Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: September 2018)

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„Sinai“, „Horeb“, „Gottesberg“ und „Berg Jhwhs“ sind Ausdruckweisen, mit denen auf jenen Ort Bezug genommen wird, an dem sich nach der Darstellung des Pentateuch die Gesetzgebung des Volkes Israel ereignet hat.

1. Die Bezeichnungen und Namen

1. Der Ausdruck „Gottesberg“ (‎הַר הָאֱלֹהִים har hā-’älohîm) in seiner Funktion als Verweis auf den Ort der Gesetzgebung kommt im Alten Testament fünfmal vor: Ex 3,1; Ex 4,27; Ex 18,5; Ex 24,13 und 1Kön 19,8. Die Vorkommen beschränken sich mit Ausnahme von 1Kön 19,8 auf diejenigen Episoden im Exodusbuch, die am Gottesberg spielen. Weitere Belege für diesen Ausdruck, aber mit abweichender Referenz, sind Ps 68,16 und Ez 28,14.16.

2. Der Ausdruck „Berg Jhwhs“ (‎הַר יְהוָה har jhwh) in seiner Funktion als Verweis auf den Ort der Gesetzgebung kommt im Alten Testament nur einmal vor, und zwar in Num 10,33. Die anderen Belege (Gen 22,14; Jes 2,3 = Mi 4,2; Jes 30,29; Ps 24,3; Sach 8,3 verweisen direkt oder indirekt auf den Tempelberg in Jerusalem; vgl. auch die Formulierung „Berg des Hauses Jhwhs“ (2Chr 33,15).

3. Der Name „Sinai“ (‎סִינַי sînaj) kommt im Alten Testament 35-mal vor, davon 5-mal nur „Sinai“ (Ex 16,1; Dtn 33,2; Ri 5,5; Ps 68,9.18), 13-mal in der Fügung „Wüste Sinai“ (‎מִדְבַּר סִינַי midbar sînaj, Ex 19,1.2; Lev 7,38; Num 1,1.19; Num 3,4.14; Num 9,1.5; Num 10,12; Num 26,64; Num 33,15.16) und 17-mal in der Fügung „Berg Sinai“ (‎הַר סִינַי har sînaj, Ex 19,11.18.20.23; Ex 24,16; Ex 31,18; Ex 34,2.4.29.32; Lev 7,38; Lev 25,1; Lev 26,46; Lev 27,34; Num 3,1; Num 28,6; Neh 9,13). Nach der Ortsvorstellung der pentateuchischen Erzählungen liegt der Berg Sinai in der Wüste Sinai, sodass die beiden Ausdrücke weitgehend funktionsgleich verwendet werden. So wird etwa die Mitteilung der Opfergesetze in Lev 7,37-38 sowohl am Berg als auch in der Wüste Sinai verortet. Die Belege für „Wüste Sinai“ und „Berg Sinai“ beschränken sich mit einer Ausnahme (Neh 9,13) auf die Episoden in den Büchern → Exodus bis → Numeri, die am Berg bzw. in der Wüste spielen. Die Belege für „Sinai“ allein sind dagegen weit gestreut.

