Deutsche Bibelgesellschaft

Matthäus 27,33-54 | Karfreitag | 29.03.2024

Einführung in das Matthäusevangelium

Das MtEv gehört seit seiner Entstehung zu den wichtigsten Büchern des Neuen Testaments und hat die Geschichte der weltweiten Christenheit geprägt wie kein anderes Buch. Entsprechend anhaltend ist das Interesse daran auch in der wissenschaftlichen Forschung. Allerdings hat die Durchsetzung der Mk-Prioriät im 19. Jh. das MtEv als ältestes und apostolisches Evangelium in der historisch-kritischen Forschung zurückgestuft zu einer Parteischrift judenchristlicher Gemeinden, die gegenüber anderen frühchristlichen Milieus das Festhalten an einem wörtlichen Verständnis der Tora des Mose vertraten. Damit verbunden ist die Frage, ob sich die sog. „Gemeinde des Matthäus“ noch als Teil der jüdischen Glaubens- und Volksgemeinschaft verstand (bzw. von dieser noch als Teil derselben akzeptiert wurde) oder ob das Evangelium von einer eigenständigen Entwicklung der sich auf Jesus als Messias beziehenden Gemeinschaften ausgeht, wissend, dass dies mit einem Abweichen vom Weg der Mehrheit in Israel einhergeht. In diesem Fall wird das Evangelium als Versuch einer eigenen Orts- und Zeitbestimmung in Gottes Geschichte mit seinem Volk und den Völkern der Welt verstanden. Eine zentrale Rolle in der Entscheidung dieser Frage hat das jeweils vorausgesetzte Verhältnis des Evangelisten zur Tora. Gegen das in der gegenwärtigen Forschung vielfach vertretene Verständnis eines von Mt intendierten wörtlichen Praktizierens aller Toragebote spricht, dass die kirchliche Praxis sein Evangelium nie in dieser Weise verstanden oder praktiziert hat. Die Interpretation pro Tora würde also bedeuten, dass Mt in der Kirche von Anfang an gegen seine eigene Intention gelesen und gepredigt wurde. Die Folge ist eine weitere Aushöhlung des protestantischen sola scriptura.

1. Verfasser

Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.

2. Adressaten

Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.

3. Entstehungsort

Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl mit der Vergebung der Sünden εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν]; Gericht und Eingang ins Leben als wichtige Orientierungspunkte) und Ethik (6,1; 7,24; 25,40.45: die Betonung des Tuns/ποιέω) aus der besonderen Perspektive hinsichtlich des Verhältnisses zu den Traditionen Israels, dem jüdischen Volk in Vergangenheit und Gegenwart sowie der Tora. Das MtEv enthält einige der bekanntesten neutestamentlichen Texte, darunter die weltweit in allen Kirchen benützte Fassung des Vaterunsers und die Bergpredigt, aber auch problematische Texte wie die große Scheltrede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23), die antijüdische Voreingenommenheiten (z.B. Klischees über die Pharisäer) bis heute befeuern. Diese Gefahr bestand immer dann, wenn die Entstehungssituation des Evangeliums nicht reflektiert und die polemische Rhetorik einer Gemeinde in einer bedrängten Minderheitensituation, die gleichwohl selbstbewusst für ihre Botschaft eintrat, von einer sich über das jüdische Volk erhebenden christlichen Kirche bruchlos übernommen wurde. Das wirkte sich so unheilvoll aus, weil kein Evangelium im Lauf der Kirchengeschichte mehr gepredigt wurde als Matthäus. Dabei ist es vor allem der mt Redestoff, der für katechetische und homiletische Zwecke herangezogen wurde und wird, während im Erzählstoff die farbigeren Darstellungen bei Mk und Lk bekannter sind.

5. Besonderheiten

Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem; Passionsbericht und Auferstehung bilden den Abschluss. Einzelne Perikopen werden durch Schlüsselworte und gleichartige Formulierungen zu thematischen Erzählfäden verbunden, so dass sich die Gesamtsicht der mt Botschaft am besten durch wiederholtes und zusammenhängendes Lesen erschließt. Das macht es wahrscheinlich, dass das Evangelium von Anfang an für den gottesdienstlichen Gebrauch intendiert war. Herausragendes Merkmal sind die fünf großen Reden in den Kapiteln 5–7, 10, 13, 18 und 24f., die alle nahezu identisch abgeschlossen werden (7,28; 11,1; 12,53; 19,1; 26,1). Der biographisch-historische Rahmen ist durch die gleichlautenden Einleitungen in 4,17 (Ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς + Infinitiv als Einleitung in das öffentliche Wirken Jesu vor allem in Galiläa) und 16,21 (als Beginn der Passionserzählung mit dem Fokus auf Jerusalem) markiert. Auch die Passionsgeschichte, die weitgehend mit Mk parallel geht, ist als Erfüllung dessen dargestellt, was der Evangelist in Israels Heiligen Schriften an Vorausverweisen auf Jesus fand (26,54.56; 27,9).

