Deutsche Bibelgesellschaft

5.4.1. Der 1. Johannesbrief (1Joh)

Grobgliederung des 1. Johannesbriefes

1,1-4 Prolog
1,5-2,17 Gemeinschaft mit Gott und Gotteserkenntnis
2,18-3,24 Bewährung des Glaubens in der letzten Stunde
4,1-5,12 Unterscheidung der Geister (Auseinandersetzung mit den Irrlehrern)
5,13 Briefschluss
5,14-21 Nachtrag

Der Anlass des Briefes

Der 1Joh nennt weder Absender noch Adressaten. Er ist abgefasst worden, um den Einfluss von Irrlehrern einzudämmen, die in der Gemeinde aufgetreten sind, zu der auch der Verfasser gehört. Diese Irrlehrer haben allem Anschein nach eine Christologie vertreten, in der die Fleischwerdung (vgl. 4,2f.) und der Heilstod am Kreuz (vgl. 5,6f.) keine Rolle spielen. Für sie hatte Jesus Christus mit seinem Kommen in die Welt ein für allemal das Heil gebracht, das ihnen aufgrund ihres pneumatischen Selbstbewusstseins als unverzichtbarer Besitz galt (vgl. 1,8-10). Sie haben daraus möglicherweise den Schluss gezogen, dass aus dem Heilszuspruch Gottes keine Forderung nach entsprechendem irdischen Wandel ableitbar sei (vgl. 3,11-18).

Die Argumentation im 1Joh zeigt, dass sein Verfasser erhebliche Mühe hat, der Lehre seiner Gegner entgegenzutreten, da sie sich offenbar auf die gleiche Traditionsbasis bezogen wie er (vgl. 2,19). Es handelt sich also um Christen, die die johanneische Tradition – möglicherweise unter dem Einfluss griechischer Denkweise – einseitig interpretierten (Ultrajohanneer).

Abfassungszeit

Da der Konflikt, der im 1Joh ausgetragen wird, auch die Endfassung des Joh beeinflusst hat, dürfte der Brief vor der Endredaktion des Evangeliums entstanden sein. Dafür spricht auch, dass der Briefschluss (5,13) auf den ursprünglichen Evangelienschluss 20,31 anspielt. Der 1Joh ist deshalb an das Ende des 1. Jh. zu datieren.

Literarischer Charakter

Der literarischen Form nach ist der 1Joh eigentlich kein Brief. Die mehrfach wiederholte Wendung „ich schreibe euch“ (2,1.7.12-14 u. ö.) zeigt aber, dass der Autor sein Werk als Brief verstand. Da es im 1Joh um die rechte Interpretation der johanneischen Tradition geht, kann man ihn näherhin als briefartige Homilie bezeichnen.

Der 1Joh argumentiert ganz aus der joh Tradition. Der Vergleich mit dem Joh zeigt, dass der Verfasser des Briefes theologisch der Endredaktion des Evangeliums nahesteht, da er wie diese apokalyptische Traditionen aufnimmt (2,18).

Das Ende des Briefes bietet ein Problem, da nach der abschließenden Wendung 5,13 noch ein Abschnitt folgt, der plötzlich zwischen der Sünde, die zum Tode führt, und der Sünde, die nicht zum Tode führt, unterscheidet. Auch die Warnung vor den Götzen (5,21) überrascht im Zusammenhang des übrigen Briefes. Der Abschnitt 5,14-21 wird deshalb von vielen Forschern für einen späteren Nachtrag gehalten.

Der Prolog

Der Prolog des 1Joh dient dazu, den Verfasser als Zeugen der Offenbarung des Wortes zu legitimieren. Er betont ausdrücklich, dass er geschaut, gehört und mit den Händen angefasst hat. Die spätere Auseinandersetzung mit der Auffassung der Gegner zeigt, dass schon hier gegen sie die sinnliche Erfahrbarkeit der Offenbarung akzentuiert wird. Ziel der Verkündigung des Briefes ist die Gemeinschaft der Adressaten mit den Zeugen der Offenbarung.

Gemeinschaft mit Gott und Gotteserkenntnis

1, 5-7 Leben im Licht
1,8-2,2 Vergebung der Sünden
2,3-11 Die Gebote Gottes halten
2,12-17 Glaubensgewißheit und Verhalten in der Welt

Der Verfasser beginnt den eigentlichen Brief mit einer Darlegung dessen, was aus seiner Sicht das Wesen von christlicher Gemeinde ausmacht. Dazu benutzt er im ersten Teil seiner Ausführungen mehrfach Kennzeichensätze (Form: Wenn wir sagen ... und Verhalten ... Schlussfolgerung).

