Deutsche Bibelgesellschaft

Hebräer 12,12-18(19-21)22-25a | 2. Sonntag nach Epiphanias | 14.01.2024

Einführung in den Hebräerbrief

"Werft euer Vertrauen nicht weg", - diese eindringliche Ermutigung aus Hebr 10,35 stand 2019 im Mittelpunkt des Dortmunder Kirchentags. Der Hebräerbrief wendet sich bis heute als »Wort tröstlicher Ermahnung« (13,22) an müde gewordene Gemeinden. Damit ist er hochaktuell. Auch in der jüngeren Forschung hat der Hebr Konjunktur, zugleich gibt er nach wie vor ungelöste Rätsel auf.

1. Verfasser

Den Verfasser (Vf.) des Hebräerbriefes identifizierte die Kirche über viele Jahrhunderte mit Paulus und begründete dies u.a. mit der Nennung (s)eines Mitarbeiters Timotheus (13,23). Paulus scheidet jedoch aus sprachlichen und theologischen Gründen als Autor aus. Auch andere Verfasserhypothesen (Clemens Romanus; Barnabas; Apollos) überzeugen nicht. Es bleibt beim Urteil des Origenes (Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, VI 25,11ff): „Wer diesen Brief geschrieben hat, das weiß Gott allein.“ Der Vf. ist ein eigenständiger Denker von hohem rhetorischem und theologischem Format. Er gibt das von den Aposteln zuverlässig überlieferte Wort Gottes weiter (2,1-4). Sein theologisches Denken weist Bezüge zur jüdischen Apokalyptik und zum hellenistischen Judentum, vor allem zu Philo auf.

2. Adressaten

Die Adressierung „An die Hebräer“ ist eine vom Inhalt erschlossene Überschrift aus der Zeit der Sammlung urchristlicher Briefe. Die Adressaten sind dem Vf. persönlich bekannt (13,19). Die Gemeinde war in der Vergangenheit vorbildlich in der Nächstenliebe (6,10), sie erduldete einen schweren Leidenskampf, nahm den Raub ihrer Besitztümer hin und ertrug das Schicksal, dass sie zum „Schauspiel gemacht wurde“ (10,32-34). Die äußere Bedrängnis setzt den Gemeindegliedern zu. Sie sind verunsichert (13,9) und stehen in der Gefahr vom Glauben abzufallen (3,12f), schwerhörig (5,11), träge (6,12), müde und verbittert (12,12ff) zu werden, die Gottesdienste zu verlassen (10,25), ihre Zuversicht aufzugeben (10,35f), am Heil vorbeizutreiben (2,1) und von der himmlischen Ruhestatt Gottes ausgeschlossen zu werden (4,1). In diese Situation hinein schreibt der Vf. sein

3. »Wort tröstlicher Ermahnung« (13,22)

Diese Selbstbezeichnung steht in der antiken Synagoge für die Predigt (vgl. Apg 13,15). Seiner Form nach ist der Hebräer kein Brief im eigentlichen Sinn. Es fehlen die für einen antiken Brief (vgl. Paulusbriefe) wesentlichen Angaben zum Absender und zu den Adressaten (Präskript) ebenso wie die Danksagung (Proömium) für die Glaubensfestigkeit der Adressatengemeinde. Der Hebr ist „die erste vollständige urchristliche Predigt, die uns erhalten blieb“ (O. Michel, S.24). Sie wurde mit einem Briefschluss versehen und versandt. Die Hebräerpredigt umkreist vielfach das Thema von Verheißung und Erfüllung, sie verfolgt das Ziel, die angefochtene Gemeinde an die in Jesus Christus fest gegründete Hoffnung zu erinnern (Zuspruch: 3,1-6; 6,17-20; 10,19-21). Zugleich ermutigt und ermahnt sie, am Christusbekenntnis festzuhalten (Anspruch: 3,14; 6,11f; 10,22-25) und so das unmittelbar bevorstehende endzeitliche Heil zu erlangen (9,28; 10,25; 10,35-39).

