Impuls zum Lehren und Lernen eingestiftet. Der Jude Jesus, von Zeitgenossen unter anderem als „Meister“ angeredet (Mt 23,8; Joh 13,13f. u.ö.), hat mit dem Kreis der Jünger eine Lerngemeinschaft konstituiert; nach Kreuzestod und Auferstehung Jesu gehörte für alle „Christianer“ (Apg 11,26) u.a. die lernende und lebensgestaltende Vorbereitung auf die Taufe zu den gebotenen Praxen.

Auf diesen Gründungsimpuls christlicher Religion greift auch Martin Luther zurück. Er formt diesen Impuls allerdings in einer Weise um, die für die später entstehende Katechetik (→ Katechese/Katechetik) und Religionspädagogik (→ Religionspädagogik) charakteristisch bleiben wird: Mit seiner ausdrücklich theologischen Reflexion auf die Notwendigkeit von (christlich-religiöser) → Erziehung und Unterrichtung schreibt er evangelischer Kirche und → Theologie nicht nur die Anerkennung von Lehren und Lernen als Grundvollzug christlicher Existenz ein, sondern auch die Einsicht in die Gestaltungsbedürftigkeit dieses Grundvollzugs und die Notwendigkeit von Dauerreflexion auf ihr erzieherisches und unterrichtendes Handeln.

Luther steht somit in einer Traditionslinie, die sich über Alkuin und → Augustinus bis zu Jesus von Nazareth und in die Hebräische Bibel zurückverfolgen lässt, wird aber zugleich zur zentralen Referenz für alle spätere Wahrnehmung evangelischer Bildungsverantwortung – obwohl neben, mit und nach ihm auch andere Reformatoren als Vordenker und mustergültige Praktiker von Erziehung und Unterricht tätig werden, etwa → Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen, Johannes Sturm, Johannes Brenz, Johannes Calvin u.a. (Schröder, 2007, 59-67; sowie Mertz, 1902).

1.2. Reformation und Erziehung: eine kirchlich-theologische Reformbewegung mit pädagogischen Implikaten und Folgen

Die → Reformation ist eine kirchlich-theologische Reformbewegung mit pädagogischen Implikationen, Impulsen und Folgen (insgesamt siehe Kaufmann, 2016, besonders 195-200). Diese ergaben sich freilich nicht am Rande, sondern aus der Mitte der reformatorischen Einsicht: Wenn für jeden Einzelnen allein im Glauben (→ Glaube) erfahrbar wird, dass → Gott die ihm eigene Gerechtigkeit allein aus Gnade „für mich“ gelten lässt, und der Glaube allein in der Heiligen Schrift (→ Bibel) und im Blick auf Jesus Christus Nahrung findet, dann tut jeder und jede Einzelne gut daran, die Bibel lesen und verstehen zu können. Diesen Glaubenseinsichten – rückblickend formelhaft verdichtet zu sola fide, sola gratia, sola scriptura, solus Christus (dazu hier: Kirchenamt der EKD, 2014, 44-93) – gilt es im eigenen → Leben Gestalt zu geben; über sie gilt es außerdem Rechenschaft ablegen zu können gegenüber denen, die sie nicht teilen. Man kann deshalb sagen: „Die Reformation will zu gebildetem Glauben führen“ (Kirchenamt der EKD, 2014, 37).

Voraussetzung dafür, dass die Reformation Unterricht und Erziehung einen außerordentlich hohen Stellenwert beimessen konnte, war, dass in der frühen Neuzeit in mehrfacher Hinsicht – durch die Renaissance und deren Bild des Menschen als faber mundi (Schaffer der Welt), durch die Reformation und deren Botschaft von Rechtfertigung und Priestertum aller Getauften, durch die Entdeckung der neuen Welt und des Fernen Ostens, durch Naturwissenschaften, Erfindungen und die Blüte der Stadtkultur – das Bewusstsein erschüttert wurde, es gäbe nur eine unumstößliche → Wahrheit, die von einer Institution, dem Papst und seiner katholischen Kirche, repräsentiert würde. Wenn es mehrere legitime Weisen der Wirklichkeitsdeutung gibt, dann muss der bzw. die Einzelne sich – möglichst gut begründet und seinerseits artikulationsfähig – entscheiden, welcher er Recht gibt und in der eigenen Lebensführung folgt. Dies wiederum erfordert Kenntnis und Verstehen, Unterricht und Lernen.

Dieser – hier idealtypisch umrissenen – Logik folgt durchaus auch Luthers erziehungsbezogenes Denken; so trägt er wesentlich dazu bei, dass Unterricht und Erziehung zu einem der kulturgeschichtlich wichtigsten Felder wurden, auf denen sich die Konkurrenz der Konfessionen entfaltete (etwa Nipperdey, 1983).