Literatur:

  • Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
  • Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
  • Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
  • Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.

A) Exegese kompakt: Matthäus 27,33-54

Wie in einem von Gott Verlassenen Gott erkannt wird

33Καὶ ἐλθόντες εἰς τόπον λεγόμενον Γολγοθᾶ, ὅ ἐστιν Κρανίου Τόπος λεγόμενος, 34ἔδωκαν αὐτῷ πιεῖν οἶνον μετὰ χολῆς μεμιγμένον· καὶ γευσάμενος οὐκ ἠθέλησεν πιεῖν. 35Σταυρώσαντες δὲ αὐτὸν διεμερίσαντο τὰ ἱμάτια αὐτοῦ βάλλοντες κλῆρον, 36καὶ καθήμενοι ἐτήρουν αὐτὸν ἐκεῖ. 37Καὶ ἐπέθηκαν ἐπάνω τῆς κεφαλῆς αὐτοῦ τὴν αἰτίαν αὐτοῦ γεγραμμένην·

οὗτός ἐστιν Ἰησοῦς ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων.

38Τότε σταυροῦνται σὺν αὐτῷ δύο λῃσταί, εἷς ἐκ δεξιῶν καὶ εἷς ἐξ εὐωνύμων. 39Οἱ δὲ παραπορευόμενοι ἐβλασφήμουν αὐτὸν κινοῦντες τὰς κεφαλὰς αὐτῶν 40καὶ λέγοντες· ὁ καταλύων τὸν ναὸν καὶ ἐν τρισὶν ἡμέραις οἰκοδομῶν, σῶσον σεαυτόν, εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ, [καὶ] κατάβηθι ἀπὸ τοῦ σταυροῦ. 41ὁμοίως καὶ οἱ ἀρχιερεῖς ἐμπαίζοντες μετὰ τῶν γραμματέων καὶ πρεσβυτέρων ἔλεγον· 42ἄλλους ἔσωσεν, ἑαυτὸν οὐ δύναται σῶσαι· βασιλεὺς Ἰσραήλ ἐστιν, καταβάτω νῦν ἀπὸ τοῦ σταυροῦ καὶ πιστεύσομεν ἐπ’ αὐτόν. 43πέποιθεν ἐπὶ τὸν θεόν, ῥυσάσθω νῦν εἰ θέλει αὐτόν· εἶπεν γὰρ ὅτι θεοῦ εἰμι υἱός. 44Τὸ δ’ αὐτὸ καὶ οἱ λῃσταὶ οἱ συσταυρωθέντες σὺν αὐτῷ ὠνείδιζον αὐτόν.

45Ἀπὸ δὲ ἕκτης ὥρας σκότος ἐγένετο ἐπὶ πᾶσαν τὴν γῆν ἕως ὥρας ἐνάτης. 46περὶ δὲ τὴν ἐνάτην ὥραν ἀνεβόησεν ὁ Ἰησοῦς φωνῇ μεγάλῃ λέγων·

ηλι ηλι λεμα σαβαχθανι;

τοῦτ’ ἔστιν· θεέ μου θεέ μου, ἱνατί με ἐγκατέλιπες; 47τινὲς δὲ τῶν ἐκεῖ ἑστηκότων ἀκούσαντες ἔλεγον ὅτι Ἠλίαν φωνεῖ οὗτος. 48καὶ εὐθέως δραμὼν εἷς ἐξ αὐτῶν καὶ λαβὼν σπόγγον πλήσας τε ὄξους καὶ περιθεὶς καλάμῳ ἐπότιζεν αὐτόν. 49οἱ δὲ λοιποὶ ἔλεγον· ἄφες ἴδωμεν εἰ ἔρχεται Ἠλίας σώσων αὐτόν. 50ὁ δὲ Ἰησοῦς πάλιν κράξας φωνῇ μεγάλῃ ἀφῆκεν τὸ πνεῦμα.