4. Abfassungszeit und Entstehungsort

Die Adressatengemeinde ist wohl in Rom beheimatet. Dafür sprechen die Grüße in 13,24 und die erste sicher datierbare Bezeugung des Hebr durch den in Rom entstandenen 1. Clemensbrief (96 n.Chr.). Wörtliche und sachliche Anklänge zeigen, dass der 1Clem den Hebr gekannt hat. Die Abfassungszeit ist demnach vor dem Jahr 96 anzusetzen. Als frühestmöglicher Abfassungszeitpunkt kommen die Wirren um das »Claudiusedikt« (49 n.Chr.) oder die neronische Verfolgung (64 n.Chr.) in Betracht (10,32-34; 13,7). Dass die Adressatengemeinde noch nicht bis aufs Blut widerstanden hat (12,4), spricht jedoch gegen ein weitverbreitetes Martyrium. Genauere zeitliche Eingrenzungen sind kaum möglich. Auch der Entstehungsort ist nicht endgültig identifizierbar. Die Angabe „es grüßen euch die aus Italien“ (13,24) kann zweifach gedeutet werden: Entweder hält sich der Vf. in Italien (Rom) auf oder er schreibt zusammen mit anderen, aus Italien stammenden Personen an die Adressatengemeinde.

5. Gliederung und wichtige Themen der exegetischen Interpretation

Einer Schlagzeile gleich stellt der Hebr in den Eingangsversen (1,1-4) das Wichtigste voran: Gott redet zu uns Menschen. An die Väter- und Müttergeneration des Volkes Israel erging Gottes Wort vorzeiten, vielfach und auf vielerlei Weise durch die Propheten. An die christliche Gemeinde erging es einmalig und abschließend im Sohn Gottes (1,2; 2,3). Mit diesen zwei Redeweisen Gottes sind zwei Ordnungen (διαθῆκαι) verbunden, in denen Gottes Heilsgeschichte und sein Verhältnis zu uns Menschen festgelegt ist. In drei Hauptteilen vergleicht der Hebr die Zeit Israels als Zeit der »ersten Ordnung« (πρώτη διαθήκη) mit der Zeit der christlichen Gemeinde als Zeit der »neuen Ordnung« (καινή διαθήκη). Der Vf. stellt Kundgabe, Dauer, Form, Mittlerschaft, Priestertum, Wirkungsweise und Zielsetzung der beiden Ordnungen gegenüber. Im Mittelpunkt steht die Haltung des »wandernden Gottesvolkes« gegenüber dem göttlichen Verheißungswort.

Der 1. Hauptteil (1,1-4,13) stellt die Wüstengeneration als warnendes Beispiel des Ungehorsams dar: Wer dem Verheißungswort Gottes nicht vertraut, kann nicht in Gottes himmlische Ruhestatt eingehen (3,7-4,11).

Im 2. Hauptteil (4,14-10,31) vergleicht der Hebr das levitische Priestertum mit dem himmlischen Hohenpriestertum Jesu: Das levitische Priestertum wiederholt Jahr für Jahr am Großen Versöhnungstag im irdischen Heiligtum die Opfer für die eigenen Sünden und für die Sünden des Volkes. Der himmlische Hohepriester Jesus (5,1-10; 7,1-28) gab sich an Karfreitag, dem Großen Versöhnungstag, im himmlischen Allerheiligsten einmalig selbst dahin, um für alle Menschen eine ewig gültige Sündenvergebung zu erwirken (8,1-10,18). Dadurch ist der Weg ins himmlische Allerheiligste für alle Glaubenden des einen Gottesvolkes beider Ordnungen frei. Sie können in den Gottesdiensten hinzutreten zum Thron der Gnade (4,14-16). Im Glauben haben sie jetzt schon einen festen Anker der Seele, der ins himmlische Allerheiligste hineinreicht (6,19). Wenn der himmlische Hohepriester zum zweiten Mal kommt (9,28), dürfen sie ihm, dem Vorläufer, in die Gegenwart Gottes folgen (6,19f; 10,19ff).

Im Zentrum des 3. Hauptteils (10,32-12,29) steht die „Wolke der Glaubenszeugen“ aus der Geschichte Israels (11,1-40), an der sich die angefochtene Gemeinde orientieren soll. Bemerkenswert ist: Jesus wird in diese Schar eingereiht (12,1-3). Als Sohn Gottes und himmlischer Hoherpriester ist er Urheber des Heils (2,10; 5,9) für alle Glaubenden (fundamentum et sacramentum fidei). Zugleich weist er als Glaubensvorbild (exemplum fidei) seinen Brüdern und Schwestern (2,17f) den Weg ins himmlische Allerheiligste, in das er vorausgegangen ist. Dort sitzt er zur Rechten Gottes (1,3; 8,1; 10,12f; 12,2) und hält Fürsprache für die Glaubenden (7,24f).

