Deutsche Bibelgesellschaft

Philipper 2,5-11 | Palmsonntag | 24.03.2024

Einführung in den Philipperbrief

Lange Zeit stand der Phil in der Paulusforschung eher am Rande des Corpus Paulinum, obwohl der Brief mit Phil 2,5/6-11 einen zentralen christologischen Text enthält. In Folge der einschlägigen Kommentierung durch Ernst Lohmeyer (1928), der im Phil ein einzigartiges Zeugnis paulinischer (Martyriums-)Theologie erkannte, hat der Brief in den letzten 100 Jahren eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, die sich auch auf die möglichen Umstände der Abfassung des Briefes richtet: Paulus schreibt unter den Bedingungen einer Gefängnishaft. Umstritten bleibt die Frage, ob Paulus den Brief kurz vor seinem Martyrium in Rom, also Anfang der 60er Jahre, oder zuvor aus einer Haft in Ephesus, also Mitte der 50er Jahre, verfasst hat. Die Frage nach Zeitpunkt und Ort der Abfassung, dem Lebensalter des Apostels und den Bedingungen, unter denen Paulus den Phil als Gefangener schrieb, sind für die Textauslegung und die Einordnung in das Lebenswerk des Apostels (Missionsgeschichte, Gemeindeleitung, Briefe und Theologie) nicht unerheblich. Die folgende Auslegung geht von einer Entstehung des Briefes in römischer Haft – d.h. vermutlich in den letzten Lebensmonaten des Paulus – aus (anders z.B. A. Standhartinger, 31ff., oder L. Bormann) in zeitlicher Nähe zum Phlm.

1. Verfasser

Der Phil wurde von Paulus – wie er selbst sagt: in co-Senderschaft mit seinem engen Mitarbeiter Timotheus – verfasst. Im Präskript (1,1-2) verzichtet Paulus darauf, sich mit seiner Berufsbezeichnung als „Apostel“ zu titulieren, sondern bezeichnet sich und seinen Mitarbeiter als „Sklaven Christi Jesu“ (δοῦλοι Χριστοῦ Ἰησοῦ). Damit ist eine vollständige Unterordnung unter den Kyrios Christus (vgl. 2,11), der als Erniedrigter selbst Sklavengestalt annahm (2,7), gemeint. Im Blick auf seine eigene Rolle strebt Paulus eine imitatio Christi an. Historisch gesehen befindet sich Paulus beim Schreiben des Briefes in (römischer) Gefängnishaft, zu der sich Lukas am Ende der Apg nur knapp äußert (Apg 28,16-31). Paulus ist – wie er selbst in bildhafter Sprache beschreibt – „in Fesseln“ (ἔν… τοῖς δεσμοῖς: z.B. 1,7). Obwohl er über den Ausgang des Prozesses gegen sich noch im Unklaren ist (1,23) und ein gewaltsames Todesschicksal in zeitlicher Nähe nicht ausschließen kann, ja wohl erwarten muss (1,12ff.20), versteht Paulus seine Gefangenschaft als „Verteidigung des Evangeliums“ (εἰς ἀπολογίαν τοῦ εὐαγγελίου: 1,16), die sogar missionarisch auf die Prätorianergarde (1,13) und das „Haus des Kaisers“ ausstrahlt (4,22). In seiner Haft verspürt der sichtlich gealterte Apostel (vgl. dazu Phlm 9) eine starke Sehnsucht danach, zu sterben und schnell bei Christus zu sein (1,21-26). Die Sorge für die Gemeinde(n) in Philippi und der Wunsch, sie möglichst doch noch einmal zu besuchen, nötigen ihn aber, in dem als inneren Konflikt empfundenen Zwiespalt zwischen Todessehnsucht einerseits und Verantwortung für die Gemeinden (1,23f.) andererseits seine Bereitschaft für weitere Aufgaben zu erklären (1,25f.). In dieser Situation ist Paulus nicht gänzlich allein: Epaphroditus, Gemeindemitglied aus Philippi, überbrachte Paulus eine Gabe der Philipper (4,14), für die Paulus im Brief dankt (4,10-20). Auf dem Weg zu Paulus tödlich erkrankt (2,25-30), ist Epaphroditus inzwischen genesen und begibt sich (zusammen mit dem Schreiben des Paulus) auf den Weg zurück nach Philippi. Timotheus bleibt noch solange bei Paulus, bis sich die Haftsituation des Apostels klärt.