51Καὶ ἰδοὺ τὸ καταπέτασμα τοῦ ναοῦ ἐσχίσθη ἀπ’ ἄνωθεν ἕως κάτω εἰς δύο καὶ ἡ γῆ ἐσείσθη καὶ αἱ πέτραι ἐσχίσθησαν, 52καὶ τὰ μνημεῖα ἀνεῴχθησαν καὶ πολλὰ σώματα τῶν κεκοιμημένων ἁγίων ἠγέρθησαν, 53καὶ ἐξελθόντες ἐκ τῶν μνημείων μετὰ τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ εἰσῆλθον εἰς τὴν ἁγίαν πόλιν καὶ ἐνεφανίσθησαν πολλοῖς.

54Ὁ δὲ ἑκατόνταρχος καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ τηροῦντες τὸν Ἰησοῦν ἰδόντες τὸν σεισμὸν καὶ τὰ γενόμενα ἐφοβήθησαν σφόδρα, λέγοντες· ἀληθῶς θεοῦ υἱὸς ἦν οὗτος.

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Übersetzung

33 Nachdem sie an den Ort namens Golgotha gekommen waren, das ist (übersetzt) „Schädelplatz“, 34 gaben sie ihm Wein mit Galle vermischt zu trinken. Aber als er gekostet hatte, wollte er nicht trinken. 35 Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider, indem sie die Würfel warfen. 36 Herumsitzend bewachten sie ihn dort. 37 Und sie brachten oberhalb seines Kopfes die schriftliche Anklage gegen ihn an: „Dieser ist Jesus, der König der Juden.“

38 Danach kreuzigten sie mit ihm zwei Aufständische, einer zur Rechten und einen zur Linken. 39 Die, die vorübergingen, lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe bewegten 40 und sagten: „Du, der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst, wenn du der Sohn Gottes bist! [Los], komm herunter vom Kreuz! 41 In derselben Weise spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten indem sie sagten: 42 „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Ist er der/ein König Israels, so steige er nun herab vom Kreuz und wir werden an ihn glauben. 43 Er hat auf Gott vertraut, der soll nun zur Rettung kommen, wenn er ihn will. Denn er hat gesagt: „Gottes Sohn bin ich.“ 44 Gleichermaßen schmähten ihn auch die Aufständischen, die mit ihm gekreuzigt worden waren.

45 Von der sechsten Stunde an geschah eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Um die neunte Stunde schrie Jesus auf mit lauter Stimme, rufend: „Eli, eli, lema sabachthani“, das ist (übersetzt): „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 47 Einige aber der dort Stehenden, als sie es hörten, sagten: „Den Elia ruft dieser.“ 48 Und sofort rannte einer von ihnen los und nahm einen Schwamm, gefüllt mit Essig, und steckte ihn auf einen Rohrstab. Damit tränkte er ihn. 49 Aber die Übrigen sagten: „Lass es, wir wollen sehen, ob Elia kommt, damit er ihn rette“. 50 Aber Jesus, nachdem er noch einmal mit lauter Stimme geschrien hatte, gab den Atem auf.

51 Und siehe! Der Vorhang des Tempels wurde zerrissen von oben her bis unten in zwei (Teile) und die Erde wurde erschüttert und die Felsen wurden zerrissen (gespalten) 52 und die Grabstätten wurden geöffnet und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt 53 und – nachdem sie aus den Gräbern herausgegangen waren nach seiner Auferweckung – gingen hinein in die Heilige Stadt und wurden vielen sichtbar gemacht. 54 Aber der Hundertschaftsführer (Centurio) und die, die mit ihm Jesus bewachten, als sie das Erdbeben und die Ereignisse sahen, wurden mächtig von Furcht gepackt, sagend: „Wahrlich, (eines) Gottes Sohn war dieser.“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 33: Die Ortsangabe Golgotha oder „Schädelort“ ist außerbiblisch nicht bezeugt, aber einheitlich hier und in Mk 15,22; Joh 19,17 so bezeichnet; an allen drei Stellen wird das hebr. Wort (so ausdrücklich Joh) Golgotha mit derselben griechischen Wendung wiedergegeben). Es gibt gute Gründe dafür, dass der heute in der Grabeskirche in Jerusalem verehrte Felsen das historische Golgotha ist (das Gebiet lag zur Zeit von Jesus außerhalb der Stadtmauern).

οἶνον μετὰ χολῆς „Wein mit Galle“ – für dieses Paar gibt es keine atl. Parallele, vgl. aber Ps 69[68LXX],22, wo die beiden Nomen ὄξος (Wein) und χολή (Galle) zusammen vorkommen (ὄξος ist in Mt 27,48 als Getränk erwähnt). Während Mk 15,23 Wein mit Myrrhe nennt (eher ein Betäubungsmittel), ist bei Mt mit dem Kontext von Ps 69 das Motiv der Verhöhnung dominant (vgl. Euler).