6. Theologische Eigenart

Die theologische Eigenart der Hebräerpredigt kennzeichnet vor allem seine für das Neue Testament einzigartige Hohepriesterlehre: Der Vf. verbindet das im Anschluss an Ps 2,7 formulierte Bekenntnis „Jesus ist der Sohn Gottes“ mit Ps 110,4b: „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“ (5,5-10; 7,3.20-22). Er knüpft dabei an atl. Kultussprache an und unterscheidet – wie das AT (Ex 25-27; Lev 16) – zwischen irdischem und himmlischem Heiligtum (Kap. 8f). Wenn der Hebr vom „Gesetz“ spricht, dann meint er v.a. das priesterliche Kultgesetz (7,11.19.28). Dieser vielfache Bezug zum Alten Testament dürfte mit Grund für die Überschrift „An die Hebräer“ gewesen sein.

Hervorzuheben ist ferner sein Glaubensverständnis. Martin Luthers Übersetzung der Glaubensdefinition in 11,1 ist berühmt: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Dies trifft Wesentliches, obwohl die neueren Auslegungen Luthers Übersetzung nicht mehr folgen: Glaube ist Feststehen bei Erhofftem, Überzeugtsein von der Realität der himmlischen Dinge, die man mit bloßen Augen nicht sieht. Glaube vertraut dem göttlichen Verheißungswort und gibt – auch in schweren Tagen – das Bekenntnis zu Jesus Christus nicht preis (3,12-14; 4,1-3; 10,22-25; 10,35-11,1; 12,1f). Wer bis zur Wiederkunft des himmlischen Hohenpriesters an der Hoffnung und den Verheißungen Gottes festhält, wird das Heil erlangen und in die unmittelbare Gottesnähe eingehen (εἰσέρχesθαι: 3,12-14; 4,1-3; 9,28; 10,35ff; 11,39f; 12,18-24). Für all diejenigen jedoch, die bewusst vom Glauben abfallen, gibt es nach dem Hebr keine Erneuerung der Buße (6,4-8; 10,26-31; 12,16f). Wie soll man diesem »harten Knoten« (M. Luther) begegnen? Vielleicht mit der Segensbitte im angefügten Briefschluss (13,20f): „Der Gott des Friedens … möge in uns wirken, was vor ihm wohlgefällig ist, durch Jesus Christus.“

Literatur:

  • Backhaus, Knut, Der Hebräerbrief (Regensburger Neues Testament), Regensburg 2009.
  • Gräßer, Erich, An die Hebräer, Band 1-3 (EKK XVII 1-3) Zürich-Neukirchen, 1990-1997, Göttingen 2016.
  • Long, Thomas G.: Hebrews (Interpretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching), Louisville/Kentucky 1997.
  • Michel, Otto, Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen 71975.
  • Rose, Christian, Der Hebräerbrief (Die Botschaft des Neuen Testaments); Neukirchen/Göttingen/Leiden 32023.
  • Schunack, Gerd, Der Hebräerbrief (ZBK.NT 14), Zürich 2002.

A) Exegese kompakt: Hebräer 12,12-18(19-21)22-25a

12Διὸ τὰς παρειμένας χεῖρας καὶ τὰ παραλελυμένα γόνατα ἀνορθώσατε, 13καὶ τροχιὰς ὀρθὰς ποιεῖτε τοῖς ποσὶν ὑμῶν, ἵνα μὴ τὸ χωλὸν ἐκτραπῇ, ἰαθῇ δὲ μᾶλλον. 14Εἰρήνην διώκετε μετὰ πάντων καὶ τὸν ἁγιασμόν, οὗ χωρὶς οὐδεὶς ὄψεται τὸν κύριον, 15ἐπισκοποῦντες μή τις ὑστερῶν ἀπὸ τῆς χάριτος τοῦ θεοῦ, μή τις ῥίζα πικρίας ἄνω φύουσα ἐνοχλῇ καὶ δι’ αὐτῆς μιανθῶσιν πολλοί, 16μή τις πόρνος ἢ βέβηλος ὡς Ἠσαῦ, ὃς ἀντὶ βρώσεως μιᾶς ἀπέδετο τὰ πρωτοτόκια ἑαυτοῦ. 17ἴστε γὰρ ὅτι καὶ μετέπειτα θέλων κληρονομῆσαι τὴν εὐλογίαν ἀπεδοκιμάσθη, μετανοίας γὰρ τόπον οὐχ εὗρεν καίπερ μετὰ δακρύων ἐκζητήσας αὐτήν.