In Anbetracht des beklagenswerten Zustands des mittelalterlichen Schulwesens (→ Schule) – Schulbildung war ein Privileg v.a. adeliger Frauen und angehender Geistlicher; Gegenstand der Unterrichtung waren überwiegend geistliche Stoffe, kaum einmal notwendiges Weltwissen; Lehrersein war ein ungeschützter Titel, der häufig ohne jede Qualifikation ausgeübt wurde – verfolgte Martin Luther eine zweifache Stoßrichtung. Einerseits wandte er sich gegen das bisherige klerikal-monastisch bestimmte Schulwesen: gegen dessen Inhalte, gegen dessen alleinige Ausrichtung auf geistliche Berufe, und gegen dessen Grundlagen, die Zwei-Stände-Lehre (z.B. Adel, WA VI, 407) und das Mönchsgelübde (→ Mönchtum/Klosterleben). Andererseits hat er die Familie als Lernort religiöser Elementarbildung identifiziert und zur Verantwortung gerufen, die Obrigkeiten von Städten und Ländern zur Einrichtung von Schulen für alle Bürger aufgefordert und eine Neuausrichtung der Inhalte religiöser Erziehung, die es in → Familie und Schule zu vermitteln gilt, herbeigeführt.

1.3. Luther als gelehrter theologischer Lehrer: Etappen einer Bildungsbiografie

Martin Luther lebte und lehrte fraglos in einer Zeit des Umbruchs und er selbst trug dazu seinerseits wesentlich bei. Seine Theologie ist Medium der Reflexion dieses Umbruchs – sie thematisiert aktuelle gesellschaftliche und kirchliche, systemische und individuelle Spannungen und dringt in vieler Hinsicht zu neuen Lösungen bzw. Sichtweisen durch. Nicht zuletzt betont sie in neuer Weise die Individualität und Erfahrung dessen, der Theologie treibt: Theologie galt ihm in mancher Hinsicht als Erfahrungswissenschaft, als sapientia experimentalis: „Sola […] experientia facit theologum“ (allein […] die Erfahrung macht den Theologen; Weimarer Ausgabe – Tischreden [WA-TR] I, 16,13; dazu Beutel, 2017b, 503-508). Zur rechten Weise Theologie zu studieren gehören seiner Ansicht nach „oratio, meditatio, tentatio“ – Gebet, Bedenken des Wortes, Anfechtung (WA L, 658f.; dazu Bayer, 1994, 55-106).

Für seine eigene Theologie gilt das jedenfalls: Sie ist nicht systematisch entworfen worden, geschweige denn in Gestalt einer konzisen → Dogmatik verdichtet, sondern in hunderten Schriften verschiedener Gattungen (dazu Beutel, 2017, 298-397) in unterschiedlichen Kontexten entfaltet worden. Sein immenses theologisches Werk (dazu etwa Bayer, 2016; Korsch, 2007; Schwarz, 2015) und seine Lebensgeschichte (dazu knapp Kaufmann 2016, ausführlich mit Rekapitulation der wichtigsten Schriften Brecht 1981-1987) müssen zusammengeschaut werden (Ebeling, 1985; Fallstudien dazu bei Korsch/Leppin, 2017).

Hier sei wenigstens die Bildungsbiografie Luthers knapp in Erinnerung gerufen: 1483 in Mansfeld in eine durchaus wohlhabende Bergwerkspächterfamilie hineingeboren, wurde Luther zusammen mit etlichen Geschwistern familial mit Sorgfalt erzogen und darüber hinaus ab 1490 in eine außergewöhnlich gute Schullaufbahn befördert: Lateinschule Mansfeld, Domschule Magdeburg, St. Georgsschule Eisenach heißen die Stationen. „Die Schule […] vermittelte ihm die sichere mündliche und schriftliche Beherrschung der lateinischen Sprache“, zudem „musikalische Kenntnisse und musikalische Praxis, namentlich durch das liturgische Singen des Schülerchors“ (Zschoch, 2017, 106f.). 1501-1505 absolvierte Luther an der Universität Erfurt ein humanistisches studium generale – bis zum Abschluss des magister artium. Anschließend begann er ein Studium der Rechte. Dies brach er jedoch ab – wegen eines Gelübdes, das er am 2. Juli 1505 bei Stotternheim angesichts eines Gewitters ablegte. Vielmehr wird er Mönch in einer observanten Kongregation des Augustinereremitenordens in Erfurt. 1506 legt er das monastische Gelübde (Profeß) ab, 1507 empfängt er die Priesterweihe, 1512 wird er nach mehrjährigem Studium scholastischer Theologie promoviert und zugleich Subprior des Wittenberger Konvents seines Ordens, 1513 wird ihm eine theologische Professur an der Wittenberger Universität übertragen – in Ausübung dieses Amtes legt er vor allem die biblischen Bücher aus, darunter mehrfach die Psalmen und den Römerbrief. 1517 beginnt er zu publizieren.

Bereits eine seiner ersten Veröffentlichungen – die 95 Thesen über den Ablass, am 31. Oktober 1517 öffentlich gemacht – führt zu einem scharfen Konflikt mit der päpstlichen Kirche; dieser steigert sich bis zur Exkommunikation im Januar 1521 und zur Verhängung der Reichsacht im Mai desselben Jahres.

10 Monate verbrachte Luther anschließend incognito auf der Wartburg und nutzte diese Zeit für konzentrierte theologische Arbeit, u.a. für die Übersetzung des griechischen Neuen Testaments in die deutsche Sprache. Ab 1523 nimmt er an der Universität Wittenberg seine professorale Lehrtätigkeit wieder auf, die er bis ein Jahr vor seinem Tod, bis 1545, fortsetzen wird – die Lehre vor Ort wird begleitet von der Publikation einer Fülle theologischer Schriften in deutscher und lateinischer Sprache, durch Religionsgespräche, (kirchen-)politische Interventionen, Briefe, Tischgespräche, Seelsorge als Orte literalen oder mündlichen Theologietreibens.