2. Adressaten

Phil 1,2 ist an folgende Adresse gerichtet: „an alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, zusammen mit Aufsehern und Diakonen“ (πᾶσιν τοῖς ἁγίοις ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τοῖς οὖσιν ἐν Φιλίπποις σὺν ἐπισκόποις καὶ διακόνοις). Paulus schreibt an eine Gemeinschaft Christus-Glaubender in Philippi. Die Stadt liegt im nordgriechischen Makedonien geographisch zentral an der Via Egnatia. Die Gemeinde der Christus-Glaubenden hat Paulus selbst vor ca. zwölf Jahren auf seinem Weg von Kleinasien nach Griechenland (via Thessaloniki nach Korinth) gegründet. Nach der Darstellung des Lukas handelt es sich um die erste Gemeindegründung auf europäischem Kontinent (Apg 16,11ff.). Neben Epaphroditus kennen wir einige Mitglieder der Gemeinde namentlich (Phil 4,2f.; Apg 16,14). Paulus war zu der Mission in Nordgriechenland eigens durch eine nächtliche Vision beauftragt worden (Apg 16,9f.). Auffällig ist, dass Paulus im brieflichen Präskript – anders etwa als in 1 und 2 Kor – keine „Gemeinde“ (ἐκκλησία) wie eine verfasste Ortsgemeinschaft anschreibt, sondern von „Heiligen“ spricht und zudem eine zusätzliche Gruppe von Leitungspersonen („Aufseher und Diakone“) nennt. Während die ältere Forschung hierin ein Indiz für ein spätes, möglicherweise nachpaulinisches pseudepigraphes Schreiben (F.C. Baur) im Übergang zu den sog. Pastoralbriefen (1Tim, 2Tim und Tit) sah, geht die gegenwärtige Forschung eher von spezifisch in Philippi entwickelten Amts- oder Funktionsbezeichnungen aus (Standhartinger, 76-78). Paulus steht mit den Philippern grundsätzlich in einem engen, freundschaftlichen Verhältnis (4,1.10ff.), sieht und benennt aber auch in Philippi die Gefahr potenzieller, wohl noch nicht real agierender Gegner, die er als „Feinde des Kreuzes Christi“, als „Hunde“, als „böswillige Arbeiter“ bezeichnet (3,2.18). Der Phil ist von autobiographischen Nachrichten sowie von Trost, Freundschaft, Ermahnung und eschatologischer Belehrung (3,10f.20f.) geprägt. In der Orientierung auf Christus hin (2,6-11) verfolgt Paulus in seinem Schreiben mehrfache Ziele:

  • Erstens informiert er seine Freunde in Makedonien über seine äußere und innere Situation in Haft,
  • zweitens fordert er sie angesichts der Nähe Christi zur Freude auf (3,1; 4,4), die auch in der Dankbarkeit über die Genesung des Epaphroditus begründet ist (2,25-30), und ermahnt sie dabei zu Einheit und Demut im Umgang miteinander (2,1ff.) sowie zu Wachsamkeit,
  • drittens teilt er mit ihnen seine individuelle eschatologische Hoffnung auf ein „Gemeinwesen in den Himmeln“ (3,20: τὸ πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς) in Gemeinschaft mit Christus: Paulus hofft, nicht nur im Blick auf sein Todesschicksal Christus gleichgestaltet zu werden, sondern auch – wie dieser – von den Toten auferweckt zu werden (3,10f.).

3. Entstehungsort

Paulus befindet sich bei der Abfassung des Briefes in Gefängnishaft. In der Auslegungsgeschichte des Phil der letzten ca. 250 Jahre wurden Korinth, Ephesus, Cäsarea und Rom – also mit Ausnahme Philippis (s. Apg 16,23ff.) alle Orte, an denen Paulus mutmaßlich in Gefangenschaft geriet – als Gefängnisorte diskutiert. In der gegenwärtigen Forschung konzentriert sich die Diskussion auf Ephesus oder Rom. Argumente, die für Rom als Gefängnis- und damit als Abfassungsort des Phil sprechen, sind

  1. 1.die Hinweise auf die Prätorianergarde und das Haus des Kaisers (s.o.),
  2. 2.die Todessehnsucht des Apostels, die auf dessen höheres Lebensalter hinweist, und
  3. 3.das fortentwickelte (christologische, eschatologische und administrative) Denken des Paulus, das in der Anrede der Adressaten (s.o.), aber auch in der persönlichen Auferstehungshoffnung greifbar wird: Paulus erwartet für sich (und seine Adressaten) ein christus-konformes Todes- und Auferstehungsschicksal (3,10f.20f.).