V. 35: Ob Jesus nackt war, ist aus den Texten nicht zweifelsfrei ersichtlich. Nach römischer Praxis wurden Delinquenten nackt gekreuzigt; auch das jüdische Strafrecht der Mischna sieht vor, dass Männer nackt gesteinigt werden (während Frauen bedeckt wurden). Die ältesten Darstellungen von Jesus zeigen ihn nackt am Kreuz, vgl. auch die Paschahomilie des Melito von Sardes (2. Hälfte 2. Jh.). Erst später taucht der Gedanke einer Bedeckung der Schamregion auf.

V. 38: Das Hauptverb ist hier (im Unterschied zu den voranstehenden und nachfolgenden Hauptverben) im Präsens: „Zwei ›Räuber‹ werden daraufhin mit ihm gekreuzigt.“ Dieses sog. „historische Präsens“ dient zum einen der Verlebendigung der Erzählung, kann aber auch einen Orts- oder Perspektivwechsel andeuten und dient dann als Aufmerksamkeitssignal. λῃστής meint hier keinen Räuber oder Verbrecher, sondern einen politisch motivierten Aufständischen, der sich gegen die römische Herrschaft erhob. Historisch ist damit ein Anhänger einer der Aufstandsgruppen (Zeloten) gemeint, die mit einem religiös-politischen Programm gegen die römische Herrschaft agierten (Josephus, Jüdischer Krieg II 118). Die Bezeichnung „König der Juden“ identifiziert Jesus aus römischer Perspektive mit dieser Aufstandsbewegung.

V. 42f.: Der Ausdruck καὶ πιστεύσομεν ἐπ᾿ αὐτόν könnte auch übersetzt werden mit: „und wir werden auf ihn vertrauen“ (so z.B. Alkier/Paulsen, 151). Allerdings ist in V. 43 im Zitat aus Ps 22,9 für das Verhalten von Jesus ein anderes Verb verwendet (πέποιθεν), das ebenfalls in das Wortfeld Glaube/Vertrauen gehört. Da die Wortgruppe πιστ* bei Mt üblicherweise und sachlich passend mit „Glaube“ bzw. „glauben“ übersetzt wird, ist diese Übersetzung für V. 42 gewählt worden, um zu verdeutlichen: Menschen glauben an Gott bzw. Jesus, aber Jesus vertraut seinem Vater. Durch die zwei unterschiedlichen deutschen Verben wird deutlich, dass auch im Griechischen zwei unterschiedliche Verben gebraucht sind.

V. 45: Von der sechsten bis zur neunten Stunde (vgl. die 3-mal 3-stündige Passionschronologie in Mk 15,25.33f.): zugrunde liegt der römische Tagesablauf, bei dem die „erste Stunde“ (nach Sonnenaufgang) den frühen Morgen meint, an dem die ersten Aktivitäten des Tageslaufes zu erledigen sind (vgl. Martial IV 8,1–10 = NW I/1.1, 729); die präzise Angabe 6 Uhr ist irreführend, weil sich der Tagesbeginn – und die Länge der Stunden und des Tages – nach der Jahreszeit richtet.

Diskutiert wird, ob σκότος (Finsternis) eine totale Finsternis „auf der ganzen Erde“ oder „im ganzen Land“ meint. Für beide Bedeutungen lassen sich Beispiele bei Mt finden. M.E. liegt „Land“ näher, da der ganze Passionsbericht (trotz seiner universalen Dimension) ein konkret lokalisierbares und datierbares Geschehen ist (und atl. Beispiele ebenfalls lokal begrenzt zu denken sind: Ex 10,21; 14,20; Ps 105,28; Joel 2,1f.). Im Unterschied zu Lk 23,44f. spricht Mt auch nicht von einer Sonnenfinsternis, sondern von einer (vorübergehenden) Finsternis, die nicht erklärt wird. Als Omen von Gottes Gericht ist das Motiv bekannt (Ex 10,21f.; Jes 5,30; Joel 3,4); bezogen auf den Tod großer Menschen fehlt es im AT, ist aber in der griechisch-römischen Literatur verbreitet.

