Deutsche Bibelgesellschaft

Micha 4,1-5(7b) | Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres | 10.11.2024

Einführung in das Buch Micha

Das Michabuch enthält viele wichtige Themen prophetischer Literatur von Sozialkritik bis zu Friedensvisionen. Es wird in letzter Zeit verstärkt nicht nur als einzelne Schrift, sondern auch in seinen vielfältigen Bezügen zum Zwölfprophetenbuch untersucht.

1. Wie ist das Michabuch strukturiert?

Das Michabuch ist geprägt von einem Wechsel von Unheils- und Heilstexten. Drei Höraufrufe – „Hört [doch]!“ – gliedern den Text (Mi 1,2; 3,1 und 6,1) in drei Teile (Mi 1–2; 3–5 und 6–7). Diese drei Abschnitte beginnen jeweils mit Unheilsworten (Gerichtsankündigungen) und gehen dann zu hoffnungsvolleren Aussichten (Heilsworten) über. Aufgrund des szenischen Charakters des Michabuches lässt es sich auch als dramatischer Text lesen (Helmut Utzschneider).

2. Wie ist das Michabuch entstanden?

Die Überschrift in Mi 1,1 schreibt das Buch Micha aus Moreschet (Gat; Mi 1,14), einem kleinen Ort 36 km südwestlich von Jerusalem im judäischen Hügelland, zu. Der Name Micha (oder in der Langform מיכיהו) ist ein häufiger Personenname. Er bedeutet „Wer ist wie JHWH?“ und zielt auf die Unvergleichlichkeit des Gottes Israels. Die Herkunftsbezeichnung als „Moraschiter“ zeigt, dass Micha auch außerhalb seines Geburtsortes bekannt war. Micha wird als Kritiker der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Verhältnisse beschrieben. Mi 1,1 verortet die Erzählung in der Zeit der Könige Jotam, Ahas und Hiskia von Juda in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. Teile des Buches, v.a. in Mi 1–3*, gehen vermutlich auf diese Zeit zurück. Der Fall Samarias 722 v. Chr. durch die Assyrer und Sanheribs Feldzug im Jahr 701 v. Chr., bei dem er viele Städte in Juda eroberte, Jerusalem aber nicht einnahm, sind historische Ereignisse, die in Mi 1–3 anklingen. Auch wenn der größte Teil des Michabuches aus exilisch-babylonischer und nachexilisch-persischer Zeit stammt, ist es ihm offenbar wichtig, sich in diesen historischen Rahmen zu stellen und Micha als Zeitgenossen von Jesaja und Hosea zu präsentieren, bei denen zum Teil dieselben Könige genannt werden.

Die Entstehungsgeschichte des Michabuches ist eng mit der des Zwölfprophetenbuchs verbunden, v.a. mit Hosea und Amos. Die sozialen Missstände, die im Amosbuch im Norden, Israel, kritisiert werden, werden in der Michaschrift genauso im Süden, in Juda, beschrieben. Aber auch zu Jesaja und Jeremia gibt es zahlreiche Parallelen: Jes 26,18 zitiert Mi 3,12, und die Völkerwallfahrt zum Zion findet sich auch in Jes 2,2–5.

3. Wichtige Themen

Sozialkritik: Kritik an der Ausbeutung der Landbevölkerung durch ungerechtes Verhalten der herrschenden Eliten ist ein wichtiges Thema im Michabuch (v.a. in Mi 1–3 und 6,1–7,7): Reiche eignen sich Felder der Armen an und vertreiben sie aus ihren Häusern. Soziale Ungerechtigkeiten, Machtmissbrauch, Rechtsbeugung und Korruption werden konkret beim Namen genannt, die Verfasser:innen stellen sich eindeutig auf die Seite der Armen. Die Texte zeigen – ähnlich wie in Hosea und Amos – Ungerechtigkeiten auf und führen sie auf strukturelle Ursachen zurück. Das Michabuch lässt sich als „Oppositionsliteratur“ bezeichnen (Rainer Kessler): Die oppositionelle Haltung seiner Tradentengruppen zieht sich durch alle Epochen seiner Entstehung.