4. Der Ausdruck „Horeb“ (‎חֹרֵב ḥorev) kommt im Alten Testament 17-mal vor, aber nur einmal davon (Ex 33,6) in der Fügung „Berg Horeb“ (‎הַר חוֹרֵב har ḥôrev, nur hier plene geschrieben). Mit neun Belegen ist das → Deuteronomium führend, dazu kommen Ex 3,1; Ex 17,6; Ex 33,6 im Pentateuch sowie 1Kön 8,9; 1Kön 19,8; Mal 3,22; Ps 106,19 und 2Chr 5,10. Bei „Horeb“ stellt sich die Frage nach der Wortklasse, denn es gibt mehrere Nominalbildungen der Wurzel חרב ḥrb (vgl. zum Ganzen Perlitt 1994, 42-49): Zu nennen sind חֹרֶב ḥoræv „Verwüstung / Öde / Einöde“, חָרְבָּה ḥårbāh „Trümmerstätte“, חָרָבָה ḥārāvāh „Trockenland“. Wahrscheinlich wurde „Horeb“ zunächst als Appellativum im Sinne von „Einöde“ gebraucht und wurde erst sekundär zum Eigennamen, wie die literargeschichtlich späte Stelle Ex 33,6 und die LXX zeigen. Letztere versteht „Horeb“ zweifellos als Name (vgl. etwa Sir 48,7), denn sie transliteriert den Ausdruck als Χωρηβ chōrēb. Aber die Tatsache, dass „Horeb“ abgesehen von Ex 33,6 nie in einer Fügung mit „Berg“ auftritt, legt den Schluss nahe, dass das Nomen zunächst als Appellativum gebraucht wurde. Alle einschlägigen Stellen müssten dann statt mit „am Horeb“ mit „in der Einöde“ übersetzt werden. Die Differenzierung der Masoreten nach ḥorev und ḥoræv dürfte vor dem Hintergrund der Entwicklung zum Eigennamen erfolgt sein. Alternativ kann man erwägen, ob „Horeb“ von vornherein als sprechender Name konzipiert worden war. In diesem Fall wäre „Einöd“ eine mögliche Übersetzung.

2. Die Literargeschichte der Bezeichnungen und Namen

2.1. Die Erzählungen und Gesetze des Pentateuch

Die terminologischen Varianten in der Bezugnahme auf den Ort der Gesetzgebung werden in der historisch-kritischen Forschung seit langem mit der Entstehungsgeschichte des → Pentateuch in Verbindung gebracht (→ Pentateuchforschung). Im literargeschichtlichen Paradigma der Urkundenhypothese wurde der Name „Sinai“ dem Jahwisten und der Priesterschrift zugeordnet, während der Gebrauch von „Gottesberg“ und „Horeb“ als Merkmale des Elohisten und des Deuteronomisten angesehen wurden. Mit der Infragestellung der Urkundenhypothese gerieten auch diese Zuordnungen in die Kritik. Die Problematik kann man sich an Hand der Hexateuch-Synopse von Otto Eißfeldt gut veranschaulichen. Die Quelle L hatte demnach folgenden Wortlaut (Eißfeldt 1962, 146*-147*):

Ex 19,2 Und sie brachen auf von Rephidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich in der Wüste. 12 Und du sollst dem Volk ringsum eine Grenze ziehen und sagen: Hütet Euch wohl, den Berg zu besteigen …

Hier wird zunächst die Wüste mit dem Namen „Sinai“ eingeführt. Der Text fährt in Ex 19,12 ohne eine Redeeinleitung mit einer Gottesrede fort, in der auf einen bis dahin noch gar nicht eingeführten Berg Bezug genommen wird. Die fehlende Einführung des Berges ist auch ein Problem in der vermuteten Quelle P, denn hier folgt Ex 24,15b direkt auf Ex 19,1. In der Quelle J muss Eißfeldt erhebliche Textumstellungen postulieren, um auf einen halbwegs sinnvollen Text zu kommen (Eißfeldt 1962, 149*).

Die notorischen Probleme der Urkundenhypothese veranlassten Lothar Perlitt 1967 zu einem neuen Vorschlag (s. Perlitt 1994): Danach haben die älteren Texte und Traditionen, ohne dass hier weiter differenziert werden könnte und müsste, die Ausdrücke „Gottesberg“ und „Sinai“ verwendet. Erst im Deuteronomium und in der deuteronomistischen Literatur (→ Deuteronomismus) sei die Bezeichnung „Horeb“ aufgekommen. Grund sei die lautliche Ähnlichkeit der Wörter „Sinai“ und „Sin“ (→ Mond) gewesen. Letzteres ist der Name des mesopotamischen Mondgottes, der nach Perlitt ab dem 7. Jh. als religiöse Konkurrenz zu Jhwh, dem Gott Israels, verstanden wurde.