Trotz der genannten Argumente für Rom lässt sich die Frage nach dem Entstehungsort des Phil nicht abschließend klären.

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen befassen sich zunächst mit den klassischen sog. Einleitungsfragen. Es handelt sich dabei um

  1. 1.die Frage nach dem Abfassungszeitpunkt und -ort des Briefes (s.o.),
  2. 2.die Frage nach der Entstehungsgeschichte des Briefes (literarische Einheitlichkeit oder spätere Kompilation verschiedener Einzelbriefe),
  3. 3.die Frage nach dem Typus bzw. der Gattung des Briefes (z.B. Trostbrief, Freundschaftsbrief, Gefängnisbrief),
  4. 4.die sozial- und religionsgeschichtliche Prägung der Gemeinde in Philippi,
  5. 5.die Frage nach der Identifikation der Gegner (real oder fiktiv), die Paulus in Phil 3 polemisch attackiert.
  6. 6.Daneben wird bei der Interpretation von Phil 2,6-11 die Frage der Form (Hymnus oder exemplarische Erzählung), der Herkunft (vorpaulinisch oder paulinisch), der traditionsgeschichtlichen Prägung durch Septuaginta-Motivik und der christologischen Bedeutung (Präexistenzaussage?) diskutiert.
  7. 7.In theologischer Hinsicht stellt sich die Frage, ob im Phil ethische, ekklesiologische oder eschatologische Themen, die jeweils von der Christologie her begründet sind (2,6-11), überwiegen. Im brieflichen Profilvergleich ist jedenfalls festzustellen, dass Paulus etwa „im Römerbrief seine Argumentationen letztlich am Gottesgedanken ausrichtet, während im Philipperbrief das Christusgeschehen im Mittelpunkt steht“ (Bormann, 402). Treten im 1 Kor verschiedenste Gemeinde(an)fragen in den Fokus, so steht Paulus selbst – der „Sklave Jesu Christi“ – im Phil als Person im Zentrum: In einer imitatio Christi wartet er auf volle Teilhabe am Schicksal Christi.

5. Besonderheiten

Wie bei (fast) allen anderen authentischen Paulusbriefen (1Thess, 1.2Kor, Gal, Röm) handelt sich auch bei Phil um einen Gemeindebrief, der jedoch einige markante Besonderheiten aufweist:

  1. 1.Phil ist – wie Phlm auch (V. 1.9.13) – ein Gefangenschaftsbrief, der wiederum entsprechende Imitationen eines aus der Haft schreibenden Apostels in der nachpaulinischen Pseudepigraphie hervorgebracht hat (Kol; Eph; 2Tim).
  2. 2.In Phil 3,4bff. findet sich – neben Gal 1f. – die wichtigste autobiographische Passage, in der Paulus auf seine Herkunft „aus dem Volke Israel“ und seinen Werdegang zurückblickt.
  3. 3.In Phil 1,21ff. gewährt Paulus einen tiefen Einblick in seine von Zwiespalt geplagte innere Person.
  4. 4.In Phil 2,5/6-11 schafft Paulus einen sprachlich verdichteten Text, in dem er in seiner Gefangenschaft das Lebens-, Todes- und Erhöhungsschicksal Jesu, das er in den Deutungszusammenhang der universalen Königsherrschaft Gottes (z.B. Jes 45) stellt, zugleich in seiner Bedeutung für die Gemeinschaft der Christus-Glaubenden auslegt.

Literatur:

  • Einführung in den Phil: L. Bormann, „Philipperbrief“, in: O. Wischmeyer/E.-M. Becker (Hgg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767; Tübingen/Basel: Francke Verlag, 20213), 397-416.
  • Aktueller deutschsprachiger Kommentar: A. Standhartinger, Der Philipperbrief (HNT 11/1; Tübingen: Mohr Siebeck, 2021).
  • Thematische Aufsatzsammlung zu Grundthemen des Phil: E.-M. Becker, Der Philipperbrief des Paulus: Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29; Tübingen/Basel: A. Francke Verlag, 2020). – open access: https://elibrary.narr.digital/book/99.125005/9783772056888

A) Exegese kompakt: Philipper 2,5-11

5Τοῦτο φρονεῖτε ἐν ὑμῖν ὃ καὶ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ,

6ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων

οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο

τὸ εἶναι ἴσα θεῷ,

7ἀλλ’ ἑαυτὸν ἐκένωσεν

μορφὴν δούλου λαβών,

ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος·

καὶ σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος

8ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν

γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου,

θανάτου δὲ σταυροῦ.