18Οὐ γὰρ προσεληλύθατε ψηλαφωμένῳ καὶ κεκαυμένῳ πυρὶ καὶ γνόφῳ καὶ ζόφῳ καὶ θυέλλῃ 19καὶ σάλπιγγος ἤχῳ καὶ φωνῇ ῥημάτων, ἧς οἱ ἀκούσαντες παρῃτήσαντο μὴ προστεθῆναι αὐτοῖς λόγον, 20οὐκ ἔφερον γὰρ τὸ διαστελλόμενον· κἂν θηρίον θίγῃ τοῦ ὄρους, λιθοβοληθήσεται· 21καί, οὕτως φοβερὸν ἦν τὸ φανταζόμενον, Μωϋσῆς εἶπεν· ἔκφοβός εἰμι καὶ ἔντρομος. 22ἀλλὰ προσεληλύθατε Σιὼν ὄρει καὶ πόλει θεοῦ ζῶντος, Ἰερουσαλὴμ ἐπουρανίῳ, καὶ μυριάσιν ἀγγέλων, πανηγύρει 23καὶ ἐκκλησίᾳ πρωτοτόκων ἀπογεγραμμένων ἐν οὐρανοῖς καὶ κριτῇ θεῷ πάντων καὶ πνεύμασιν δικαίων τετελειωμένων 24καὶ διαθήκης νέας μεσίτῃ Ἰησοῦ καὶ αἵματι ῥαντισμοῦ κρεῖττον λαλοῦντι παρὰ τὸν Ἅβελ.

25Βλέπετε μὴ παραιτήσησθε τὸν λαλοῦντα· εἰ γὰρ ἐκεῖνοι οὐκ ἐξέφυγον ἐπὶ γῆς παραιτησάμενοι τὸν χρηματίζοντα, πολὺ μᾶλλον ἡμεῖς οἱ τὸν ἀπ’ οὐρανῶν ἀποστρεφόμενοι,

Hebräer 12:12-25NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

12 Darum richtet auf die erschlafften Hände und die ermatteten Knie.

13 Und stellt eure Füße auf gerade Pfade, damit das Lahme nicht von der rechten Bahn abkomme, sondern geheilt werde.

14 Trachtet eifrig nach dem Frieden mit allen und bemüht euch um Heiligung, denn ohne sie wird niemand den Herrn schauen.

15 Und achtet darauf, dass niemand die Gnade Gottes versäume, »dass keine Wurzel der Bitterkeit aufwachse und Unheil anrichte« (Dtn 29,17) und dadurch viele vergiftet werden.

16 Niemand sei ein Ehebrecher oder ein Verworfener wie Esau, der für eine einzige Mahlzeit sein Erstgeburtsrecht verkauft hat.

17 Denn ihr wisst, dass er später, als er den Segen zum Erbe erlangen wollte, verworfen wurde, denn er fand keine Möglichkeit mehr zur Umkehr, obwohl er sie unter Tränen suchte.

18 Denn ihr seid nicht hinzugetreten zu einem betastbaren (Berg) und zu loderndem Feuer, nicht zum Wolkendunkel und der Finsternis und dem Gewittersturm,

19 nicht zu Posaunenschall und Donnerworten, deren Hörer darum baten, es möge nicht weiter zu ihnen geredet werden,

20 denn sie konnten die Anordnung nicht ertragen (Ex 19,12f): »Selbst, wenn nur ein Tier den Berg berührt, so soll es gesteinigt werden.«

21 Denn so furchtbar war die Erscheinung, dass sogar Mose sagte (Dtn 9,19): »Ich bin voller Furcht und zittere.«

22 Nein, ihr seid zum Berg Zion hinzugetreten und zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem und zu den vielen Tausenden von Engeln,

23 zur Festversammlung und zur Gemeinde der in den Himmeln aufgeschriebenen Erstgeborenen und zu Gott, dem Richter aller, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten

24 und zu Jesus, dem Mittler der neuen Ordnung, und zum Blut der Besprengung, das wirksamer redet als (das Blut) Abels.