Bei allem Facettenreichtum von Luthers Schaffen gehört das theologische Lehren und Lernen fraglos zu dessen durchgängig gepflegten, für unverzichtbar erachteten Elementen. Die Weimarer Ausgabe (WA), die seit 1883 erscheint, legt mit ihren 96 Bänden (in 114 Teilen) – Schriften, Briefe, Bibelübersetzung, Tischreden – Zeugnis ab von der ungeheuren publizistischen Produktivität, die diesem Lehren und Lernen binnen 63 Lebensjahren vergönnt war.

2. Simul iustus et peccator: Theologische Anthropologie als Grundlage der Erziehung

Luther war Theologe und wollte auch nichts Anderes sein; nirgends hat er sich auf das Feld dessen begeben, was retrospektiv Pädagogik oder Erziehungswissenschaft heißen könnte. Seine Leistung im Blick auf Erziehung und Unterricht besteht in deren theologischer Begründung (dazu Abs. 3) und in der → Elementarisierung ihrer Gehalte (dazu Abs. 4). Voraussetzung für beides ist eine Theologie, die den lernenden (und lehrenden) Menschen zu verstehen sucht. Eine solche theologische → Anthropologie hat Luther in Thesen vorgelegt – Disputatio de homine (1536) – und darüber hinaus verschiedentlich immer wieder ins Spiel gebracht (Schröder, 2014a, Referenzen dort 142-144).

In methodischer Hinsicht lehrt seine Anthropologie unterscheiden – damit nimmt sie eine Grundfigur seiner Theologie auf (dazu Beutel, 2017a, 499-503). Redet man vom Menschen, muss man, so Luther, eine humanwissenschaftlich-philosophische und eine theologische Perspektive unterscheiden, zwischen dem Menschen in seiner Beziehung zu anderen Menschen und dem Menschen in seiner Beziehung zu Gott differenzieren. Erst dieses Unterscheiden ermöglicht, den Menschen so zu sehen wie er wirklich ist.

Die Pointe dieses Satzes lag für Luther darin, dass sich der wirkliche Mensch nicht allein durch Beobachtung und philosophische Reflexion erkennen lässt, sondern erst durch Einbeziehung einer theologischen Perspektive. Gemeint ist: nicht die Perspektive wissenschaftlicher Theologie, sondern diejenige Perspektive, die sich nicht anders als im Glauben erschließt.

In sachlicher Hinsicht betont Luthers theologische Anthropologie, dass „der Mensch ganz und ausnahmslos […] der Sünde und dem Tod verhaftet“ ist und durch nichts Anderes als „durch Glauben gerechtfertigt werde“ (Disputatio de homine, Thesen 25 und 32, WA XXXIX/1 175-177). Anders gesagt: Der Mensch begreift sich erst und nur dann wirklich als Mensch, wenn er sich durch Gott geschaffen, angeredet und angenommen glaubt; „Gottes Gerechtigkeit ist derjenige Vorgang, in dem er [sc. Gott] sich selbst und den Menschen verwirklicht“ (Korsch, 2017, 120).

Erst im Glauben bzw. aus theologischer Perspektive lassen sich diejenigen Ambivalenzen und Spannungen erkennen, die des Menschen Wirklichkeit kennzeichnen: das Zugleich von Sünder-Sein und Gerechtfertigt-sein, das Leben-führen-müssen und das Nicht-leben-können, das Handeln-können und Sich-selbst-entzogen sein (dazu Barnbeck/ Neddens). Es liegt Luther somit fern, ein optimistisches Bild vom Menschen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu zeichnen – anders als es ca. 250 Jahre später die Aufklärung tun wird. Im Vergleich dazu trägt sein Menschenbild pessimistische Züge, was die dem Menschen innewohnenden Kräfte und Potentiale angeht – doch eben damit beansprucht er der Wirklichkeit des Menschen gerecht zu werden. Zudem wird seine Anthropologie verkannt, wenn man sie „negativ“ nennt: Luther denkt den Menschen vielmehr sub specie Dei – als von Gott durch Gesetz wie Evangelium angeredet und als von Gott zur Antwort befähigt – und auf diese Weise einzigartig wertgeschätzt. In didaktischer Hinsicht impliziert diese Anthropologie, dass eine Erziehung aus Glauben den Edukanden mit einem Vertrauensvorschuss begegnet – der Glaube, die Daseinsgewissheit, die den Erziehenden trägt, befähigt ihn dazu, Schülerinnen und Schüler als von Gott angeredete und zur Antwort fähige Geschöpfe anzusehen (Preul, 2003, 27f.).