9διὸ καὶ ὁ θεὸς αὐτὸν ὑπερύψωσεν

καὶ ἐχαρίσατο αὐτῷ τὸ ὄνομα

τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα,

10ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ

πᾶν γόνυ κάμψῃ

ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων

11καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται ὅτι

κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς

εἰς δόξαν θεοῦ πατρός.

Philipper 2:5-11NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

5 Habt diese Gesinnung gegen einander, die (ihr) auch gegenüber Christus Jesus (habt),

6 der, obwohl er in (der) Gestalt Gottes war, das Gott-gleich-Sein nicht für Beutegut hielt,

7 sondern sich selbst entleerte, nachdem er (die) Gestalt eines Sklaven angenommen hatte (und) Menschen gleich geworden war, und nachdem er im äußeren Erscheinen wie ein Mensch befunden worden war,

8 machte er sich selbst niedrig, nachdem er gehorsam geworden war bis zum Tod, und zwar (dem) Tod am Kreuz.

9 Deswegen hat auch Gott ihn erhöht und ihm den Namen geschenkt, der über jedem Namen (steht),

10 damit im Namen Jesu jedes Knie sich beuge – von himmlischen, irdischen und unterirdischen (Wesen) –

11 und jede Zunge bekenne, dass (der) Kyrios Jesus Christus (ist) zur Ehre Gottes, (des) Vaters.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 5: ἐν ὑμῖν: wie ἐν ἀλλήλοις (der Gebrauch von Präpositionen ist im NT-Griechisch freier).

V. 5: ὃ καὶ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ - im elliptischen Relativsatz ist ein Verb zu ergänzen, so z.B.: φρονεῖτε (als Indikativ).

V. 6: ἁρπαγμóν ist als „Raub“, „Beute“ oder „Beutegut“ zu übersetzen.

V. 6: τὸ εἶναι ἴσα θεῷ: Gottgleichsein als Status Christi vor seiner Selbsterniedrigung; ἵσα: wie ἵσον, ist als Prädikatsnomen des substantivierten Infinitivs zu verstehen.

V. 7: ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος: wörtlich „nachdem er in Menschengleichheit/ein Abbild von Menschen geraten war“.

V. 8: σταυροῦ: genitivus subiectivus (im Deutschen nur mit Präposition zu übersetzen).

V. 9: τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα: nachgereichtes Attribut zu τὸ ὄνομα.

V. 9-11: διὸ… ἵνα… ὅτι: der Subjektwechsel wird mit der Konjunktion διό eingeleitet – davon abhängig ist der Final- bzw. Konsekutivsatz (ἵνα).

2. Literarische Gestaltung

Phil 2,5-11 handeln von Christus (2,6-11) und sind durch V. 5 auf die Gemeinschaft bezogen: In Phil 2,6-11 stellt Paulus in einem zwei-strophigen (V. 6-8/V. 9-11), sprachlich verdichteten Text, der Motivelemente der (Jahwe-)Königspsalmen aufweist, seinen Lesern Christus als universalen Herrscher vor Augen (2,11). Die erste Strophe beschreibt das Handeln Christi: Jesus, der qua „göttlicher Gestalt“ (ἐν μορφῇ θεοῦ: 2,6) bereits „Gott gleich“ (τὸ εἶναι ἴσα θεῷ: 2,6) war, übte Status- und Attributverzicht, Selbsterniedrigung und Demut – bis zum Kreuzestod. In der zweiten Strophe wird Gott zum handelnden Subjekt (2,9-11): Gott erhöhte Jesus und gab ihm vollen Anteil an der himmlischen Welt. Während Paulus die Motivation für Jesu Handeln, das durch die Tempuswahl bei den Partizipien in eine lose aspekthafte Folge gebracht wird, nur andeutet („er hielt das Gleichsein mit Gott nicht für ein Beutegut“: 2,6), nennt er die Konsequenzen der Selbsterniedrigung Jesu ausführlicher (2,9-11): Gottes Handeln führte zu Jesu universaler Akklamation als Weltenherr (Kyrios). Nicht nur versetzte Gott Christus in seinen vormaligen gott-gleichen Status zurück, sondern erhöhte ihn noch einmal darüber hinaus maximal (ὑπερύψωσεν). Paulus schafft in Phil 2,6-11 einen christologischen Spitzentext, der vielfältige Motivverknüpfungen zu den Macht-Gottes-Vorstellungen Israels (s. Jes 45 in V. 10f.; [Jahwe-]Königspsalmen) herstellt oder ermöglicht (Erhöhung des Erniedrigten und/oder Gerechten), nun aber auf Christus überträgt. Unter den besonderen Bedingungen von Gefängnishaft und eigener Todeserwartung bekennt Paulus – der dem Tode nahe, gefangene Sklave Jesu Christi (1,1) – Jesus Christus als Weltenherrn (2,11). Durch Phil 2,5 wird der psalmartige Text so mit dem Kontext verknüpft, dass die Christus-Erzählung der Gemeinde zum Beispiel für die Übung von Selbsterniedrigung (2,1-4/5) wird. Paulus eröffnet zugleich eine Hoffnungsperspektive für die, die sich in Nachfolge an Christi Demut orientieren: so wie Christus erhöht wurde, dürfen sie volle Anteilhabe am Auferstehungsschicksal Jesu Christi (3,10f.20f.) erwarten.