Perlitts Vorschlag war insofern ein Fortschritt, als zum ersten Mal eine Erklärung für die Entstehung der terminologischen Vielfalt vorgelegt wurde. Weiter führte der Verzicht auf die Annahme einer elohistischen Quelle im Pentateuch zu mehr Klarheit in Bezug auf die Einordnung und Datierung der „Horeb“-Stellen: Diese sind frühestens deuteronomistisch. Aber die weitergehende, viele Zusatzannahmen erfordernde, Hypothese zum Verhältnis von „Sinai“ und „Horeb“ erwies sich als nicht haltbar. Zunächst ist fraglich, ob für Judäer des 1. Jahrtausends überhaupt eine Klangähnlichkeit bestand. Zur Frage der Lautungen bzw. Schreibungen s. Stol (1999) und Timm (2000, 283). Darüber hinaus ist ungewiss, ob eine Klangähnlichkeit, wenn sie denn vorlag, als anstößig empfunden wurde. Weiter muss aus heutiger Sicht überhaupt bezweifelt werden, dass es königszeitliche oder gar noch ältere Texte gibt, die den Namen „Sinai“ verwenden.

Was die Texte der pentateuchischen Gesetzgebung angeht, so sind alle Stellen, an denen der Name „Sinai“ vorkommt, priesterlicher oder sogar nachpriesterlicher Abkunft (Oswald, 1998, 80-89; Utzschneider / Oswald 2013, 118-119; Oswald 2014, 178-188). Für die Stellen in den Büchern Leviticus und Numeri – und diese machen die Hälfte der Belege aus – ist das ohnehin schon länger Konsens. Aber auch die Belege in der Sinaiperikope Ex 19-34 sind konzeptionell einheitlich, insofern die signifikanten „Sinai“-Abschnitte folgende Charakteristika aufweisen: (1) Der Berg ist Sperrgebiet für das Volk, (2) der Berg raucht, (3) Jhwh steigt herab auf die Spitze des Berges, (4) nur Mose und Aaron dürfen den Berg besteigen, (5) Mose fungiert durchgehend als Mittler zwischen Jhwh und Volk. Zu den Gründen für die priesterliche Innovation, s.u. 3.3.

2.2. Der Name „Sinai“ in poetischen Texten

Die überlieferungsgeschichtliche Forschung des 19. und 20. Jh.s war der Auffassung, dass den Erzählungen des Pentateuch eine alte Sinaitradition vorausliege, die in einer Gruppe von poetischen Texten noch greifbar sei, zu der das Deboralied Ri 5 (→ Debora), der Rahmenpsalm um den → Mosesegen Dtn 33,2-5.26-29 (→ Lieder außerhalb des Psalters) sowie Ps 68 gehören. Nach dieser Hypothese handelt es sich bei diesen Texten, zu denen meist auch noch Ex 15,1b-18 und Hab 3 gerechnet werden, um Gedichte aus dem 2. Jahrtausend, die in einer frühen Sprachstufe, dem „archaischen Hebräisch“, verfasst worden seien und zahlreiche motivliche und sprachliche Eigenarten mit den spätbronzezeitlichen Textfunden aus Ugarit teilen würden (s. Cross / Freedman 1955).

Alle diese Annahmen werden in der neueren europäischen Forschung überwiegend abgelehnt. Die Sprache dieser Textgruppe ist weder archaisches noch archaisierendes Hebräisch, sondern schlicht poetische Sprache mit kunstvollen Gestaltungselementen, wie sie etwa auch in jüngeren Psalmen (Ps 140; Ps 143) vorkommt. Auch traditionsgeschichtlich ist diese Textgruppe nicht alt, sondern setzt perserzeitliche Texte und Konzepte voraus. Die in Frage stehenden Texte selbst stammen mithin aus spätpersischer und hellenistischer Zeit. Vgl. zum Ganzen Loretz 1996, insb. 242-245; Pfeiffer 2005 sowie speziell zum Deboralied Waltisberg 1999. Zu den Texten im Einzelnen:

2.2.1. Das Deboralied Ri 5

Die relevante Passage Ri 5,4-5 lautet:

4aα Jhwh, als du auszogst von Seïr, / als du einherschrittest vom Gebiet Edoms,

4aβb bebte die Erde, ja, es troff der Himmel, / ja, die Wolken troffen von Wasser.