3. Erziehung als „weltlich Ding“, das aus Glauben nottut: Theologische Begründungen pädagogischen Handelns und Denkens

Martin Luther, im mittelalterlichen Schulwesen nicht nur aufgewachsen, sondern zum Professor für biblische Theologie geworden, hat in seinen reformatorischen Hauptschriften aus dem Jahr 1520 wie an zahlreichen anderen Orten, bis hin zu Tischreden, immer wieder Unterricht und Erziehung thematisiert – drei seiner Publikationen werden gemeinhin als „Schulschriften“ angesprochen: „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520; WA VI, 404-469, darin vor allem 461f.), „An die Ratsherrn aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ (1534; WA XV, 27-53), und „Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle“ (1530; WA XXX/2, 517-588).

Luthers gedanklicher Weg führt dabei stets „von der ‚Theologie‘ zur ‚Pädagogik‘“ (Asheim, 1961, 16), genauer gesagt: bis an die Schwelle der Pädagogik. Er entwickelt eine theologische Argumentation zu Gunsten von Schulen, Katechismen, Lernen, die angereichert wird durch pragmatische Vorschläge.

Näherhin begegnen mehrfach folgende Begründungsmuster theologischer Art: Schule und Unterricht dienen der Erfüllung von Gottes Gebot (gemeint ist insbesondere das vierte, das sogenannte Elterngebot; z.B. Ratsherrn, WA XV, 32). Sie sind ein Mittel im Kampf gegen den Teufel, der Menschen irreführt und in seinen Umtrieben durchschaut werden muss (Ratsherrn, WA XV, 31); sie sind Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott für dessen Schöpfungsgaben (→ Schöpfung), insbesondere für die den Menschen geschenkte Vernunft (Ratsherrn, WA XV, 48).

Unterstützend führt Luther Argumente weltlich-funktionaler Art an: Schule und Unterricht wehren der Barbarei, sie dienen dem Wohlergehen des Gemeinwesens, indem sie Menschen qualifizieren für ihre Aufgaben in Beruf und Obrigkeit, und sie sind nicht zuletzt notwendig, um das zu lernen, was für das Verstehen der Heiligen Schrift erforderlich ist. Im Blick auf die Organisation von Schule und Unterricht entfaltet Luther einen schulgeschichtlich äußerst bedeutsamen Gedankengang: Ureigenster Träger von Erziehung und Unterricht sind die Eltern der Heranwachsenden, doch diese verfügen teils nicht über die Geistesgaben und die Einsicht sich dieser Aufgabe anzunehmen, teils haben sie keine Zeit oder es mangelt anderweitig an Ressourcen. Deshalb soll sich stattdessen die Obrigkeit, die Regierung der jeweiligen Kommune bzw. des Territoriums, der Errichtung von Schulen, der Einstellung von Lehrern und der Abfassung von Schulordnungen und Lehrplänen annehmen (exemplarisch Ratsherrn, WA XV, 33f.). In der späteren deutschen Schulgeschichte ließ Luthers Gedanke die Schulen zunächst für Jahrhunderte zur gemeinsamen Sache von Staat und Kirche werden und führte dann – vollendet in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 – zur Verstaatlichung der Schule und Abschaffung jedweder geistlichen Schulaufsicht.

Nicht wenige seiner Überlegungen sind für ihre Zeit revolutionär und wegweisend: So sieht er Schulbildung für jedermann vor, für Jungen und auch für Mädchen (Adel, WA VI, 461), und zugleich ein gestuftes Schulwesen, dessen obere Stufen – hohe Schulen und Universitäten – für die besten Schüler reserviert sein sollen (Adel, WA VI, 461). So formuliert er eine bis dahin seit der Antike ungeahnte Wertschätzung des Lehrers, wenn er das Amt des Schulmeisters neben dem des Predigers für „das aller nützlichst, groessest und beste“ erklärt (Predigt, WA XXX/2, 580). So plädiert er für eine Konzentration des schulischen Unterrichts auf die Heilige Schrift – sie soll „die furnehmst und gemeynist lection sein“ (Adel, WA VI, 416) – und wirbt so für didaktische Prinzipien, die heute Elementarisierung, Nachhaltigkeit und ‚Bildung von Anfang an‘ heißen würden.

Im Hintergrund kommen grundlegende Denkfiguren zum Tragen:

3.1. Priestertum aller Getauften

Nach Luthers Worten sind „alle Christen [...] warhafftig geystlichs stands“, denn allein „die tauff, Euangelium vnd glauben [...] machen [...] geistlich vnd Christen volck“; „szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet“ (Adel, WA VI, 407). Diese Sätze zielen in erster Linie auf die Aufhebung der Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Stand. Sie dienen nicht minder dazu, jeden Einzelnen als Getauften in die Verantwortung zu nehmen für das Evangelium. Wer die Taufe empfangen hat, kann und soll in geistlichen Angelegenheiten auskunfts- und urteilsfähig sein – wie ein Priester der Ausbildung bedarf, so will und soll jeder Getaufte lernen, was es heißt, aus dem Zuspruch und Anspruch der Taufe zu leben: „Darümb hat ein iglicher Christ sein Leben lang gnug zu lernen und zu uben an der Taufe“ (Luther, 1989 [Großer Katechismus], 699). Dieses An-der-Taufe-Lernen schließt den Erwerb von Kenntnissen (mindestens der Gebote, des Vaterunsers und so weiter) und die Anwendung von Fähigkeiten (nämlich den Gebrauch jener Gebete, den Genuss der Sakramente, das Befolgen der Gebote) ein; entscheidend ist indes wie für Theologinnen und Theologen, so für alle Getauften, unterscheiden zu lernen (Preul, 2003, 18): „Das sachgemäße Unterscheiden – zwischen Gott und Mensch, Gesetz und Evangelium, Person und Werk, Glaube und Liebe […] – gilt Luther als Ausweis situationsgemäßer [sc. geistlicher] Urteilskraft […], weil erst im Vollzug dieses Unterscheidens das Wesen des Unterschiedenen erkannt und zur Wahrheit gebracht wird“ (Beutel, 2017a, 501).