3. Kontext und Historische Einordnung

Phil 2,5 und 2,6-11 gehören nur mittelbar zusammen – die Abgrenzung der Perikopen steht nicht fest, sondern lässt sich auch im Blick auf deren Einbindung in den Mikrokontext diskutieren (2,5/6-11 oder 1,27-2,11/18). 2,5/6-11 befinden sich im Briefcorpus (1,12-4,20) in unmittelbarer Nähe zu insgesamt vier exemplarischen Kurzerzählungen, in denen Paulus beispielhaft die Übung von Liebe in Form von Selbsterniedrigung und Demut erläutert: Der gefangene Apostel sieht von Eigeninteressen ab (1,21-26), Christus übte Status- und Machtverzicht (2,6-11), Timotheus und Epaphroditus stellen sich uneigennützig in den Dienst der Gemeinschaft (2,19-24.25-30). Wozu braucht es diese Anleitung zur Demut? In Phil 1 hatte Paulus den Adressaten, die ihm freundschaftlich nahestehen, über die äußeren (1,7 etc.) und inneren (1,21ff.) Bedingungen seiner Gefängnishaft schonungslos berichtet. Dabei betonte er: An seinem eigenen Schicksal als Gefangenem lässt sich die Übung von Demut aufzeigen. Seien es Leben oder Tod – Christus soll am Leib des Paulus verherrlicht werden (1,20). Paulus stellt seine eigenen Wünsche nach Christusnähe hintan. So wird die Übung der Demut – bei Christus wie beim gefangenen Paulus – zum Ausdruck souveränen Handelns.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Weil Paulus mit seinem nahenden Martyrium rechnen muss, bereitet er im Phil seine Adressaten auf eine Zeit nach seinem Tod vor. Dabei werden zwei Fragen wichtig, die Paulus von einem christologischen Spitzentext her (2,6-11) darlegt:

  1. 1.Wie sollen die Philipper leben? Woran können sie sich orientieren?
  2. 2.Worauf können sie hoffen?

Der Abschnitt in 2,5/6-11 gehört zum ersten Fragenkomplex und eröffnet zudem eine Hoffnungsperspektive. (1.) Phil 2,5/6-11 steht im Zusammenhang mit Ermahnungen, die Paulus in 1,27 bzw. in 2,1 begonnen hatte: Die Philipper sollen des Evangeliums würdig ihr Leben führen (1,27) und untereinander einmütig sein und Liebe üben (2,1ff.). Dabei können und sollen sie sich an Christus orientieren (2,5). Wer Christus ist und was er tat, erzählt Paulus in 2,6-11. Folgen die Philipper den Ermahnungen zu einem Christus-gemäßen Leben, so üben sie die „Freude im Kyrios“ ein (3,1; 4,1.4) und machen Paulus in seiner Haft „Freude“ (2,2). Denn das von Christus her begründete Zusammenleben miteinander stellt jetzt schon Gemeinschaft mit Christus (2,5) und mit dem durch seine Gefangenschaft abwesenden, ja fernen Apostel her (1,27).