5 Die Berge zerflossen vor Jhwh / zæh sînaj / vor Jhwh, dem Gott Israels.

Die Fügung זֶה סִינַי zæh sînaj wird (a) mit „dies ist (der) Sinai“ wiedergegeben oder (b) mit „der des / vom Sinai“. Variante (a) entspricht dem Standardhebräischen, Variante (b) nimmt an, dass hier zæh in Analogie zu den Texten aus Ugarit eine genitivische Funktion habe. Die Vorstellung, dass ein derart insuläres sprachliches Element vom Protokanaanäischen ins Hebräische eingewandert sei, konnte im Paradigma des „Archaischen Hebräisch“ noch halbwegs wahrscheinlich gemacht werden. Geht man aber – in der Sache sicher zutreffend – davon aus, dass das Deboralied in seinem Kern aus dem späten 10. oder frühen 9. Jh. stammt, wird diese Annahme schon schwieriger. Knauf (2005) und Groß (2009, 308-309) halten trotzdem an der Ableitung aus Ugarit fest. Hinzu kommt, dass die meist gewählte Übersetzung „der vom Sinai“ (so etwa Groß 2009, 291) die hebräische Fügung gar nicht genetivisch übersetzt, sondern ablativisch, was der eigenen Hypothese durchaus nicht entspricht. Weiter hat Holmstedt (2014) gezeigt, dass es die behauptete Genitivfunktion der nordwestsemitischen Pendants zum hebräischen zæh gar nicht gibt. Wie die ablativische Aussage „Jhwh von/m“ + nomen loci im Hebräischen ausgedrückt wird, zeigt etwa Ps 135,21: בָּרוּךְ יְהוָה מִצִּיּוֹן bārûkh jhwh miṣṣîjôn „Gesegnet sei Jhwh vom Zion her“ oder „Gesegnet sei Jhwh, der vom Zion“; vgl. auch Mi 1,2b. Entscheidend ist der Gebrauch der Präposition מִן min „weg von“.

Die Übersetzungsvariante (b) ist mithin vom philologischen Standpunkt aus unhaltbar, hinzu kommen noch literarische Argumente. Der Passus Ri 5,5 ist Teil des hymnischen Rahmens um das eigentliche Deboralied (Ri 5,2-5.31a), der wahrscheinlich ohnehin erst sehr viel später um das ursprüngliche Siegeslied gelegt wurde. Und innerhalb dieses späten Rahmens ist die Fügung זֶה סִינַי zæh sînaj als noch einmal spätere Glosse anzusehen. Das Bikolon dürfte ursprünglich „Die Berge zerflossen vor Jhwh / vor Jhwh, dem Gott Israels“ gelautet haben. Vgl. dazu Pfeiffer 2005, 90-91. Die Glosse assoziiert das Geschehen der Deboraschlacht – sehr locker – mit der Sinaitheophanie.

2.2.2. Psalm 68

Die relevante Passage lautet:

8 Gott, als du auszogst vor deinem Volk, / als du einherschrittest durch die Wüste, //

9 bebte die Erde, auch troff der Himmel vor Gott, / zæh sînaj / vor Gott, dem Gott Israels.