Mit der Rede vom Priestertum aller Getauften nimmt Luther ein biblisches Bildwort auf, von dem sowohl im Neuen (1. Petr 2,9) als auch im Alten Testament (Ex 19,6) die Rede ist.

3.2. Zwei Regimente Gottes

Eine zweite konstitutive Denkfigur ist Luthers Rede von den zwei Regimenten Gottes. Ihr zufolge regiert Gott die Welt auf zweierlei Weise: geistlich durch Wort und Sakrament, weltlich durch Inanspruchnahme menschlicher Vernunft. In beiden Fällen nimmt Gott Menschen in den Dienst seiner Weltregierung.

Diese Menschen wiederum brauchen Bildung, um ihre Geschäfte sachgemäß führen zu können – die Pfarrer als Funktionsträger des geistlichen Regiments brauchen profunde Kenntnis der Heiligen Schrift und der Sprachen, in denen sie verfasst ist; um das weltliche Regiment zu führen, brauchen die Menschen vor allem Kenntnisse der freien Künste, dazu Geschichte und Mathematik (Predigt, WA XXX/2, 519).

Diese Zwei-Regimente-Lehre steht im Hintergrund, wenn Luther die „Ratsherrn aller Städte“ um Engagement für Schulen bittet, wenn er die Eltern ermahnt, ihre Kinder für diesen doppelten Dienst zur Verfügung zu stellen und zur Schule zu schicken. Obrigkeit und Eltern widmen sich mit Erziehung und Unterricht einer „erst[en] große[n] Sache, an der Christus und aller Welt viel liegt“ (Ratsherrn, WA XV, 30). In Luthers Worten: Sie wehren dem Teufel und entsprechen Gottes Gebot (Ratsherrn, WA XV, 31 und 32 u.ö.).

3.3. Erziehung – weltlich Ding und gutes Werk

Mit dieser Zwei-Regimente-Lehre hängt drittens auch der eigentümliche Doppelcharakter von Erziehung und Unterricht bei Luther zusammen. Auf der einen Seite sind sie wie alles Handeln des Menschen coram hominibus ein „weltlich Ding“, das mit der geschöpflichen Wirklichkeit des Menschen gegeben und mit menschlichen Mitteln möglichst gut zu gestalten ist. Auf der anderen Seite aber sind sie ein Gottesdienst, ein gutes Werk coram Dei – und zwar näherhin dann, wenn sie drei Bedingungen erfüllen: wenn die Erziehenden und Unterrichtenden das Evangelium im Glauben empfangen; wenn ihr Tun auf Gottes Gebot zurückzuführen ist, und wenn es gesellschaftlich nützlich ist (Preul, 2003, 23f.). Beide Qualitätszuschreibungen haben grundsätzliche Bedeutung: Als weltliche Aufgabe sind Erziehung bzw. Unterricht mit den Mitteln der Vernunft zu bearbeiten – Luther legitimiert so den Gebrauch pädagogischen Sachverstandes ohne etwaige theologische Bevormundung. Als gutes Werk gewinnen Unterricht und Schule für die Kirche insgesamt wie für alle Mitglieder nicht nur hohe Attraktivität, sondern im Glauben verankerte Verbindlichkeit.

Geschehen Erziehung und Unterricht in diesem Sinne aus Glauben, dann können sie sogar mehr leisten als bloß weltlich motivierte Erziehung vermag. Sie können die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich Menschen die Wahrheit des Evangeliums erschließt und sie zu Gottes Dienst bereit werden: „alszo ists war wie man sagt, das die eltern, ob sie sonst nichts zu thun hetten, mogen sie an yhren eigen kindern selickeit erlangen, an wilchen szo sie die zu gottis dienst recht zihen“, das heißt „sie leren got trawen, glauben vnd furchten vnd yhr hoffnung in yhn setzen, seinen namen ehren“. Wo dies unterbleibt, wo also etwa „die eltern yhre kind mehr tzihenn der welt zu lieb dann got“, heißt das nichts anderes als „sein eygen kindt dem abgot opffern vnnd vorbrennen“ – „weltlich [...] zihen heysz ich das, szo sie leren nit mehr suchen dan lust, ehre vnd gut odder gewalt disser welt“ (Von den guten Werken, WA VI, 253f., 252 und 255).