V. 47f.: Die Umstehenden verhöhnen Jesus weiter, indem sie seine Anrufung Gottes als Ruf nach Elija missdeuten. Dieser gilt in der rabbinischen Literatur vielfach als Retter der Frommen in großer Not; vermutlich liegt diese populäre Vorstellung auch hier zugrunde. Der Essig verweist noch einmal auf Ps 69,22 und unterstreicht die Verhöhnung: Der Gebetsruf Jesu aus Ps 22 kann mit Worten von Ps 69,17–21 illustriert werden. Aber statt erbetener Hilfe bekommt er zum Hohn Essig statt Mitleid und Trost.

V. 51–53: Der rätselhafte Text (vor allem V. 52f.), dessen Rahmen sich auch bei Mk findet (V. 51a.54 entspricht weitgehend Mk 15,38f.), gilt als „vormt Überlieferung“ (Luz, Mt IV 356). Liest man nur die sechs flektierten Verben, die alle im Passiv stehen und auf Gott als Auslöser (passivum divinum) verweisen, dann ergibt sich eine dramatische Bewegungsline: „Der Vorhang des Tempels“ (entweder am Eingang zum Tempelgebäude, Ex 26,36, oder zwischen Hauptraum und Allerheiligstem, Ex 26,31–33) zerreißt von oben (Gott) nach unten, d.h. der Evangelist lässt die Initiative von Gott ausgehen. Folgt man dem Zerreißen des Vorhangs nach unten, sieht man die Erde beben und die Felsen „zerreißen“ (dasselbe Verb), d.h. auch hier kann an eine Bewegung von oben nach unten gedacht werden: die Gräber in den Felsen öffnen sich und geben den Blick frei auf die darin „schlafenden“ Leiber der Heiligen, die nun aufgeweckt werden und danach vielen erscheinen. In den Gräbern beginnt damit eine Bewegung, die wieder nach oben führt: das Auferstehen und Erscheinen impliziert eine Bewegung aus den Gräbern heraus in die sichtbare Welt der Menschen oder die transzendente Welt Gottes (die „Heilige Stadt“ wurde in der Auslegungsgeschichte auf das irdische oder das himmlische Jerusalem bezogen). Es ist anzunehmen, das Mt hier in erster Linie an Hes 37,11–14 denkt, dessen Heilszusage er durch dieses Geschehen als erfüllt darstellen will.

Rätselhaft bleibt der erste Teil von V. 53, der sprachlich aus der Reihe fällt. Eingeleitet durch ein Partizip und dominiert von einem aktiven Verb („sie gingen hinein“) werden die Vorgänge zwischen dem Auferwecktwerden und dem Sichtbarwerden verdeutlicht: Nach der Auferstehung Jesu gehen sie aus den Gräbern, die außerhalb der Stadt zu denken sind, in die „Heilige Stadt“, um dort vielen zu erscheinen. Entscheidend ist, dass für das Mt der Tod Jesu unmittelbare Auswirkungen auf die verstorbenen Gerechten hat, auch wenn die Sichtbarkeit ihrer Auferstehung erst eine Folge der Auferweckung Jesu ist.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Die Perikope umfasst den Kreuzigungsbericht von der Ankunft des Hinrichtungskommandos bis zu Jesu Tod und den damit verbundenen Zeichen. Vorausgegangen ist das Verhör vor Pilatus, die Verspottung als „König der Juden“ durch die Soldaten (27,29) und der bei Mt nur knapp berichtete Gang durch die Stadt nach Golgatha (27,31f.). Der Name des Ortes („Schädelstätte“) assoziiert Tod und Verwesung. Von hier aus blickt der Text auf zwei weitere Orte: den Tempel, dessen Zerstörung und Wiedererrichtung Jesus angekündigt hatte (V. 40, einer der Gründe für seine Verhaftung, Mt 26,61), und „die Heilige Stadt“, in der die beim Tod Jesu lebendig Gemachten „vielen erschienen“ (V. 53). Die mt Darstellung des Passionsgeschehens geht über weite Teile mit Mk parallel. Im Blick auf Mt lohnt sich darum der Blick auf das mt Sondergut (Mt hat den längsten Passionsbericht aller vier Evangelien). Die entscheidenden Zusätze finden sich bei der Verspottung Jesu (27,40–43, vgl. Mk 15,29–32) und den Ereignissen, die Mt unmittelbar mit dem Tod Jesu verbindet (vor allem 27,52f.): die am Kreuz Vorübergehenden (V. 39) schmähen ihn mit den Worten: „Rette dich selbst und steig herab vom Kreuz“ – soweit stimmen Mt und Mk überein. Diesen Satz ergänzt Mt in bezeichnender Weise (V. 40): „Rette dich selbst, wenn du Gottes Sohn bist…“ Genau das steht hier auf dem Spiel. Während Mk und Lk nur je einmal von Jesus als „Sohn Gottes“ im Rahmen des Passionsberichts sprechen (Lk 22,69 par Mt 26,64; Mk 15,39 par Mt 27,54), hat Mt zwei weitere Belege: den schon erwähnten V. 40 und den Sondergutvers V. 43: „Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt erretten, wenn er ihn will (etwas freier, „wenn er Gefallen hat an ihm“), denn er hat gesagt: ‚Gottes Sohn bin ich‘.“