25a Hütet euch davor, dass ihr den nicht abweist, der zu euch spricht!

25b Denn, wenn jene nicht ungestraft geblieben sind, die den ablehnten, der auf der Erde seinen Willen kundtat, wieviel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel her zu uns redet.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

In 12,18 ist NA 28 wörtlich zu übersetzen: „Ihr seid nicht hinzugetreten zu Betastbarem“. Textvarianten ergänzen nach ψηλαφωμένῳ in Analogie zu 12,22 das Wort ὄρει. In der Sache geht es um die Gegenüberstellung des irdisch-betastbaren Berges Sinai mit dem himmlischen Berg Zion (12,22). Demnach legt es sich nahe, in 12,18 zumindest gedanklich mit den Varianten ὄρει zu ergänzen und zu übersetzen: „Ihr seid nicht hinzugetreten zu einem betastbaren Berg“.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Die Perikopenverse 12,12-18(19-21)22-25a sind Teil des 3. Hauptteils (10,32-12,29), in dessen Mittelpunkt die »Wolke der Glaubenszeugen« aus der Geschichte Israels steht (11,1-40). Im Anschluss daran wendet sich die Predigt direkt an die christliche Gemeinde mit eindringlichen Bitten: Haltet euch die Wolke der Zeugen und Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens vor Augen, damit ihr in euren Herzen nicht müde werdet und erschlafft (12,1-3). Die Schlussverse der Perikope (12,18-24.25a) bilden einen letzten Höhepunkt der Hebräerpredigt. Der Vf. zieht sein Fazit und schlägt die Brücke zum Anfang seiner Predigt (1,1f): Gott hat zur Väter- und Müttergeneration durch Mose und das Blut Abels geredet, zur Adressatengemeinde redet er durch Jesus und sein Besprengungsblut. Zugleich unterstreichen die Verse wichtige Aspekte der drei Hauptteile und betonen den Leitgedanken der Predigt: Das glaubende Gottesvolk ist »unterwegs auf der Erde, und steht vor den Toren des Himmels«. Die V. 18–21 beziehen sich auf die Zeit der ersten Ordnung, die Wüstenwanderung und die abschließende Sinaioffenbarung (1. Hauptteil: 1,1-4,13). Die V. 22–24 verweisen auf die in der Selbsthingabe Jesu begründete neue Ordnung (2. Hauptteil: 4,14-10,31). In einer großartigen Schlussszene stellt die Predigt vor Augen, was im himmlischen Jerusalem auf diejenigen wartet, die bis zum Ende im Glauben am göttlichen Wort der Verheißung festhalten und belohnt werden: Tausende von Engel, Gott, der lebendige Richter, die große Festversammlung für die ewige Sabbatfeier (vgl. 4,9f), Gemeinschaft mit den in den Himmeln aufgeschriebenen Erstgeborenen und mit den Geistern der vollendeten Gerechten (3. Hauptteil: 10,32-12,29).

3. Theologische Akzente der Perikopenverse

Die Perikopenverse fügen sich ein in das Bild, das die Predigt von der bedrängenden Gemeindesituation zeichnet (siehe oben). Der innergemeindliche Friede und das eschatologische Heil stehen gleichermaßen auf dem Spiel. In dieser ernsten Lage wählt der Prediger leidenschaftlich warnende Worte (12,12-17.25a), um der Gemeinde Orientierung zu geben. Wie schon mehrfach appelliert der Vf. an den innergemeindlichen Zusammenhalt, um so auch der äußeren Gefährdung zu widerstehen: Haltet Frieden mit allen, bemüht euch um Heiligung, lasst keine Bitterkeit aufkommen (Dtn 29,17). Folgt nicht den Beispielen der Wüstengeneration (3,7-4,11) und Esaus (V.16f), denn an ihrem Ergehen könnt ihr erkennen, wie schmerzlich es ist, am Heil vorbeizutreiben (2,1f) und aus der Ruhestätte Gottes ausgeschlossen zu bleiben (4,11). Orientiert euch vielmehr an der „Wolke der Glaubenszeugen“ und an Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens (12,1-3).