Kurz: Schule und Unterricht sind aus theologischen Gründen pädagogisch sinnvoll zu gestalten. Sie sind unverzichtbar sowohl für den Aufbau und den Erhalt des Gemeinwesens (Wirtschaft, Politik und Verwaltung) als auch für die Weitergabe des Glaubens und die Reformation der Kirche. Schon 1519 schrieb Luther: „Dan soll man der Christenheit widder helffen, tzo muß man furwar an den kindern anheben ...“ (Sermon, WA II, 170). Aus diesen Einsichten erklärt sich Luthers strategisches wie sein unmittelbar praktisches Engagement zugunsten von Schule und Unterricht.

4. Katechismus, Bibel, Gesangbuch: Martin Luther als Autor klassischer Medien religiöser Erziehung

Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg ermöglichte im 16. Jahrhundert erstmals die schnelle und öffentliche Verbreitung von Schriften – dies stellt neben einer allgemein-kulturgeschichtlichen und kommunikativen Epochenwende nicht zuletzt einen neuen Faktor im Bildungswesen dar. Entsprechend gebildete und vermögende Zeitgenossen dürften – ihre Auflagenhöhe weist darauf hin – Luthers bahnbrechende Übersetzung der Bibel ins Deutsche (1534 komplett) und viele weitere seiner Schriften privat erworben und im Familienkreis gelesen haben. Flugblätter, oftmals mit eindrücklichen Karikaturen oder Bildern versehen, kommunizierten reformatorische Anliegen auch in illiteraten Schichten. Kurzum: Die Reformation ist auch als „Medienereignis“ (Berndt Hamm) interpretierbar (→ Medien).

Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Wirkung der Bildungsmedien, die Luther verfasst hat. Sie sind zum einen wegen ihrer Inhalte bedeutsam, zum anderen wegen ihrer ästhetischen Qualität und zum dritten eben als Medien. Als Unterrichtsmedien verbanden der Katechismus, die Choräle und die Bibelübersetzung zudem alle relevanten Lernorte: Familie, niedere und höhere Schulen und sogar Universitäten, gottesdienstliche Gemeinde.

4.1. Großer und Kleiner Katechismus

Fraglos wurden Kinder auch im Mittelalter in der Familie erzogen, doch die unterrichtsförmige Ausgestaltung dieser Erziehung als bewusster Lernprozess im Dienst christlicher Religion wird von den Reformatoren eingeführt (Schilling, 2017). Weil „der gemeine Mann […] so gar nichts weiß von der christlichen Lehre, sonderlich auf den Dörfern“, muss er, so Martin Luther, fortan von den Pfarrern unterrichtet werden und seinerseits in seiner Eigenschaft als „Hausvater“ die eigene Familie einschließlich Gesinde unterrichten. Deshalb stellt Luther in seinem kleinen Katechismus im Jahr 1529 Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Erklärungen von Taufe, Beichte (!), Trauung und Abendmahl (→ Abendmahl/Eucharistie) sowie Gebete (→ Beten, christliche Perspektive) in der Form zusammen, „wie sie ein Hausvater seinem Gesinde einfältiglich furhalten soll“ (Luther, 1986 [Kleiner Katechismus], 501 und 507) – will sagen: Sie sollen in ein und demselben Wortlaut vorgetragen bzw. gelesen, memoriert, verstanden und – nicht zuletzt – praktiziert bzw. beherzigt werden (Luther, 1986 [Kleiner Katechismus], 504). Diese religiöse Elementarbildung war in Luthers Augen so wichtig, dass man all jenen, die „es nicht lernen wollen“, sagen solle, „wie sie Christum leugnen und keine Christen sind“ – sie sollen „auch nicht zum Sakrament gelassen werden […], auch kein Stück der christlichen Freiheit brauchen“ (Luther, 1986 [Kleiner Katechismus], 503). An kaum einer anderen Stelle wird so deutlich wie hier, dass Lernen und Glauben konstitutiv aufeinander angewiesen sind.

Für die Hand der Pfarrer schrieb Luther, ebenfalls 1529, den Großen Katechismus: Während der Kleine Katechismus als „Kinderlehre, so ein iglicher Christ zur Not wissen soll“ (Luther [Großer Katechismus], 1986, 554) konzipiert ist, stellt der Große Katechismus – vom Textumfang her etwa 6 mal so lang wie der Kleine Katechismus – Erläuterungen für die Multiplikatoren zur Verfügung. „Drümb bitte ich […] alle Christen, sonderlich die Pfarrherrn und Prediger, sie wollten […] sich täglich wohl drinnen uben und […] stetig anhalten […] mit lesen, lehren, lernen, denken und tichten [sc. nachsinnen] und nicht ablassen, bis solange sie erfahren und gewiß werden, daß sie den Teufel tot gelehrt und gelehrter worden sind, denn Gott selber ist […]“ (Luther [Großer Katechismus], 1986, 553). Luther selbst sagt von sich, er müsse „ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleib’s auch gerne“ (Luther [Großer Katechismus], 1986, 548).

Brilliert der Kleine Katechismus durch die Knappheit und Prägnanz seiner Texte – so wird das erste Gebot erläutert mit dem Satz „Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und vertrauen“ (Luther, 1986 [Kleiner Katechismus], 507) –, so bestechen die theologischen Erläuterungen des Großen Katechismus durch Tiefe und analytische Schärfe. So erläutert Luther im Blick auf das erste Gebot: „Worauf Du nu Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ „Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich drauf so steif und sicher, daß er auf niemand nichts gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon […]“ (Luther [Großer Katechismus], 560 und 561; zur Auslegung Peters, 1990-1994).