3. Historische Einordnung

Die Kreuzigung Jesu ist der Fixpunkt seiner Biografie und wird historisch nicht bestritten (falls doch, wie etwa im Islam, vgl. Sure 4:157, sind die Gründe dogmatischer Art). Auch einzelne Details, wie die Kreuzigung zusammen mit anderen, die Verabreichung eines betäubenden Getränks oder die Tafel mit der Begründung für das Todesurteil, gelten als historisch plausibel (vgl. Herzer, Pilatus).

Historisch weniger gewiss sind die mit einem Schriftzitat verbundenen Vorgänge (das Verteilen der Kleider, Ps 22,19 in V. 35) bzw. die davon geprägten Gespräche: Ps 22,9 in V. 43 als Abschluss von V. 40–42 und Ps 22,1 als Einleitung für V. 47–50. Hier geht es um eine deutende Darstellung des Geschehenen, wie es Mt insgesamt darum geht, Leben und Sterben Jesu als Erfüllung der Schrift darzustellen. Es ist jedoch gut möglich, dass Jesus Ps 22 ganz oder in Teilen am Kreuz gebetet hat.

Die das Geschehen begleitenden Epiphanie-Indikatoren (Finsternis, Erdbeben, Furcht) und die eine apokalyptische Zeitenwende ankündigenden Totenerweckungen (V. 52f.) stellt Mt als wahrnehmbare Erfahrungen dar, die in das abschließende Bekenntnis der Soldaten in Bezug auf Jesus münden (V. 54). Dabei interessiert es Mt nicht, dass die Soldaten beim Tod Jesu weder das Zerreißen des Tempelvorhangs noch das Hervorgehen der Auferweckten aus den Gräbern am Ostermorgen (V. 52f.) gesehen haben können. Hervorgehoben wird nur das Erdbeben und die damit verbundenen Geschehnisse. Da die Reaktion der Soldaten Furcht ist (als typisch biblische Reaktion auf eine Epiphanie Gottes), sind vor allem die Motive der Finsternis und des Bebens im Blick. Entscheidend ist also nicht eine historisierende Erklärung, sondern die Vermittlung, dass der Tod Jesu ein umstürzendes Ereignis ist, das die bestehende Weltordnung des Todes im wahrsten Sinn des Wortes aufbricht.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Die Vielzahl der in diesem Text präsenten Motive sind zusammengehalten durch die dreimalige Erwähnung von „Sohn Gottes“: in V. 40 als indirekte Frage, in V. 43 als Jesus zugeschriebene Aussage und die abschließende Erkenntnis V. 54. Für Mt bestätigen sich in Jesu Tod die über ihn gemachten Aussagen: der Nachkomme Davids und rechtmäßige König von Israel (2,2) „rettet“ sein Volk (1,21 als programmatische Aussage über Jesu Leben; dasselbe Verb „retten“ dann in 27,40.42.49), indem er sein Leben hingibt (20,28). Darin bewährt er seine Sohnschaft (3,17; 17,5, vgl. 11,25f.; 26,39), weil er sich nicht dazu verführen lässt, seine Vollmacht als Sohn für eigene Zwecke zu missbrauchen (4,5–7; 27,42f., vgl. Mt 16,21–23), sondern darauf vertraut, dass sein Vater ihn rettet. Das wird deutlich, wenn man 27,53 und 28,6 als Passivformulierung versteht (vgl. Alkier/Paulsen, 212f.): Jesus wurde von seinem Vater auferweckt, weil er „ihm vertraut hat“ (vgl. 27,43).