(2.) Als Gefangener sieht sich Paulus dem Leidens- und Todesschicksal Christi existenziell nahe: Der Apostel rechnet mit seinem gewaltsamen Tod. Christi Beispiel erläutert nunmehr nicht nur die freiwillige Übung von Selbsterniedrigung, Demut und Gehorsam bis zum Tod, sondern auch die Hoffnung auf eschatologische Vollendung der leiblichen Person bei Gott: In Analogie zur höchsten Erhöhung, die Christus nach seinem Kreuzestod durch das Handeln Gottes erfahren hat (2,9-11), dürfen Paulus und die Philipper auf die Anteilhabe am Auferstehungsschicksal Christi, nämlich auf die Verherrlichung ihrer sterblichen Leiber hoffen (3,10f.20f.).

5. Theologische Perspektivierung

In Phil 2,5/6-11 bekennt Paulus Christi universale Herrschaft. Diese christologische Spitzenaussage ist mit (a) (gemeinde-)ethischen und (b) eschatologischen Grundfragen verknüpft.

(a) 2,5/6-11 fasst inmitten mehrerer Beispielerzählungen in Phil 1-2 nunmehr in sprachlich verdichteter Form zusammen, wie und warum Jesus trotz göttlicher Gestalt (2,6) Selbsterniedrigung und Demut übte (2,7f.): Anstatt am Privileg der Gott-Gleichheit festzuhalten, zeigte er Gehorsam bis zum Kreuzestod. Gott hat ihm volle Teilhabe an seiner universalen Herrschaft geschenkt.

(b) Das Lebens-, Todes- und Erhöhungsschicksal Jesu ermahnt zu einmütiger Gemeinschaft in Liebe, Trost und Barmherzigkeit (2,1) untereinander und nimmt beispielhaft vorweg, worauf Paulus selbst – und mit ihm seine Adressaten in Philippi – hoffen können: auf die volle Anteilhabe an der Auferstehung Christi und seiner Verherrlichung (3,10f.20f.). So wie Gott Jesus nicht der Niedrigkeit seines Kreuzestodes überließ, sondern ihm den Kyrios-Titel und damit die volle Anteilhabe an der himmlischen Herrlichkeit gegeben hat, können die Christus-Glaubenden auf das Kommen ihres Retters aus den Himmeln hoffen, um ihr „himmlisches Bürgerrecht“ (3,20) zu erwarten.

Literatur

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Paulinische Brillanz: So ein kompaktes exegetisches Kompendium zu sieben Versen! Für mich ein meta-textgewordener Beleg für die sprachliche Kraft, die theologische Potenz und auch für die Abgründe der Perikope. Ihre sprachliche Anmut und Verdichtung strahlen auf den brieflichen Kontext aus, den ich Prediger:innen unbedingt ins Auge zu fassen rate (v.a. V. 1-4 und 12-18). Die Strahlkraft dringt selbst aus der Arbeitsübersetzung: Mit der Alliteration in V. 6, mit rhythmischen Parataxen, mit der sprachlich-gedanklichen Präzision, durch die beide Strophen ihre komplementären Ziele entfalten: Kreuzes-Tod, Gottes-Ehre.

Einleitungsfragen existenziell: Die Exegese belegt mit nüchternen Mitteln, dass die Wahrheit der Perikope nur als Lebens-Umstand zu haben ist. Zwischen Einleitungsfragen – wer schreibt wann unter welchen Eindrücken auf welche Weise zu wem – und Versexegese zeigt sich ein unauflösbarer Zusammenhang. Mit der akuten Lebenserfahrung des Paulus, mit der Unterordnung (Sklave Christi Jesu), der Gefängnishaft, der Bedrohung, der Todessehnsucht, mit endzeitlichen Ahnungen, der Hoffnung auf ‚christuskonformes‘ Sterben und Auferstehen legt die Exegese offen, von wo aus die Worte der Perikope Kraft und Sinn gewinnen. Und stellt en passant andere Lektüren infrage: ‚nur hymnisch‘, ‚nur dogmatisch‘. Nichts da! Paulus schreibt von Erniedrigung als Geschehen, das aufs Ganze geht. Aufs Ganze der Existenz Christi. Der Existenz des Apostels selbst. Unserer Existenz. Soteriologie? Ja, aber eingelassen ins eigene Leben. Stellvertretung? Ja, aber im gleichen Atemzug umgekrempeltes eigenes Leben: Sich selbst mit dem sich für uns erniedrigenden Christus erniedrigen.