Gott als gerechter Richter und messianischer König: JHWH wird als der beschrieben, der gerechte Verhältnisse herstellen kann. Die messianische Vision eines Neubeginns von Bethlehem aus wird im Kontrast zum Versagen der Autoritäten in Jerusalem entworfen (Mi 5,1–4). Diese Vorstellung dient dazu, die Krise der Zerstörung Jerusalems und des babylonischen Exils theologisch zu verarbeiten. Der Berg Zion wird als neuer Sinai etabliert, von dem Erneuerung ausgeht. Die Völker werden zum Zion strömen und ihre Waffen in landwirtschaftliche Geräte verwandeln (Mi 4,1–5; „Schwerter zu Pflugscharen“).

Volk Gottes: Im Michabuch wird darüber verhandelt, wer Israel ist. Unterschiedliche Stimmen reflektieren darüber, was das Gottesvolk ausmacht. Verschiedene Bezeichnungen wie „Israel“, „Jakob“ und „mein Volk“ stehen im Kontext eines Diskurses um die Identität Israels, die vom Norden auf den Süden, Juda, übertragen wird. Das Volk Israel wird in seiner Vielfalt, in sozialen Spannungen, in seiner historischen Entwicklung und in seiner Beziehung zu seinem Gott beschrieben. Gleichzeitig wird das Verhältnis zu den Völkern thematisiert. Bereits zu Beginn des Buches (Mi 1,2) werden die Völker angesprochen, mit der Anrede an Berge und Hügel in Mi 6,1–2 sind universale Größen adressiert. Hier und mit der Völkerwallfahrt zum Zion oder der ethischen Weisung an „den Menschen“ (Mi 6,8) enthält das Michabuch Ansätze eines Modells für die Verhältnisbestimmung von Israel und den Völkern: Wie im Deuterojesajabuch kommen die anderen Völker in den Blick, aber der Weg der Völker zum Gott Israels führt immer über das Volk Israel, nicht an ihm vorbei.

Weibliche Metaphorik: Wie bei Jesaja, Jeremia und in den Klageliedern wird die Stadt Jerusalem oder ihre Bevölkerung als „Tochter Zion“ (Mi 1,13; 4,8.10.13) oder „Tochter Jerusalem“ (Mi 4,8) angesprochen. Die Stadt wird im Alten Orient häufig weiblich personifiziert. Religionsgeschichtlich lässt sich die weibliche Personifizierung der Stadt auf die westsemitische Tradition einer Stadtgöttin oder der Frau eines Schutzgottes der Stadt zurückführen. Die Personifizierung Jerusalems als Tochter Zion hebt die Beziehungsebene zwischen Gott, Volk und Stadt hervor, die gestört ist und wieder hergestellt werden soll. Die Tochter Zion wird mit starken Bildern sowohl als in Wehen gebärende Mutter (Mi 4,9-10) als auch als Kriegerin und Kämpferin im Auftrag JHWHs (Mi 4,13) dargestellt.

4. Besonderheiten

Das Michabuch ist geprägt von einem Wechsel von Unheils- und Heilstexten. Es ist eine Falle in der Interpretation, die Unheilstexte und die Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen dem biblischen Israel zuzuordnen, die Heilstexte, die Friedensvision und das Hoffnungsbild von einem messianischen Neuanfang, aber den Völkern. Historisch sind sowohl die Sozialkritik als auch die Hoffnungstexte an Israel im 8. bis 5. Jh. v. Chr. gerichtet. Gleichzeitig enthalten diese Texte ein Potenzial, das sich über ihren historischen Kontext hinaus lesen lässt: Auch wenn die Kritik an der Ausbeutung in der bäuerlichen Welt der Michaschrift kleinräumiger ist, verweist sie auf strukturelle Probleme, die auch in der globalisierten Wirtschaft des 21. Jh. n. Chr. nicht gelöst sind. Und die Hoffnungstexte enthalten einen Ausblick auf das Verhältnis zu den Völkern, aber dieses wird nicht an Israel vorbei entfaltet, sondern Israel bleibt erster Adressat dieser Visionen. Die Hoffnung auf umfassenden Frieden wirkt heute genauso utopisch wie in der wechselvollen Entstehungszeit des Michabuches.

Literatur:

  • Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24,3), Göttingen 2007.
  • Rainer Kessler, Micha (HThK.AT), Freiburg u.a. 1999.
  • Gabriele Metzner, Micha / Michabuch, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, Stuttgart 2007 (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/27685/).
  • Helmut Utzschneider, Micha (ZBK.AT 24/1), Zürich 2005.
  • Burkard M. Zapff, Micha (IEKAT), Stuttgart 2020.