Ps 68,8-9 und Ri 5,4-5 sind sehr ähnlich und die Ähnlichkeit wird noch stärker, wenn man die elohistische Psalterredaktion in Betracht zieht, die das ursprüngliche „Jhwh“ durch „Gott“ ersetzt hat. Ps 68,8-9 ist straffer und ohne geographische Konkretion und wird daher allgemein als verkürztes Zitat von Ri 4-5 verstanden (Seybold 1996, 263-264; Zenger / Hossfeld 2000, 252; Pfeiffer 2005, 238-239). Ob die Fügung זֶה סִינַי zæh sînaj schon aus Ri 5,5 übernommen wurde (so Zenger; Pfeiffer) oder ob eine separate Glossierung in Anlehnung an Ri 5,5 erfolgte (so Seybold), kann hier offen bleiben. Die Sach- und Diskussionslage ist in Ps 68,18b („Der Herr ist unter ihnen – Sinai – im Heiligtum“) ähnlich, nur dass hier keine Aufnahme von Ri 5,5 vorliegt. Während der eigentliche Psalm den Gottesberg mit dem Baschangebirge identifiziert (Ps 68,16), bringen die Glossen den Sinai ins Spiel. Für eine Glossierung in Ps 68,9 und Ps 68,18 spricht auch, dass in Ps 68,36 mit אֵל יִשְׂרָאֵל הוּא ’el jiśrā’el hû’ „der Gott Israel ist jener“ eine weitere Glosse des Typs „dies ist x“ vorliegt. Die Datierung der Grundschicht von Ps 68 reicht von der späten Königszeit (Zenger / Hossfeld 2000, 250) bis in die hellenistische Zeit (Pfeiffer 2005, 257). Eine alte Sinaitradition ist mit Ps 68 auf keinen Fall zu belegen. Zu übersetzen ist זֶה סִינַי zæh sînaj wie in Ri 5,5 im Sinne von „Das ist (der) Sinai“.

2.2.3. Der Mosesegen Dtn 33

Der Mosesegen Dtn 33,6-25 wird von einem Rahmenpsalm umschlossen (Dtn 33,2-5 und Dtn 33,26-29), dessen beide Teile mit einer Theophanieschilderung beginnen (Dtn 33,2.26). Dtn 33,2a lautet:

2aα Jhwh ist aus Sinai gekommen / und ist ihnen aufgeleuchtet von Seïr.

2aβ Er ist hervorgestrahlt vom Berg Paran / und ist gekommen aus Meribat-Kadesch.

In Dtn 33,2 ist „Sinai“ sicher keine Glosse, sondern Teil der Grundschicht des Rahmenpsalms. Nach mehrheitlicher Auffassung in der neueren Exegese ist Dtn 33 wie Dtn 32 ein sehr später Text, der zum einen den Pentateuch in seiner (fast) fertigen Gestalt und zum andern die persische Reichsideologie voraussetzt. Nach Otto (2017, 2162.2236-2243) ist der Autor des Rahmenpsalms mit dem Autor des Moseliedes Dtn 32 identisch und hat frühestens im 4. Jh. gearbeitet. Nach Pfeiffer (2005, 202-203) ist Dtn 33 eine Weiterführung von Dtn 32 und daher nicht vor dem 3. Jh. v. Chr. anzusetzen. Nach Finsterbusch (2012, 196) und Römer (2014, 162) ist Dtn 33 Teil der Pentateuchredaktion im 4. Jh.

2.3. Zusammenfassung

Eine kurz gefasste Literargeschichte der Bezeichnungen des Ortes der Gesetzgebung beginnt mit der Feststellung, dass es Traditionen über einen außerhalb des Landes liegenden Berg der Gottesbegegnung, die den Pentateuchkompositionen vorausgegangen wäre, nicht gegeben hat. Die ältesten Texte im Pentateuch – und das ist vor allem die vorpriesterliche und vordeuteronomistische Erzählung im Buch Exodus – kennen nur die Bezeichnung „Gottesberg“ oder „Berg“. Das Deuteronomium und die deuteronomistischen Texte des Pentateuch verwenden weiterhin die allgemeine Bezeichnung „Berg“ und führen zusätzlich die Ortsbestimmung ‎בְּחֹרֵב bɘḥorev „in der Einöde“ ein. Der Name „Sinai“ zur Bezeichnung des Ortes der Gesetzgebung ist schließlich die Innovation der priesterlichen Komposition. Daran schließen Ri 5,5 und Ps 68,9.18 und Dtn 33,2 an.