4. Theologisch-homiletische Perspektiven

Wie kommen die mitunter so hart klingenden Worte des Predigers bei den Lesern und Hörerinnen an? Gibt es für die Gemeinde einen Ausweg aus der bedrängenden Situation? Der Hebr meint: indem sie die Kräfte des Anfangs reaktiviert und den innergemeindlichen Zusammenhalt festigt. Ein möglicher Predigtakzent könnte der Aufforderung folgen (12,15): Achtet darauf (ἐπισκοποῦντες), dass niemand den Lebensraum der Gnade verlasse. Alle Gotteskinder sind einander Bischöfe/innen (ἐπίσκοποι). Es geht um die Aufmerksamkeit füreinander: Lasst uns aufeinander achthaben, damit wir uns gegenseitig zur Liebe und zu guten Werken anspornen und nicht unsere gottesdienstlichen Versammlungen verlassen, sondern einander ermuntern – und das umso mehr als ihr seht, dass der Tag (der Parusie) naht (10,24f). Daran könnte ein anderer Predigtakzent anknüpfen:

In der Epiphaniaszeit klingt die himmlische Botschaft der Engel von den Feldern Bethlehems nach: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden. Himmel und Erde berühren sich. Der Hebräerbrief geht einen Schritt weiter: Das wandernde Gottesvolk ist unterwegs. Aufgebrochen ist es am irdischen Sinai, nun ist es zum himmlischen Zion „hinzugetreten“. Das griechische Schlüsselwort steht im Tempus des Perfekt (προσεληλύθατε): die Begriffe προσέρχesθαι (4,16; 7,25; 10,1.22; 11,6; 12,18.22) und εἰσέρχεσθαι (3,11; 4,1.3.6.11; 6,19 u.ö.) umschreiben im Hebr das Hinzutreten und das Eintreten in die unmittelbare Gottesnähe. Die Glaubenden haben das Ziel nah vor Augen, der Himmel steht einen Türspalt offen, er ist nur noch einen Wimpernschlag entfernt. Es fehlt der letzte kleine Schritt hinein in die himmlische Welt, die Jesus, der himmlische Hohepriester, eröffnet hat. Dort, auf dem himmlischen Zion, im Ruheort (Katapausis) Gottes (3,11.18; 4,1), wartet die Festversammlung, um den ewigen Sabbat zu feiern (4,9f). Jeder Gottesdienst, den wir feiern, ist ein kleiner Schritt hin zum endzeitlichen Fest. Dafür wirbt das “Wort tröstlicher Ermahnung” leidenschaftlich: „The Preacher has been laboring throughout the whole sermon to get us to go to Mount Zion” (Th. G. Long, Hebrews, S. 136).

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Perikope ist beim ersten Lesen nicht leicht zugänglich. Betrachtet man die Perikope aber unter dem Leitgedanken des „wandernden Gottesvolkes“, eröffnet sich ein neuer Zugang zum Text. Dabei kann man den Weg, der in der Perikope gezeichnet wird, mitlaufen. Dieser Weg führt von den „erschlafften Händen“ und den „ermatteten Knien“ der derzeitigen müden Gemeinde (V. 12) auf einem „geraden Pfad“ (V. 13) in „Frieden“ und „Heiligung“ (V. 14). Auf diesem Weg wird einerseits mahnend in die Vergangenheit des Wüstenvolkes zurückgeblickt (V. 16-21) und andererseits wird das Ziel des glaubenden Gottesvolkes vor Augen gestellt: die Festversammlung in den Himmeln (V. 22-24).

2. Thematische Fokussierung

Das glaubende Gottesvolk ist unterwegs auf der Erde und steht schon vor den Toren des Himmels. Als glaubendes Gottesvolk kann man die Predigthörer:innen im Sonntagsgottesdienst, ganze Gesellschaften oder einzelne Personen adressieren. Wie sich ein „Unterwegs-sein“ gestaltet und wie es empfunden wird, ist je individuell. Es ist entweder möglich, das gesamte Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tod als Weg zu bezeichnen. Oder aber man blickt auf einzelne Lebensabschnitte und Zusammenhänge, die als „Unterwegs-sein“ in einem bestimmten Kontext gesehen werden können. Predigthörer:innen sind in ihrem beruflichen Werdegang, in ihren Beziehungen oder auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterwegs. Bei allen Wegen, die Menschen gehen, stellt sich je auch individuell die Frage nach dem Ziel. Innergemeindlich und auch gesamtgesellschaftlich sind Menschen zusammen auf einem Weg: Wer ist wie mit wem unterwegs? Sind wir es gemeinsam als Menschen einer Gemeinde, eines Landes, der Europäischen Union oder gar als Weltenbürger:innen?