Am eigenen Leib: Strukturfeine, kategorienfreudige Exegese braucht analytischen Abstand. Ganz anders der Text, auf den sie schaut. Seine Rhetorik tut alles, um das weltstürzende Christus-Geschehen auf Lesende und ihre Wirklichkeit auszudehnen. Mit Folgen für die Predigt, finde ich: Die darf und die muss auch sprachlich den Absprung finden. Dorthin, wo Paulus seine Worte gewinnt: am eigenen Leibe, mit Haut und Haaren. Ohne dies bliebe alles Reden von „Gestalt“, „Gefangenschaft“ oder „Niedrigkeit“ hohl. Es geht um Körperlichkeit. An der sich Sterben ereignet. Die in die Knie gehen kann. Ein erster Schritt dahin: Die Verse im Gottesdienst als ein Stück Poesie zum Klingen zu bringen, z.B., wenn sie auf der Kanzel gelesen werden. Mit Rhythmus und Pointen. Mit Drang und Pause.

2. Thematische Fokussierung

Überall auf den Punkt: Das Grundmuster des ethisch-eschatologischen Ereignisbogens liegt von der Exegese her auf der Hand: Von göttlicher Gestalt in die Selbsterniedrigung; per Niedrigkeit zur himmlischen Herrlichkeit. Ein Ereignisbogen von Christus her. So elementar und einfach das scheint: Es handelt sich um eine Spielart der Grundbewegung christlicher Theologie, Existenz, Hoffnung schlechthin! Sie findet ihren Widerhall in der symbolischen Kernkraft christlicher Urzeichen von Kreuz (Tod und Auferstehung) bis Taufe (Untergang und neue Schöpfung). Findet ihr Echo in dialektischen Bestimmungen des Christenmenschen, als „freier Herr über alle Dinge“ und „dienstbarer Knecht“ (Martin Luther). Bildet liturgische Ableger: Deswegen geht es im Gottesdienst „herab und hinauf“. Deswegen löst es liturgiepoetisch Resonanz aus, wenn Christian Lehnert vom „Wirbel von Aufwärts- und Abwärtsbewegungen“ spricht. Deswegen bewahrheitet sich die für Mehrheitstheologien in westlichen Gesellschaften oft überraschende Erkenntnis: Das Christuszeugnis gewinnt dort Kraft, wo es sich Marginalisierte zu eigen machen. Die Rede von dem, der Erniedrigung und Sklaverei auf sich nahm, wird erst von solchen Erfahrungen aus recht verstanden (vgl. James H. Cone).

Vom Tiefpunkt aus: Etwas genereller, etwas religionsbezogener gesagt: Klar – auch viele Plots, auch der Monomythos, auch die Heldenreise setzen auf Abgrund und Scheitern als produktive Momente. Wer aber der Perikope, wer Paulus, wer seiner Christusbotschaft Glauben schenkt, akzeptiert Abgründe als Quellgründe.

3. Theologische Aktualisierung

Unsere Menschheitsepoche prägt eine eigentümliche, fast paradoxe Gleichzeitigkeit. In nahezu allen Lebensbereichen dominiert die Erwartung, dass Wachstum Stabilität erzeugt. Dass gesteigertes Leben gutes Leben sei – länger, wacher, (erfolg)reicher, vitaler. Das gilt für Börsenkurse, gewiss, aber ja genauso fürs individuelle Wohlstandsempfinden (Stagnation schürt Abstiegsängste) oder für unser Dasein in kirchlichen Organisationen. Andererseits liegt ökologisch, wohl aber auch spirituell und sozial lange und klar zutage, dass diese Form der (vermeintlichen) Stabilisierung unter Bedingungen der Endlichkeit zwangsläufig scheitert. Die Perikope ist wie dafür gemacht, in dieser Lage zu predigen. Das heißt natürlich: zu einem konkreten Lebens-Umstand zu predigen. Daran orientiert, dass auch die rhetorische Überzeugungskraft bei Paulus aus der sozialen, materiellen Konkretion schöpft. Und: aus eigener Lebenserfahrung.