3. Die Lokalisierungen des Gottesberges, der Einöde und des Sinai

3.1. Die Forschung des 19. und 20. Jh.s und ihre Probleme

Die Ermittlung der Lage des Ortes der Gesetzgebung wurde zumeist als Aufgabe der historischen Geographie verstanden. Nun sind aber alle Überlieferungen, die den Gottesberg bzw. den Berg Sinai an einer bestimmten Stelle verorten – etwa im Süden der heute „Sinai“ genannten Halbinsel – sehr späten Datums (s.u. 3.3. und 5.). Ohne sichere geographische Anhaltspunkte kann das Problem nur so gelöst werden, dass man primär nach der Ortsvorstellung der jeweiligen Texte fragt und nur sekundär die Möglichkeit einer geographischen Lokalisierung erkundet.

Die ältere Forschung verfuhr jedoch genau umgekehrt, indem sie von einem tatsächlich existierenden Ort, der in der Frühgeschichte Israels eine gewisse Rolle gespielt haben soll, ausging und sekundär diesen Ort mit Hilfe der Texte lokalisieren wollte. Nach → Wellhausen (1895, 349) lag der Berg im Süden Palästinas: „Er (der Sinai) war der Sitz der Gottheit, der heilige Berg, ohne Zweifel nicht bloss für die Israeliten, sondern allgemein für alle hebräischen und kainitischen Stämme der Umgegend.“ Nach → Noth (1948, 150-155) war der Gottesberg ein midianitischer Wallfahrtsort (→ Midian), zu dem auch die südpalästinischen Stämme zu pilgern pflegten. Noth war sich jedoch der komplizierten literarischen Verhältnisse – er hätte gesagt: der komplizierten überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse – bewusst und erwog, ob nicht der anonyme Gottesberg und der Berg Sinai zwei verschiedene Örtlichkeiten sein könnten. Noth selber führte diesen Gedanken jedoch nur historisch-geographisch aus im Blick auf die Möglichkeit, dass es eine Mehrzahl von Gottesbergen gegeben habe. Die oben gestellte Frage, ob hier zwei literarische Ortsvorstellungen vorliegen, war damals, vor dem „literary turn“ in den Geisteswissenschaften, nicht denkbar.

Das Problem an den klassisch zu nennenden Auffassungen von Wellhausen und Noth ist zum einen der postulierte Wallfahrtscharakter des Berges. Für eine solche → Wallfahrt in der südpalästinischen Region gibt es weder historische Analogien noch geben die Texte eine solche Schlussfolgerung her. Zum andern haben die Texte eine andere Ortsvorstellung. Mose verlässt nach Ex 3,1 Midian, durchquert die Wüste und trifft erst dann auf den Gottesberg. Dementsprechend muss Mose in Ex 4,18 erst wieder nach Midian zurückkehren. Auch Jithro, der midianitische Schwiegervater des Mose, muss nach Ex 18,1-5 erst anreisen, wenn er Mose am Gottesberg treffen will. Die Texte sagen zwar nicht, wo der Gottesberg liegt, sie sagen aber, wo er nicht liegt: in Midian. Positiv kann man auf den ersten Blick nur sagen, der Gottesberg liegt „irgendwo im nirgendwo“ (Knauf 1988, 157).

3.2. Die Ortsvorstellung der vordeuteronomistischen und der deuteronomistischen Texte

Die Unbestimmtheit der Lage des Gottesberges in Ex 3-4 sowie in Ex 18 und in der Grundschicht von Ex 19-24 ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere zeigt recht deutliche Anspielungen auf den einen, allseits bekannten und anerkannten Gottesberg Israels bzw. Judas, den Tempelberg in Jerusalem, den Zion. Auf diesem Berg begegnet Israel seinem Gott, traditionellerweise jedoch im Tempel, von dem aber in den vorpriesterlichen Pentateuchtexten nicht die Rede ist. Statt eines Tempels gibt es auf dem Gottesberg nach Ex 3,2-4 jedoch Dornengestrüpp. Dornen und Disteln sind aber das, was nach der Zerstörung eines Heiligtums am Ort wächst (Jes 5,6; Hos 10,8; Mi 3,12). Die Szene spielt mithin am verödeten Gottesberg, d.h. am Tempelberg nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 587 v. Chr. (Utzschneider / Oswald 2013, 118-119).