„Unterwegs-sein“ bedeutet aber nicht nur Bewegung und Dynamik, sondern auch Stillstand („auf der Stelle treten“) oder das Begehen von Umwegen oder gar Irrwegen. Da kann ein Weg anstrengend werden – vor allem wenn „die Mühlen langsam mahlen“. Die Hebräerpredigt spricht zu angefochtenen Christenmenschen, die glaubensmüde und erschöpft sind. „Unterwegs-sein“ im Glauben, heißt eben auch Müdigkeit empfinden in Bezug auf diesen Glauben. Sei es, weil ich das Gefühl habe, dass Gott sich mir nicht zu erkennen gibt, oder ich Erfahrungen des Leids mit meinem eigenen Glauben nicht in Einklang bringen kann. Sei es, weil die Parusie, die ja schon längst hätte eintreffen müssen (mittlerweile doch erst recht?), noch immer auf sich warten lässt.

Die Hebräerpredigt ermahnt: „Hütet euch davor, dass ihr den nicht abweist, der zu euch spricht.“ (V. 25a) Damit wir unser Ziel, das Heil in der Gottesnähe erreichen, ermahnt uns Hebr, festzuhalten am Glauben und die Glaubensmüdigkeit zu überwinden. Zur Überwindung der Müdigkeit und der Anfechtungen von außen gibt Hebr zwei Hilfen. Reaktiviert die Kräfte des Anfangs! Sprichwörtlich könnten die Hörer:innen an Hermann Hesses „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ (Hermann Hesse, Stufen) erinnert werden. Auch auf dem Weg sind Anfänge möglich und auch notwendig, um dem Stillstand und der Müdigkeit eine neue Aufbruchstimmung entgegen zu setzen. In der Aktivierung der Kräfte des Anfangs steckt die Hoffnung auf Veränderung, die Müdigkeit überwinden kann. Stärkt euren innergemeindlichen Zusammenhalt! Niemand ist im Leben allein unterwegs auf der Erde. Bei einer Gemeinde handelt es sich vielmehr um ein glaubendes Gottesvolk. Da Menschen grundsätzlich in Beziehungen leben, wird deutlich, dass Individuen, Gemeinden und Gesellschaften aufeinander angewiesen sind. In Liebe, im Zusammenhalt und der Aufmerksamkeit füreinander ist das „Unterwegs-sein“ leichter. Hebr verweist auf die Wolke der Glaubenszeugen und auf Jesus Christus selbst. Er ist Ursprung und Ziel des Weges. Er gibt Orientierung in turbulenten Zeiten.

In die Müdigkeit und das Angefochtensein der Menschen spricht der Leitgedanke außerdem hinein: Ihr steht schon vor den Toren des Himmels. Haltet durch!

3. Theologische Aktualisierung

Das Ziel steht bereits vor Augen – es ist nur noch einen kleinen Schritt entfernt. Das glaubende Gottesvolk ist unterwegs auf der Erde und steht vor den Toren des Himmels. Das unmittelbar bevorstehende Ankommen des glaubenden Gottesvolkes wirft zwei Fragen auf:

Erstens stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des „Unterwegs-seins“ auf Erden zu dem Stehen vor den Toren des Himmels. Die Naherwartung der Parusie unterscheidet die damaligen Adressat:innen von den heutigen Predigthörer:innen. Auch wenn die Situation eine andere ist, geht es aber in beiden Fällen um die Gestaltung des Lebens hier auf der Erde. Mit den mahnenden Worten, am Glauben festzuhalten und sich an Jesus Christus zu orientieren, sind Fragen der Lebensführung im Glauben angesprochen. Was bedeutet es heute, ein gottgefälliges Leben auf der Erde zu führen? Tue ich dies „nur“, um am Ende des Weges in „die Festversammlung in den Himmeln“ (V. 23) aufgenommen zu werden? Spielt die Naherwartung heute noch eine Rolle oder geht es um andere Ziele im Leben?