5. Theologische Perspektivierung

Die Passionsgeschichte von Mt bietet eine doppelte Perspektive: Da ist das Grauen der Schädelstätte, das Angenageltwerden, das den Blicken und dem Spott Ausgesetztsein am Kreuz, die Verlassenheit des Beters, der letzte verzweifelte Schrei in unnatürlicher Finsternis, ein Erdbeben und wiederbelebte Tote, die aus ihren Grabhöhlen hervorkommen; eher Gruselgeschichte als Evangelium. Gott erscheint nur als Abwesender anwesend. Dennoch hat dieser Bericht nichts von einer Zombie-Geschichte. Denn diese Nahaufnahme ist eingebettet in eine zweite Perspektive, die das Evangelium als Ganzes und durch die atl. Zitate die biblische Traditionsgeschichte im Blick hat. Aus dieser wird deutlich, dass Jesu Tod am Kreuz nicht der besonders grausame Tod irgendeines Märtyrers ist, sondern der einzigartige Tod einer einzigartigen Person (die zwei Mitgekreuzigten dienen auch dazu, die Besonderheit von Jesus hervorzuheben: er ist nicht ein Opfer unter vielen). Es ist der Tod des Gottessohnes, des Immanuel, wie es die Ereignisse, die mit seinem Tod verbunden sind, bezeugen. Es ist der Tod dessen, von dem Gott sagt: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mt 3,17; 17,5); der Tod des Sohnes, der sich zu seinem Vater und dessen Willen bekennt (Mt 11,25–27; 26,39) und sein Leben hingibt „als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28). Es ist darum der Tod, der den Tod besiegt, die Gräber öffnet und das Tor zur Gemeinschaft „in der Heiligen Stadt“ mit Gott und allen Heiligen eröffnet. In der scheinbaren Abwesenheit Gottes offenbart sich seine Hinneigung zu den Menschen – auch wenn das Dunkel dieser Geschichte erst am Ostermorgen gänzlich hell wird.

Literatur

  • Alkier, Stefan / Paulsen, Thomas: Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments, zur Gattung der Evangelien und zur intertextuellen Schreibweise sowie mit einem Glossar, Frankfurter Neues Testament 2, Paderborn 2021.
  • Euler, Alida C.: Drinking Gall and Vinegar. Psalm 69:22: An Underestimated Intertext in Matt 27:34, 48, ZNW 112 (2021), 130–140.
  • Herzer, Jens, Pontius Pilatus. Henker und Heiliger, BG 32, Leipzig 2020
  • Herzer, Jens, Auferstehung und Weltende als Rätsel? Zur Funktion und Bedeutung von Mt 27,51b–53 im Kontext der matthäischen Jesuserzählung, in: Evangelium ecclesiasticum: Matthäus und die Gestalt der Kirche (Festschrift Christoph Kähler), hg. von C. Böttrich u. a., Frankfurt 2009, 115–144.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Wir gehen davon aus, dass dem Verfasser Mk, Q und Sondergut vorlag. Was also wollte der Verfasser des MtEv seiner Leserschaft über die Passion Jesu Christi im Besonderen mitteilen? Zwei Merkmale erscheinen mir durch die Exegese wesentlich:

Um deinetwillen trage ich Schmach

Indem der Verfasser mit der Erwähnung von Galle in V. 34 auf Psalm 69 anspielt, lässt er die Sprachgewalt dieses Psalms aufleuchten: „Das Wasser geht mir bis an die Kehle. / Um deinetwillen trage ich Schmach, mein Angesicht ist voller Schande. / Die Schmach bricht mir mein Herz und macht mich krank. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine. Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“ Wie der Psalmbeter ist Jesus Christus einer, der auf Gott vertraut (V. 43) und um seinetwillen (Vgl. Ps 69,8) Schmach erleidet. Was dem Leidenden nach Mt besonders zum Verhängnis wird, ist sein Anspruch auf die Gottessohnschaft. Der Gottessohn-Titel wird zum Gegenstand von Spott, um dann zu umso erschütternder Erkenntnis zu führen. 

Schrifterfüllung

Schon in Mt 26,54.56 wird die Passion Jesu als Schrifterfüllung inszeniert. Die Exegese macht deutlich, dass zwar die Kreuzigung Jesu von Nazareth zusammen mit anderen politischen Aufrührern historisch plausibel ist, ebenso das Reichen eines Getränks und das schriftlich angebrachte Urteil, nicht jedoch die auf die Schrifterfüllung zielende Ausgestaltung des Passionsberichts. Die göttliche Machtdemonstration in Form von erschütternden Naturereignissen nach Jesu Tod, die Mt im Vergleich zu Mk noch ausbaut und um die gespenstische, diachrone Schilderung der Totenauferweckung erweitert, dient einzig der Epiphanie-Erfahrung der Zeuginnen und Zeugen: Sie sind „mächtig von Furcht gepackt“, denn „die bestehende Weltordnung des Todes bricht im wahrsten Sinne des Wortes auf“ (s.o.).