Die von den Deuteronomisten eingeführte Bezeichnung „Horeb“ = „Einöde“ greift diese Vorstellung auf und verstärkt sie noch. Die verwandten Wörter חָרְבָּה ḥårbāh „Trümmerstätte“, חֹרֶב ḥoræv „Einöde“ werden fast ausschließlich zur Bezeichnung des zerstörten Landes Juda, der zerstörten Stadt Jerusalem (Jes 44,26; Jes 49,19; Jer 33,10; Ez 5,14 u. ö.) oder des zerstörten Tempels (Jes 64,9-10; Esr 9,9, vgl. auch Jer 26,9) gebraucht. Somit ist der Gottesberg trotz seiner vordergründig unscharfen Lokalisierung für Kenner der Traditionen problemlos mit dem zerstörten Jerusalemer Tempelberg zu assoziieren oder sogar zu identifizieren.

3.3. Die Ortsvorstellung der priesterlichen Texte

Die priesterlichen Texte (→ Priesterschrift) rekonfigurieren den nunmehr „Sinai“ genannten Berg in Analogie zu einer Kultstätte mit Kultbetrieb. Der Berg wird zum Tempelgebäude, dem sich das Volk nicht nähern darf (Ex 19,11b-13a; Ex 34,3), und sein Gipfel zum Allerheiligsten, zu dem nur → Aaron und → Mose Zutritt haben (Ex 19,20-24). Gott spricht nur denjenigen direkt an, der auf dem Gipfel weilt, während das Volk auf Vermittlung angewiesen ist (Ex 19,20-25; Ex 20,18a). Die Phänomene, die das Erscheinen Gottes begleiten, sind aus dem Kult entlehnt: Donner = Schofarschall (Ex 19,16; Ex 20,18a), Wolke = Rauch = Räucherwerk (Ex 19,16.18; Ex 20,18a), Blitze = Fackeln (Ex 19,16; Ex 20,18a; → Wetterphänomene; → Fackel). Einige dieser Theophanieelemente (→ Epiphanie) sind schon Teil der älteren Texte und werden durch die priesterlichen Einfügungen verstärkt.

Insofern verweist der priesterliche Gottesberg nicht auf eine zerstörte, sondern auf eine (wieder) intakte Kultstätte. Alles andere würde für die priesterlichen Trägerkreise dieser Texte auch keinen Sinn machen. Gleichzeitig wird jedoch die Identifizierung des Gottesberges mit dem Jerusalemer Tempelberg aufgehoben. Denn es ist die priesterliche Komposition, die die vielen Etappen in die Erzählung einbringt (Ex 16,1aβb; Ex 17,1abα; Ex 19,1; Num 10,11-12; Num 20,1a; Num 20,22b) und somit die Vorstellung erzeugt, der Berg Sinai liege in großer Entfernung vom verheißenen Land. Der nachpriesterliche Text Num 33,1-49 bringt diese Vorstellung zur vollen Entfaltung. Der Grund für diese Distanzierung liegt in der Israel-Konzeption der priesterlichen Texte des Pentateuch. Darin werden die Grundlagen Israels allesamt im Ausland gelegt: → Abraham und → Sara werden im Ausland geboren (Gen 11), die Volkwerdung findet in Ägypten statt (Ex 1), die vollständige Offenbarung Jhwhs gegenüber Mose und dem Volk ereignet sich in Ägypten (Ex 6), schließlich werden auch der Kult und die aaronidische Priesterdynastie (Ex 40; Lev 8-9) außerhalb des Landes inauguriert (vgl. dazu auch Wöhrle 2012, 224).