Der Kleine Katechismus ist bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts das Medium evangelisch-lutherischen Unterrichts in Schule wie Gemeinde gewesen – eine beispiellose Erfolgsgeschichte.

4.2. Bibelübersetzung ins Deutsche

Zwar gab es schon vor Martin Luther Bibelübersetzungen in die deutsche Sprache, doch erst seine Übertragung fand eine enorme Verbreitung, wurde kanonisch für die Lesungen in lutherischen Gottesdiensten und darüber hinaus sprachschöpferisch wirksam – ein „herausragende[s] Zeugnis der deutschsprachigen Literatur“ (Zschoch, 2017, 111).

Das Neue Testament übersetzte Luther aus dem Griechischen – binnen weniger Wochen während seines Wartburg-Aufenthaltes im Jahr 1521. „Die Übersetzung des Alten Testaments und der Apokryphen [sc. aus dem Hebräischen] erstellte Luther anschließend in enger Zusammenarbeit mit Wittenberger Kollegen; sie erschien abschnittsweise seit 1523 und war 1534 abgeschlossen“ (Zschoch, 2017, 111). Die Übersetzung im bewussten Rückgriff auf die griechischen bzw. hebräischen Texte ist keineswegs nur in quantitativer Hinsicht beeindruckend, sie muss als eine sprachbildende und theologische Meisterleistung gelten. Die für das Reformationsjubiläumsjahr 2017 über Jahre hinweg vorbereitete „Bibel nach Martin Luthers Übersetzung“ orientiert sich aufs Neue an seinem Stil und seiner Prägnanz – und das nach einem halben Jahrtausend (vergleiche dazu Bibelgesellschaft, 2017, 50-64)! Die Übersetzung erübrigt indes nach Luthers Auffasung keineswegs die Beschäftigung mit den originalsprachlichen Texten: „So lieb nu alls uns das Euangelion ist, so hart lasst uns aber den sprachen hallten. Denn Gott hat seyne schrifft nicht umb sonst alleyn ynn die zwo sprachen schreiben lassen, das alte testament ynn die Ebreische, das new ynn die Kriechische. Welche nu Gott nicht veracht, sondern zu seynem wort erwelet hat fur allen andern, sollen auch wyr die selbe fiur allen andern ehren“ (Ratsherrn, WA XV, 37).

Was die unterrichtliche Nutzung der Bibelübersetzung anbetrifft, schrieb Luther bereits 1520 in seiner so genannten Adelsschrift: „Fur allen dingenn solt in den hohen unnd nydern schulen die furnehmst und gemeynist lection sein, die heylig schrifft […] / Solt nit billich ein yglich Christen mensch bey seinen newn odder zehen iaren wissen das gantz heylig Euangelium […]“? (Adel, WA VI, 461; Ratsherrn, WA XV, 47). De facto aber sollte es bis ins 18. Jahrhundert dauern, bis bebilderte Auswahlbibeln und später Schulbibeln (→ Schulbibel) Eingang in den Unterricht fanden – zu umfangreich sind die biblischen Texte, zu bescheiden ist das Lernausgangsniveau der Schülerinnen und Schüler, zu teuer die Anschaffung der Bibel, zu gering das Auslegungsvermögen der Lehrer zumal des niederen Schulwesens. De facto galt der Katechismus als Laienbibel – mit Luther gesprochen: als „leien biblia, darin der gantze inhalt christlicher lehre, so einem iden christen tzur seligkeit tzu wissen notig, begrieffen“ (WA-TR V, 581).

Das Erzählen biblischer Geschichten (dazu Schröder, 2014b), erst recht das methodisch reflektierte Ringen um ihre angemessene Auslegung (dazu Schröder, 2012, 603-613) sind Unterrichtsszenarien, die weitgehend dem 19. und 20. Jahrhundert vorbehalten blieben.

4.3. Choräle und Gesangbuch

Als Schüler kirchlicher Schulen, Mönch und Pfarrer lag Luther das Singen am Herzen – er hat u.a. deshalb seine Theologie in Liederdichtungen überführt, ganz zu schweigen davon, dass er der Musik eine erbauende und heilsame Kraft zutraute.

Bereits 1525 gibt er selbst ein Gesangbuch für die Gemeinde heraus; schon 1523 beginnt er selbst Lieder zu dichten, Melodien zu komponieren oder lateinisches Liedgut zu übertragen (Übersicht bei Jenny, 1985; Krummacher, 2020, 76-82) – etliche der auf ihn zurückgehenden Lieder werden bis heute im „Evangelischen Gesangbuch“ gedruckt und gesungen. Es handelt u.a. sich um Bekenntnis- bzw. Glaubenslieder („Nun freut euch, lieben Christengemein“, EG 341), Katechismuslieder („Dies sind die heilgen zehn Gebot“, EG 231), Lieder zum Kirchenjahr und zur Liturgie („Vom Himmel hoch“, EG 24; „Verleih uns Frieden gnädiglich“, EG 421), Psalmlieder („Ein feste Burg ist unser Gott“, EG 362, oder „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“, EG 299).