2. Thematische Fokussierung

Es bietet sich an, die Dynamik der Zeuginnen und Zeugen am Kreuz nachzuzeichnen: Von Hochmut und bösem Spott hin zu erschütternder Epiphanie-Erfahrung. Alternativ regt Psalm 69 dazu an, Erfahrungen von Schmach und Schande zu thematisieren und darin Gottesnähe und Gottesferne zu ergründen. Ein anschaulicher Einstieg könnte der in der Grabeskirche verortete Golgatha-Felsen als Gegenstand von Anbetung sein.  

3. Theologische Aktualisierung

Die Perikope gibt Anlass, über Formen der Gotteserkenntnis nachzudenken. Brauchen wir eine Sonnenfinsternis, ein Erdbeben, unerklärliche physikalische Vorgänge wie das plötzliche Zerreißen des Vorhangs im Allerheiligsten, um glauben zu können wie der Hauptmann? Müssen Gebeine aus den Gräbern aufstehen und in die Heilige Stadt laufen? Müssen wir den Auferstandenen sehen, wie es von den Jüngern bezeugt wird? Oder vertrauen wir dem biblischen Zeugnis? Haben wir als Hörende des biblisches Zeugnisses Anteil am Heil, wenn wir uns, mit Bonhoeffer gesprochen, in die „heilige Geschichte Gottes auf Erden“ hineinversetzen?

Ebenso regt die Exegese eine christologische Frage an: Handelt Gott am Leidenden oder als der sich Hingebende? Wie stark kann man die Passivität des Ausgeliefertseins kontrastieren mit der Aktivität göttlichen Eingreifens nach dem Tod des Gekreuzigten? 

4. Bezug zum Kirchenjahr

Für mich als Gemeindemitglied war die wesentliche Karfreitags-Erfahrung immer das Hören der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach in einer Kirche. Der Gottesdienstbesuch trat demgegenüber zurück. Die musikalische Dramatik nimmt Einfluss auf meine Vorstellung der Gottesdienstgestaltung.

Es bietet sich an, Karfreitag als zentralen Gedenkgottesdienst zur Todesstunde zu inszenieren. Das Lesen eines synoptischen Passionsberichts mit der darin geschilderten Leiderfahrung gehört dann wesentlich dazu. Wer an Karfreitag Abendmahl feiert, erinnert an die Vorstellung vom Lamm Gottes. Im Gedanken des Sühnopfers bzw. dem der freiwilligen Hingabe des Gottessohnes wird bereits auf das Kerygma verwiesen. Das tut auch der Verfasser des Mt, indem er in V. 53 die Auferstehung antizipiert. Die Feier des Abendmahls oder eines Agape-Mahls an Gründonnerstag betont hingegen den Charakter eines Erinnerungsmahls, auf das dann die dramatischen Ereignisse an Karfreitag folgen.

Neben Psalm 22 könnte Psalm 69 an unterschiedlichen Stellen im Gottesdienst zur Sprache kommen. Der Glaube Jesu Christi ist der Glaube Israels an den Gott, der sich als der „Ich-bin-der-ich werde-da-sein“ offenbart hat und dessen Verborgenheit bei Erfahrungen von Folter, Schmach und Sterben angeklagt wird. Dass Gott trotzdem zum Retter wird und den Klagenden nicht allein lässt, davon singt nicht nur der Ausgang des 22. Psalms, sondern zuletzt auch der Osterhymnus: „Er ist wahrhaftig auferstanden.“

Es ist ein starkes Angebot für Gottesdienstbesuchende, der Inszenierung von dem tiefen Tal des Todes hin zum Licht am Ostermorgen zu folgen. Diese existenzielle Erfahrung kann die Gemeinde alljährlich von Karfreitag bis Ostersonntag einüben. Dann ist es wichtig, nicht vorausschauend, wissend oder kerygmatisch zu predigen, „das Licht“ also nicht vorwegzunehmen, sondern ganz mitzugehen in die menschliche Erfahrung von Angst, Verlassen-Sein und Leid, zu der der Predigttext ja einlädt. Wenn wir nicht verleugnen, nicht weglaufen, nicht schlummern, sondern mitfühlen und mittragen, sind wir dann nicht in der Nachfolge Jesu Christi? Wir können die Warum-Frage des Klagenden nicht beantworten, aber wir können uns immer wieder aufrichten lassen vom Glauben an den, der auch im Verborgenen mit uns ist.

Autoren

  • Prof. Dr. Roland Deines (Einführung und Exegese)
  • Esther Joas (Praktisch-theologische Resonanzen)

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