A) Exegese kompakt: Micha 4,1-5(7b)

1וְהָיָ֣ה ׀ בְּאַחֲרִ֣ית הַיָּמִ֗ים יִ֠הְיֶה הַ֣ר בֵּית־יְהוָ֤ה נָכוֹן֙ בְּרֹ֣אשׁ הֶהָרִ֔ים וְנִשָּׂ֥א ה֖וּא מִגְּבָע֑וֹת וְנָהֲר֥וּ עָלָ֖יו עַמִּֽים׃ 2וְֽהָלְכ֞וּ גּוֹיִ֣ם רַבִּ֗ים וְאָֽמְרוּ֙ לְכ֣וּ ׀ וְנַעֲלֶ֣ה אֶל־הַר־יְהוָ֗ה וְאֶל־בֵּית֙ אֱלֹהֵ֣י יַעֲקֹ֔ב וְיוֹרֵ֨נוּ֙ מִדְּרָכָ֔יו וְנֵלְכָ֖ה בְּאֹֽרְחֹתָ֑יו כִּ֤י מִצִּיּוֹן֙ תֵּצֵ֣א תוֹרָ֔ה וּדְבַר־יְהוָ֖ה מִירוּשָׁלִָֽם׃ 3וְשָׁפַ֗ט בֵּ֚ין עַמִּ֣ים רַבִּ֔ים וְהוֹכִ֛יחַ לְגוֹיִ֥ם עֲצֻמִ֖ים עַד־רָח֑וֹק וְכִתְּת֨וּ חַרְבֹתֵיהֶ֜ם לְאִתִּ֗ים וַחֲנִיתֹֽתֵיהֶם֙ לְמַזְמֵר֔וֹת לֹֽא־יִשְׂא֞וּ גּ֤וֹי אֶל־גּוֹי֙ חֶ֔רֶב וְלֹא־יִלְמְד֥וּן ע֖וֹד מִלְחָמָֽה׃ 4וְיָשְׁב֗וּ אִ֣ישׁ תַּ֧חַת גַּפְנ֛וֹ וְתַ֥חַת תְּאֵנָת֖וֹ וְאֵ֣ין מַחֲרִ֑יד כִּי־פִ֛י יְהוָ֥ה צְבָא֖וֹת דִּבֵּֽר׃ 5כִּ֚י כָּל־הָ֣עַמִּ֔ים יֵלְכ֕וּ אִ֖ישׁ בְּשֵׁ֣ם אֱלֹהָ֑יו וַאֲנַ֗חְנוּ נֵלֵ֛ךְ בְּשֵׁם־יְהוָ֥ה אֱלֹהֵ֖ינוּ לְעוֹלָ֥ם וָעֶֽד׃ פ

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7וְשַׂמְתִּ֤י אֶת־הַצֹּֽלֵעָה֙ לִשְׁאֵרִ֔ית וְהַנַּהֲלָאָ֖ה לְג֣וֹי עָצ֑וּם וּמָלַ֨ךְ יְהוָ֤ה עֲלֵיהֶם֙ בְּהַ֣ר צִיּ֔וֹן מֵעַתָּ֖ה וְעַד־עוֹלָֽם׃ פ

Übersetzung

1Und es wird geschehen am Ende der Tage,

da wird der Berg des Hauses JHWHs fest gegründet sein auf dem Gipfel der Berge,

und er wird sich erheben über die Hügel, und Völker werden zu ihm strömen,

2und viele Nationen werden hingehen und sagen:

Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs, zum Haus des Gottes Jakobs,

damit er uns in seinen Wegen unterweist und wir auf seinen Pfaden gehen.

Denn vom Zion wird Tora ausgehen und das Wort JHWHs von Jerusalem.

3Und er wird richten zwischen vielen Völkern

und mächtigen Nationen Recht sprechen, bis in die Ferne.

Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden

und ihre Speere zu Winzermessern.

Sie werden das Schwert nicht erheben, keine Nation gegen eine andere,

und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen.

4Und jeder Mensch wird unter seinem Weinstock sitzen und unter seinem Feigenbaum,

ohne dass jemand aufschreckt – denn der Mund JHWHs der Heerscharen hat gesprochen!

5Denn alle Völker gehen, ein jedes, im Namen des eigenen Gottes,

wir aber, wir gehen im Namen JHWHs, unseres Gottes, für immer und ewig!

(7b Und JHWH wird König sein über sie auf dem Berg Zion

von nun an bis in Ewigkeit.)