Für religiöse Erziehung und Unterricht sind diese Lieder prägend geworden über die häusliche Andacht bzw. Morgen- und Abendgebet in der Familie, Schulgottesdienst und liturgische Rahmung von Religions- wie Konfirmandenunterricht, Kindergottesdienst und Gottesdienst (→ Gottesdienst, evangelisch).

5. Grenzen und bleibende Impulse

5.1. Grenzen

So innovativ das lutherische Erziehungsdenken zu seiner Zeit war und so produktiv es in Wirkung und Rezeption zur Geltung kam, so wenig ist zu verhehlen, dass es – von der Warte gegenwärtiger Religionspädagogik oder Bildungstheorie her betrachtet – in mancher Hinsicht limitiert blieb (Schröder, 2017; Schweitzer, 2016):

Martin Luther spricht noch nicht von „Bildung“ (in deutscher Sprache) und geht auch sachlich nicht von der Idee selbsttätiger Entfaltung des Individuums, allseitiger Entwicklung seiner Kräfte und Vermögen, kritischer Reflexion aus.

Luther begründet Erziehung und Unterricht theologisch: Es sind Gottes zwei Regimente, die sie erforderlich werden lassen; ein Recht auf → Bildung kraft des je eigenen Menschseins, modern gesprochen: als Menschenrecht, an dem beispielsweise Juden oder 'Heiden' genauso Anteil hätten wie etwa Menschen mit Behinderungen, lag noch keineswegs im Horizont seiner Argumentation.

Erziehung und Unterricht stehen bei Luther im Dienst des Glaubensverstehens, im Dienst beruflicher Qualifikation, im Dienst des doppelten Regiments Gottes. Die Vorstellungen davon, wie Erziehung und Unterrichten verlaufen, haben deshalb in aller Regel ein deduktives Gefälle: Sie zielen auf Aneignung von etwas, auf Verstehen und Einstimmen, auf Nacheifern gegenüber dem Lehrenden. Nicht im Blick ist insofern ein Lernprozess, der zu kritischen Distanz, zum eigenständig-dissidenten Urteil, zur freien Entscheidung befähigt und ermutigt, ein Lernprozess, der zur produktiven Weiterentwicklung von Glaubensüberzeugungen führt – so sehr gerade Luthers eigene Bildungsbiografie als mustergültiger Beleg für ein solches Verständnis gelten kann.

Auf der Linie des soeben Gesagten ist zudem nicht im Blick, dass Bildung nolens volens den „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger) nährt, dass sie Glauben zu einer „Option“ unter mehreren (Charles Taylor) eindampft und so die Kirche als (mit-) verantwortliche Institution vor ein „Dilemma“ stellt: das Dilemma, dass Bildung einerseits für den Glauben unverzichtbar ist, aber andererseits zugleich potentiell subversiv, kritisch, provozierend wirksam werden kann.

5.2. Bleibende Impulse

Namentlich für den deutschen Protestantismus lässt sich zeigen, dass er dank der doppelten reformatorischen Anfangsimpulse aus der Linie Luther-Melanchthon-Bugenhagen einerseits, Calvin-Sturm-Comenius andererseits geschichtlich-empirisch einen bis ins 20. Jahrhundert erkennbaren „Bildungsvorsprung“ (Thomas Nipperdey) erzielen konnte.

Die reformatorischen, speziell lutherischen Anstöße haben eine an Wort und Schrift orientierte Gestalt von Kirche generiert, die ihrerseits ausdrücklich und strukturell die Bildungsambition ihrer Mitglieder gefördert hat; die Rückbindung der „existentielle[n] Betroffenheit des Glaubens an das forschende Auslegen der Schrift, [an] die Theologie als Wissenschaft“ hat zu „intellektuelle[r] Modernität“ beigetragen und mentalitätsprägend „Wissen und Gewissen“ verknüpft; als „wichtige sozialmoralische und sozialkulturelle Figurationen“ haben sich daraus „Unruhe“, „Innerlichkeit“ und „Persönlichkeitskultur“, Mut zum „Ausgriff auf die Welt“, „Nähe zum Zeitgeist“, freilich auch bestimmte „destruktive Tendenzen“ ergeben (Nipperdey, 1983, 15f. u.a.). Der Historiker Thomas Nipperdey stellt diese Merkmale nach intensiver Beschäftigung vor allem mit der modernen Phase deutscher Geschichte (etwa 1860-1930) zusammen – nicht ohne hinzuzufügen: „In der Bildung der Deutschen hat Luther seinen Ort […] Aber wir müssen uns hüten, allzu simpel zu rechnen. Was die Nachfahren aus den Ansätzen und aus dem Erbe gemacht haben, ist ihr Teil“ (Nipperdey, 1983, 27).

5.3. Resümee

Versteht man Katechetik und Religionspädagogik als wissenschaftliche Disziplinen, dann kommt Martin Luther nicht als Teil ihrer Geschichte zur Geltung, sondern als deren Voraussetzung. Indem er als eine der zentralen, wenn nicht die zentrale Gründerfigur des Protestantismus eine Theologie pädagogischen Handelns skizzierte, stiftete dieser neuzeitlichen Strömung des Christentums ein ausgeprägtes Sensorium für Bildung und gebildeten Glauben ein.

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