Zweitens stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des glaubenden Gottesvolkes zu den Nicht-mehr-Glaubenden oder Nie-Glaubenden. Hebr spricht sich gegen das Heil für diese Menschen aus. Gleichzeitig verdeutlicht Hebr, dass Jesus Christus sich selbst für alle Menschen hingegeben hat (Vgl. Einführung Hebr 5.). Auch wenn Hebr 12 die angefochtenen Christenmenschen als Adressat:innen im Blick hat, könnte hier durchaus die Frage nach dem Ausgang für die Menschen gestellt werden, die nach diesem Verständnis keinen Zugang zum Heil haben. Vielleicht lässt sich dieser »harte Knoten« (Vgl. Einführung Hebr 6.) mit dem Anspruch verbinden, nicht nur Sorge dafür zu tragen, dass ich selbst und meine Glaubensgeschwister im Glauben bleiben, sondern dass ich im „Unterwegs-sein“ auf Erden auch andere Menschen mitnehme, damit auch sie Anteil an der „unmittelbaren Gottesnähe“ haben (Vgl. Exegese Hebr 5.). Möchten wir Menschen nicht zum Glauben in der Gemeinschaft einladen? Kann Glauben nicht auch zum Glauben werden, „indem er sich zeigt und darstellt“ (Steffensky, Impulsreferat anlässlich der Vorbereitungstagung zum Kirchensonntag, 14. September 2019, Bern, 8)?

4. Bezug zum Kirchenjahr

Kalendarisch befinden wir uns am Anfang des neuen Jahres. Da sind die Worte von erschlafften Händen und ermatteten Knien in der dunklen Jahreszeit nach den Anstrengungen der Weihnachtszeit passend und könnten die Hörer:innen in ihrer Situation abholen. Gleichzeitig ist die Perikope durch den „Zauber des Anfangs“ anschlussfähig, der durch das neue Jahr und die Weihnachtszeit gegeben ist. Weihnachten als Beginn des Lebens Jesu, durch den ein Neuanfang in unserem Leben ermöglicht wurde. Die gute Nachricht begleitet uns auf unserem Weg und lädt, wie auch das Wochenlied „In dir ist Freude“ (EG 398) zur Freude ein. Das neue Jahr wird von vielen Menschen als eine neue Chance betrachtet. Meist wird auf das alte Jahr zurückgeblickt – vor allem wenn es nicht war, wie erhofft – und es wird auf das bevorstehende Jahr mit neuer Erwartung und Hoffnung geschaut. Diese Hoffnung und Vorfreude können in dieser noch dunklen Jahreszeit zum Durchhalten ermutigen.

5. Anregungen

Der Leitgedanke des Hebr vom wandernden Gottesvolk, das unterwegs ist auf Erden und schon vor den Toren des Himmels steht, kann in der Bildsprache fruchtbar gemacht werden. Der Hebr predigt leidenschaftlich, um die Hörer:innen bei ihrer Wanderung zum Berg Zion zu ermutigen (Vgl. Teil A 5.). Er möchte die Menschen aktivieren und stärken. Das könnte für uns heutige Prediger:innen ein Anreiz sein, die Predigthörer:innen auf ihrer Wanderung (bergauf) zu begleiten. Hierfür sind die starken Bildworte des Hebr hilfreich: Stärkt die Hände, richtet die Füße auf gerade Pfade, trachtet nach Frieden und bemüht euch um Heiligung (V. 12-14). Die Predigthörer:innen als Wandernde können vom Predigenden aktiviert und gestärkt werden, ausgestattet, und das gemeinsame „Unterwegs-sein“ kann geistlich begleitet werden. Für den Predigenden ist aber zu überlegen, welches Ziel die Hörer:innen heute vor Augen haben, wenn sie mit ihm/ihr unterwegs sind und was es bedeutet, das Ziel „nah vor Augen“ zu haben (Vgl. Exegese Hebr 5.). Hebr lädt nicht direkt zu einer missionarischen Predigt ein. Er verfolgt gegenüber den angefochtenen Christenmenschen ein seelsorgerliches Anliegen. Es wäre aber – wenn man diesem Pfad folgen möchte – zu überlegen, inwieweit der Gedanke der missio dei für die eigene Predigt aufgrund der heutigen Lebenswirklichkeit eine Rolle spielen soll.

Autoren

  • Prof. em. Dr. Christian Rose (Einführung und Exegese)
  • Melina Racherbäumer (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500015

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