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 1: „Am Ende der Tage“ (והיה באחרית הימים) oder „auf der Rückseite der Tage“ verweist auf eine ferne Zukunft, die aber nicht rein eschatologisch das Ende der Weltzeit meint, sondern auch die Zeit bis dahin, also die Zeit der konkreten Geschichte umfasst. Im Strömen der Völker „zum“ oder wörtlich „gegen“ (על) den Zion klingt die sonst üblicherweise feindliche Absicht der Völker an.

V. 2: Die „Tora“, im Parallelismus als „Wort JHWHs“ qualifiziert, ist sowohl „Gesetz“, „Rechtsbestimmung“ als auch „Weisung“, „Anweisung“ und „Lehre.“  Es ist schwierig, im Deutschen diese Breite mit einem Begriff wiederzugeben. Eine Übersetzung mit „Weisung“ (wie z.B. in der Zürcher Bibel) ist jedenfalls offener. Um die Bedeutungsfülle zu erhalten, bleibt „Tora“ hier unübersetzt.

V. 3: Im Parallelismus wird Gottes umfassendes „Richten“ unter den Völkern beschrieben. Die hebräischen Verben שפט und יכח haben ein weites Bedeutungsspektrum: „entscheiden“, „schlichten“, „Recht sprechen“, „für Recht sorgen“, „zum Recht verhelfen“ und „Gerechtigkeit schaffen“.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der Beginn von Mi 4 entwirft eine Zukunftsvision: Der Zion, der Berg des „Hauses JHWHs“, der Tempelberg, aus der Perspektive der babylonischen und persischen Großmächte ein unbedeutender Hügel, wird zum höchsten Berg erhöht, zu dem die Völker strömen. Es ist ein Motiv altorientalischer Tempeltheologie, dass feindliche Völker zum Tempel ziehen und – wenn sie bezwungen werden – Tribut zahlen (vgl. Hag 2,7; Jes 60,3–18). In der vorexilischen Zionstheologie und ihrem Völkersturm (Ps 46; 48) sind die fremden Völker dabei erfolglos im Vergleich zur Macht JHWHs. In Mi 4 wird dagegen ein friedliches Bild entworfen. Die Völker ziehen zum Berg Zion und lassen sich von der Tora JHWHs belehren. Diese Unterweisung hat praktische Konsequenzen für den konkreten Lebenswandel (V. 2). Die Tora, die JHWH dem Mose für Israel gegeben hat, wird hier ausgeweitet, sie geht vom Zion aus, öffnet aber einen Horizont über Israel hinaus.

Wirkungen dieser Tora sind Gerechtigkeit und Frieden, die in V. 3 geschildert werden: Gottes Handeln als Richter bewirkt, dass Konflikte zwischen den Völkern friedlich geschlichtet werden. Eine weitere Konsequenz ist, dass Kampfwerkzeuge zu landwirtschaftlichen Geräten umgearbeitet werden. Nationen kämpfen nicht mehr gegeneinander, Krieg wird nicht mehr gelernt.

V. 4 verbindet zwei Motive, die an anderen Stellen unabhängig voneinander vorkommen: das Sitzen unter Weinstock und Feigenbaum als Inbegriff von Frieden – in 1 Kön 5,5 bezogen auf die Zeit Salomos, mit Juda und Israel als Subjekt – und die Phrase „ohne dass jemand aufschreckt“ oder „es gibt niemanden, der aufstört“ ( אין מחריד), die die Sicherheit von Tieren (Jes 17,2), von einzelnen Menschen (Hi 1,19) oder von ganzen Völkern (Lev 26,6) umschreiben kann.

V. 5 beschreibt ein friedliches Nebeneinander nicht nur der Völker, sondern auch der anderen Götter neben JHWH, dem einen Gott Israels. Der betonte Einsatz mit „Wir aber…“ eröffnet eine gemeinschaftliche Perspektive und hat liturgische Konnotation.

V. 7b, der den Gottesspruch V. 6–7 abschließt, steht mit Mi 2,12–13 in Verbindung und beschreibt die zukünftige Sammlung von Israels „Rest“, den im Exil Verstreuten. Wenn dies geschieht, dann wird die Königsherrschaft JHWHs auf dem Zion beginnen – eine Vorstellung, die an Psalmen wie Ps 93,1; 96,10; 87,1 u.a. erinnert.