Diese Gola-orientierte Konzeption der priesterlichen Texte machte die Verlegung des Gottesberges nach außerhalb des Landes notwendig. Man kann annehmen, dass die priesterlichen Autoren der mittleren und späten Perserzeit mit dem Namen „Sinai“ eine Örtlichkeit südlich von Juda bzw. Palästina verbunden haben. Nach Gese (1990, 49-56) deuten die pentateuchischen Ortsangaben, sofern sie überhaupt geographisch auswertbar sind, auf das Gebiet östlich des Golfes von Akaba im Nordwesten des heutigen Saudi-Arabien.

4. Zwei hermeneutische Nachgedanken

1. Die in den weit verbreiteten Bibelatlanten stets vorgenommene geographische Lokalisierung des Gottesberges bzw. des Sinai ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Der Gottesberg wird in den vorpriesterlichen Texten einerseits bewusst unscharf lokalisiert, aber andrerseits mit dem Jerusalemer Tempelberg assoziiert. Der Sinai der priesterlichen und nachpriesterlichen Texte ist demgegenüber „irgendwo im Süden“ gedacht. Kartographisch abbildbar ist keine dieser „Lokalisierungen“.

2. In der Frage nach der religionsgeschichtlichen Herkunft Jhwhs, des Gottes Israels, die oft mit der Sinaifrage verknüpft wird, ist mit den obigen Ausführungen nichts entschieden. Es ist nur so, dass die Gottesberg-, Horeb- und Sinai-Belegstellen dazu nichts beitragen können. Zu dieser komplexen Thematik vgl. van Oorschot / Witte 2017.

5. Zur Rezeptionsgeschichte

Im Neuen Testament kommt nur der Name „Sinai“ vor. Im heilsgeschichtlichen Summarium der Rede des Stephanus (Apg 7,2-53) wird in den Paraphrasen der Dornbusch-Szene (Ex 3) und der Gesetzgebungs-Szene (Ex 19-24) der Berg jeweils „Sinai“ genannt (Apg 7,30.38). Paulus spricht im Galaterbrief im Rahmen seiner Sara-Hagar-Allegorie (Gal 4,21-31) von den zwei Bundesschlüssen, von denen einer am „Berg Sinai“ erfolgt sei (Gal 4,24-25a). Zum Halbvers Gal 4,25a „Aber Hagar, das ist (bedeutet) der Berg Sinai in der Arabia“ siehe Art. → Hagar, 3. Hagar im Neuen Testament. Damit knüpft Paulus an die spätalttestamentliche und hellenistisch-römische Tradition an, die den Sinai östlich des Golfes von Akaba lokalisierte (Gese 1990, 56-62, kritisch dazu Houtman 1993, 119).

Die Verlagerung der Lokalisierung des Sinai von der Region östlich des Golfes von Akaba in die Region westlich davon, also auf die heute so genannte Halbinsel, beginnt erst im 3. Jahrhundert n. Chr., nachdem die römische Herrschaft über die Region östlich des Golfes von Akaba geendet hatte (Gese 1990, 62). Die frühesten Belege, die man auf den Berg im Süden der Halbinsel Sinai beziehen kann, sprechen von einer Ansiedlung von Mönchen im 4. Jahrhundert n. Chr. (Timm 2000, 284). Das Katharinenkloster am Fuße des heute „Dschebel Musa“ genannten Berges wurde im 6. Jahrhundert n. Chr. gegründet.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
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  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

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  • Eißfeldt, O., Hexateuch-Synopse, 2., unveränderte Auflage, Darmstadt 1962.
  • Finsterbusch, K., Deuteronomium. Eine Einführung (UTB 3626), Göttingen 2012.
  • Gese, H., Τὸ δὲ Ἁγὰρ Σινᾶ ὄρος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀραβίᾳ (Gal 4,25), in: F. Maass (Hg.), Das nahe und das ferne Wort. Festschrift für Leonard Rost (BZAW 105), Berlin 1967. Wieder abgedruckt in: H. Gese, Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (BevTh 64), München 1990, 49-62.
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