In diesem aktuellen Horizont gelesen zeigt sich auch, dass Ausgewogenheit eine Falle, ein hermeneutischer Fehler sein könnte: Selbsterniedrigung und Erhöhung, Demut und Hoffnung. Phil 2,5-11 kennt eigentlich kein Gleichgewicht: Als Lebensbewegung dominiert Entleerung. Bleibt Demut. Sie wird vor allem anderen plastisch. Und sperrt sich so gegen jedes „Schwamm-Drüber“, gegen die rosig schöngefärbte Rückblende à la: „Und am Ende wurde er halt erhöht.“ Genau genommen, genau gelesen kommt es für die Erhöhung durch Gott in Phil 2,5-11 (Subjektwechsel!) auf geradezu hoffnungslose (oder: hoffnungslos fromme) Selbsthingabe an. Da geschieht’s. Statt „einfach trotzdem weiterhoffen“: Transformation. Statt „immer wieder aufstehen“: Auferstehung. Deshalb, wie wunderbar, die Übersetzungsalternative „der […] das Gott-gleich-Sein nicht für Beutegut hielt“ – also: nicht für einen Besitz. Auch jeder strategische, präventive, bloß symbolische Umgang mit der Bewegung ‚nach unten‘ führte das ad absurdum, gerade für die Predigt mit Blick auf ‚unsere Existenz‘ und ‚unsere Abgründe‘. Es wird kein Zufall sein, dass Paulus unsere Anteilhabe am Auferstehungsschicksal Christi im Philipperbrief (anders als in Röm 6) nicht gleich lauthals mit-bejubelt, sondern später in zwei vorsichtigen Nebensätzen göttlicher Zukunftsmusik anvertraut (3,10f.20f.).

Konkret: Vielleicht sind es die bröckelnden Privilegien der einstigen Mehrheitskirche. Die gelegentliche Trauer der Sonntagsgemeinden über echte oder erfühlte Leere. Über anstehende Abschiede. Die mit Phil 2 plötzlich gar nicht ‚trotzdem Trost finden‘ müssen. Sondern so ernst genommen werden, dass sie als Bewegung mit Christus erscheinen – und dadurch erstrahlen. Oder: Eine Predigt, die für eine der schier aussichtslosen Gegenwartskrisen eine christliche Gegenlesart aufbietet, für den gordischen Knoten zwischen hoffnungsloser Ergebung (bringt doch eh nichts) und verzweifeltem Aktivismus (irgendwas muss man ja tun) und blindem Weiter-So (Verzicht wäre ja Abstieg).

4. Bezug zum Kirchenjahr

Das Wimmelbild am Stadttor von Jerusalem kennt fast jedes Kind. Palmzweige auf dem Boden. Ein Eselreiter. Hosianna-Rufe. Der Palmsonntag kommt am Evangelium vom Einzug in Jerusalem nicht vorbei. Mit eigenen Twists zwischen Niedrigkeit und Erhöhung. Zum Beispiel: All der Jubel für den Eselreiter – aber das Hosianna geht gleich wieder vergessen. Oder: Diese Form königlicher Erhöhung nimmt Jesus an und auf sich. Es gibt da doch eine Kopplung mit irdischen Herrschaftsmetaphern.

Alles spricht aus meiner Sicht für eine homiletische Allianz: Die Verse aus dem Phil liefern eine eindrucksvoll minimalistische Kompression des Christusgeschehens. Die Story des Evangeliums entfaltet eine exemplarische Motivexplosion dafür, Zwischentöne und Assoziationsreichtum inklusive. Phil spitzt rhetorisch zu, ethisch anspruchsvoll, sprachlich verknappt. Das Palmsonntagsevangelium bringt unverbindlichere, offene Fragen ins Spiel: Wo stehst Du, wenn Jesus kommt? Was rufst Du heute? Und morgen? In Phil ist die Sache ernst. Der Eselritt der Evangelien dagegen trägt – bei aller Feierlichkeit und Doppelbödigkeit – auch ausgelassene, fast komische Züge. Beide Texte weisen auf die Gegenbewegungen hin, in denen sich die Christus-Botschaft entwickelt – und bewahrheitet, in Kreuz und Auferstehung.

Fürs Predigen gewendet: Es mag am Palmsonntag viele Schaulustige geben. Phil besteht darauf, nicht beim Schauen zu bleiben. Christus-Glaube nimmt in Bewegungen hinein – in die Bewegung Christi. Homiletisch bietet das die Möglichkeit, die Karwoche als Lebensbewegung zu eröffnen.

Literatur

  • D. Sagert, Minderheitlich werden. Experiment und Unterscheidung (Leipzig: EVA 2021).
  • B. Mahan, Forgetting Ourselves on Purpose: Vocation and the Ethics of Ambition (San Francisco: Jossey-Bass 2002).
  • A. Bieler/H.-M. Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008).

Autoren

  • Prof. Dr. Eve-Marie Becker (Einführung und Exegese)
  • Dr. Peter Meyer (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500028

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