3. Literarischer Kontext und historische Einordnung

In Mi 4,1 beginnt ein neuer Abschnitt, der als Neueinsatz markiert ist. Nach dem Blick auf die Zerstörung Jerusalems in Mi 3,12 folgt im literarischen Kontext in Mi 4,1–5 eine hoffnungsvolle Perspektive auf die Erhöhung des Zions, des Tempelbergs und Wohnortes JHWHs. Die Formel „denn der Mund JHWHs der Heerscharen hat gesprochen“ markiert einen Abschluss des Abschnitts V. 1–4.

Mi 4,1–3 steht fast identisch auch in Jes 2,2–4. Die Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion, der Ausbreitung der Tora von dort, die Bilder von Gott als Richter und umfassendem Weltfrieden werden also sowohl Micha als auch Jesaja zugeschrieben.

Historischer Kontext dieses Textes sind Diskurse in persischer Zeit um den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem (Jes 60; Hag 2,1–9; Sach 8,20–22). Gegen Stimmen, die Zweifel am Wiederaufbau haben und dem ersten Tempel nachtrauern, wird hier die Vision von einem zentralen und eigenständigen Heiligtum entworfen – mit einer Wirkung, die ausstrahlt.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde in der Friedensbewegung in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts und rund um das friedliche Ende der DDR häufig verwendet. Die Vision einer Welt, in der das Kriegshandwerk nicht mehr gelernt wird, war in der Entstehungszeit dieser Texte genauso utopisch wie heute. In seinem utopischen Charakter sind im Text nicht nur eschatologische Vorstellungen formuliert, sondern er enthält auch Perspektiven für die jeweilige Gegenwart.

Es ist ein Paradox, dass gerade vom Zion, der in der Perspektive der damaligen Weltmächte ein kleiner, unbedeutender Hügel ist, und im Laufe der Geschichte v.a. ein Ort des Krieges und der Auseinandersetzung geworden ist, Tora, Gerechtigkeit und Frieden ausgehen.

5. Theologische Perspektivierung

Der Text enthält wichtige theologische Motive: die Erwartung einer Völkerwallfahrt zum Zion und der Ausbreitung von Tora. Konsequenzen dieser Tora sind umfassende Gerechtigkeit und Frieden. Auch wenn das Bild vom umfassenden Weltfrieden utopisch ist, enthält der Text mit seinen Aufforderungen an das kollektive Wir – zum Aufbruch (V. 2b) und zum „Gehen“ (הלך  hlk) im Namen Gottes (V. 5b), das das Tun (die Halachah) inkludiert –, Ansätze zur Umsetzung. Gemeinsames Lernen, friedliches Sitzen unter Weinstock und Feigenbaum, Schwerter zu Pflugscharen, Gott als gerechter Richter – das sind prophetische Bilder, die Transformationsprozesse anregen können.

Literatur:

  • Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24,3), Göttingen 2007.
  • Rainer Kessler, Micha (HThK.AT), Freiburg u.a. 1999.
  • Gabriele Metzner, Micha / Michabuch, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, Stuttgart 2007 (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/27685/).
  • Helmut Utzschneider, Micha (ZBK.AT 24/1), Zürich 2005.
  • Burkard M. Zapff, Micha (IEKAT), Stuttgart 2020.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Wirkungsgeschichte eines so kleinen Propheten erscheint doch bemerkenswert. Der Text liefert zentrale Stichworte wie „in jenen Tagen“, die Völkerwallfahrt zum Zion, die Ausbreitung und Wirkungen der Tora, Visionen vom Friedensreich, die assoziativ weitergeführt werden können über die Schriften des Neuen Testaments bis in unsere heutige Zeit. Mit der Ankündigung umfassenden Friedens für die Völker wirkt er über die Bergpredigt Jesu bis in die christliche Verkündigung hinein und hat im 20. Jahrhundert mit der friedlichen Revolution in der DDR Geschichte geschrieben. Die Aktualität des prophetischen Textes ist gerade im Zusammenhang mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und dem Krieg, der im Nahen Osten mit dem Terror der Hamas gegen Israel und der Geiselnahme durch die Hamas im Oktober 2023 begann, nicht von der Hand zu weisen. Auf der Suche nach einer christlichen Positionierung, die an die Friedensbewegung der vergangenen Jahrhunderte anknüpfen und zugleich ihre Solidarität mit Israel nicht verraten möchte, gilt es auf die prophetischen Worte zu hören.

Der Berg Gottes wird zum Zentrum der Welt. Hier wird Weltgeschichte geschrieben, denn alle Völker sind auf dem Weg zum Berg Gottes. Zion wird erhöht zum Mittelpunkt der Welt. Von Israel sollen die Völker Frieden lernen, indem sie die Tora lernen und von Gott gerichtet und zurechtgebracht werden.

Jes 2,2–4 gilt als Paralleltext, der fast wortgleich die Völkerwallfahrt zum Zion aufnimmt und deren friedliche Wirkungen in eindrucksvollen Bildern beschreibt. Die geschichtlichen Erfahrungen Israels werden umgekehrt. Der Tempelberg, in den Traditionen der Völker der Ort der Demütigung der besiegten Völker, da sie dort ihren Tribut zu erstatten hatten, wandelt sich zu einem Ort der Würdigung. Die Völker werden mit den Weisungen der Tora beschenkt, damit sie friedlich miteinander leben können. Das Hören, das Richten, zu dem das Schlichten und Entscheiden gehört (schafat: Recht schaffen, zum Recht verhelfen, aber auch zurechtbringen), leiten zum konkreten Friedenshandeln an („Frieden schaffen ohne Waffen“). Das Hören und die Gabe der Tora weisen den Weg zum Tun, zur Halacha. Menschen werden nicht mehr verpflichtet, das Kriegshandwerk zu erlernen. Stattdessen werden Bilder für den Frieden entworfen. Sie beschreiben eine Sesshaftigkeit in fruchtbarer Fülle, eine friedliche Koexistenz von Völkern und Göttern.

Die Begriffe in jenen Tagen und Berg Zion sind eschatologisch aufgeladen und dennoch irdisch verhaftet. Der Aufruf zum Frieden-Schaffen ist an diese Welt gerichtet. Gewalt, Tod, Krankheit, Hunger, die Zerstörung der Familien, die Verheerung ganzer Landstriche bis zur Unbewohnbarkeit, die Beschädigung von Leib und Seele, all das sind Auswirkungen des Krieges, die den unbedingten Einsatz für den Frieden als konkretes Handeln einfordern. Wo Krieg ist, können Menschen nicht leben, wird die Schöpfung zerstört. Es reicht nicht aus, die Friedensbemühungen auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben und die gute Schöpfung Gottes dem Untergang zu überlassen. Wer die Worte des Michabuches so versteht und deutet, entwertet das Hier und Heute, das Zusammenleben von Menschen und Völkern. Micha 4 zeigt eindrücklich, wie Frieden geht. Die Friedensverheißung erschöpft sich allerdings nicht in Diesseitserwartungen. Sie erhält ihre Kraft aus der göttlichen Gründung. Die prophetischen Worte halten Diesseits und Jenseits zusammen und schützen damit das Friedenshandeln vor Vereinseitigung und Ideologisierung. Das umfassende Bild des Friedensstiftens und -schaffens für die gesamte Schöpfung bleibt unbedingt an Gottes zurechtbringendes Handeln gebunden. Es bleibt in der Verantwortung Gottes, den Frieden zu vollenden.

Dass es um eine umfassende Erfahrung geht, drückt sich in den verschiedenen Parallelismen aus, mit denen der prophetische Text arbeitet: Berge und Hügel; Völker und Heiden; Berg des Herrn und Haus des Gottes Jakobs; Wege und Pfade; Weisung und Wort des Herrn; Schwerter und Speere; Pflugscharen und Winzermesser; Weinstock und Feigenbaum. Diese paarweise Anordnung drückt die ganzheitliche Dimension des Geschehens aus. Die Friedenperspektive Gottes umfasst Zeit und Ewigkeit, die Welt und das Himmelreich.

2. Thematische Fokussierung

Die Welt kommt in Bewegung. Die Völker machen sich auf zum Zionsberg, dem neuen Sinai. Gott richtet und bringt zurecht. Er entscheidet. Mit der Gabe der Tora an die Völker weist er den einen neuen Weg. Er setzt auf Wandel und die Wandlungsfähigkeit des Menschen. Die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Tuns ist ein Ergebnis der menschlichen Bezogenheit auf Gottes Tun und Israels Tun. Die Bilder, die für diesen eingeleiteten Wandel genutzt werden, zeugen von harter Arbeit, die ihre Zeit braucht (Schwerter zu Pflugscharen, Spieße zu Sicheln). Gott und Mensch brauchen Zeit. Der Begriff „in jenen Tagen“ bringt diese unscharfe Zeitdimension zum Ausdruck.

Immer wieder werden die Abschnitte des Michabuches mit der Aufforderung gegliedert: Hört! Wie sieht also ein Hören aus, das zum Tun anregt? Wie können wir so hören, dass es zum Tun wird? Jeder Wandlung geht ein Hören voraus, eine Schulung des Gehörs und ein dauerhaftes Hören auf den, der vom Zion spricht und zurechtbringt und Wege weist.

3. Theologische Aktualisierung

Am 4.12.1959 übergab die Sowjetunion der UNO eine Skulptur, welche Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch geschaffen hatte. Ein Mann schmiedet ein Schwert um zu einem landwirtschaftlichen Gerät. 1980 wurde diese Skulptur zum Symbol der Friedensbewegung in Ost und West. Das Motiv wurde mit den Worten „Schwerter zu Pflugscharen“ kommentiert. Vor allem in der DDR wurde der Aufnäher zum Politikum. 1982 wurde er verboten. An die Stelle des biblischen Slogans trat Wilhelm Buschs Fabel vom Fuchs und dem Igel: „Der Friede muss bewaffnet sein.“ Umso spektakulärer war die Aktion des Kunstschmieds Stefan Nau im Lutherjubiläumsjahr. Am 24.9.1983 schmiedete er im Lutherhof, in Wittenberg, ein Schwert zu einer Pflugschar um. Friedensinitiativen berufen sich immer wieder auf die Geschichte dieser Skulptur und ihrer Botschaft. Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind die kleinen Aufnäher wieder im Umlauf und weisen auf die Aktualität der biblischen Bilder hin.

Im prophetischen Text geht es um Transformationsprozesse. Sie widerstehen der Kriegslogik und setzen das Friedensanliegen in konkrete Bildvorstellungen um. Alles kann sich wandeln. Der Wechsel zwischen „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ ist die Voraussetzung für menschliches Leben. Deshalb beginnt schon jetzt im Hier und Heute, was sich bei Gott vollenden wird. Diesseitiger Einsatz für den Frieden und jenseitige Vollendung des Friedens stehen sich nicht alternativ oder in einer zeitlichen Abfolge gegenüber. Frieden ist schon jetzt durch den Wandel des eigenen Tuns möglich. Allerdings ist immer zu unterscheiden zwischen verantwortlichem Handeln und einer letzten Verantwortung, die bei Gott liegt. Wer die Hoffnung auf die Wandlungsfähigkeit der Welt verliert, verliert auch den Zugang zur Welt.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Mi 4,1–5 wurde neu in die Perikopenordnung aufgenommen. Unter dem biblischen Leitwort „Selig sind, die Frieden stiften, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,9) wird Gottes und menschliches Friedenshandeln thematisiert. Der drittletzte Sonntag im Kirchenjahr, der die Friedensdekade eröffnet, ist mit der neuen Perikopenordnung zum Friedenssonntag geworden.

5. Anregungen

Unter der Überschrift „Weltzeit in Gotteszeit“ reflektiert Heinrich Assel Martin Nicols Adventspredigt in Erlangen. In sprachlichen Bildern öffnet sich der Blick für die messianische Perspektive, das Un-Erwartbare. Der Krieg vertritt immer die Logik des Stärkeren und sei es die stärkere Ordnungsmacht, die den Gewalttäter bezwingt. Der Ausstieg aus der Kriegslogik geschieht durch die Intervention Gottes, durch sein Zurechtbringen und die Gabe der Tora an alle Völker. Die dadurch ausgelösten Transformationsprozesse gilt es sprachlich zu skizzieren und in unsere Zeit zu übersetzen.

Literatur

  • Heinrich Assel, Weltzeit in Gotteszeit, in: Alexander Deeg / Dieter Rammler (Hrsg.), Dramaturgische Homiletik. Eine Zwischenbilanz, Leipzig 2020, 66–82.
  • Karl-Heinrich Bieritz (Hrsg.), Schalom. Gedanken zum Frieden aus biblischer Sicht, Berlin 1989.
  • Alexander Deeg / Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte, Leipzig 52021.
  • Liturgische Konferenz für die Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Perikopenbuch, Leipzig 2018.

Autoren

  • Prof. Dr. Marianne Grohmann (Einführung und Exegese)
  • Cornelia Reuter (Praktisch-theologische Resonanzen)

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