Grundaussage der Botschaft des Briefes ist nach 1,5: „Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm.“ Dem hat das Leben der Christen zu entsprechen (1,5-7). Wenn die Christen im Licht leben, reinigt das Blut Jesu von aller Sünde. Diese am Ende des ersten Argumentationsganges gezogene Schlussfolgerung führt der Autor aus (1,8-2,2). Dabei legt er Wert darauf, dass Sünden bekannt werden müssen, und wendet sich gegen behauptete Sündlosigkeit.

Wahre Gotteserkenntnis wird durch das Halten der Gebote sichtbar. Zentrales Gebot ist das Gebot der Bruderliebe (2,3-11). Der Verfasser schließt diesen einleitenden Teil mit einer Reihe von Glaubensgewissheiten, die er den verschiedenen Altersgruppen in der Gemeinde zuspricht. Aus dem Wesen der Gemeinde folgt, dass sie sich von der Welt und ihrem Wesen fernhalten soll (2,12-17).

Bewährung des Glaubens in der letzten Stunde

2,18-27 Das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes als Kriterium
2,28-3,10 Heilserwartung und Sündlosigkeit der Gotteskinder
3,11-24 Bruderliebe und Gebot Gottes

Die letzte Stunde ist nach Ansicht des Briefschreibers bereits angebrochen, da viele Antichristusse aufgetreten sind. Auf diese Weise ordnet er das Auftreten von Irrlehrern in der Gemeinde in einen apokalyptisch gefärbten eschatologischen Horizont ein. Sie leugnen Jesus als den Christus und damit Gott selbst. Die Gemeinde muss gegen sie nur in der Wahrheit bestärkt werden (Garant ist die empfangene Salbung, d. h. der Geist; 2,18-27).

Die Adressaten sollen im Geist bzw. in Christus bleiben, damit sie bei der Parusie nicht gerichtet werden. Sie sind Kinder Gottes. Deren Wesen entspricht, dass sie nicht sündigen. Diese Zusage, die zunächst 1,8 zu widersprechen scheint, wird im Kontext sofort paränetisch gewendet: Am Tun der Gerechtigkeit entscheidet sich, wer Kind des Teufels bzw. Kind Gottes ist (2,28-3,10).

Dieses Tun wird wieder auf die Bruderliebe zugespitzt. Kain wird als der Brudermörder schlechthin eingeführt. Jeder, der die Bruderliebe nicht lebt, folgt seinem Typus. Die Adressaten hingegen sind gerufen, dem Vorbild Jesu zu folgen (3,17 – Konkretion der Bruderliebe auf materielle Unterstützung Notleidender). Gott gegenüber können die Christen Zuversicht haben, denn er hat ihnen seinen Geist gegeben (3,11-24).

Auseinandersetzung mit den Irrlehrern

4,1-6 Geist der Wahrheit und Geist des Irrtums
4,7-21 Gott ist die Liebe
5,1-12 Der Glaube als Sieg über die Welt

Der Verfasser des 1Joh fordert seine Adressaten auf, zwischen den Geistern zu unterscheiden (4,1-6). Als Kriterien führt er das Bekenntnis und das Verhältnis zur „Welt“ an (vgl. 2,15).

Die bisherige Argumentation des 1Joh hatte gezeigt, dass sein Verfasser in der (Bruder)Liebe das charakteristische Wesensmerkmal der Christen sieht. Hier, im Zusammenhang der Bekenntnisfrage, setzt er zu einer ausführlichen theologischen Begründung dieser Aussage an (4,7-21). Im Zentrum der Argumentation steht der berühmte Satz: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (4,16b) Die Liebe Gottes ist durch die Sendung des Sohnes und seinen Sühnetod offenbar geworden.

In 5,1-12 wird zunächst das Bekenntnisthema wieder aufgenommen. Noch einmal unterstreicht der Autor, dass Glaube und Bruderliebe unmittelbar zusammengehören, denn alle Glaubenden sind aus Gott geboren. Er führt drei Zeugen des Glaubens an: Wasser, Blut und Geist (Zeugenregel aus Dtn 19,15). Jeder, der glaubt, trägt das Zeugnis Gottes in sich und hat das (ewige) Leben.

Briefschluss und Nachtrag

5,13 Briefschluss
5,14-21 Nachtrag
5,14f. Gebetserhörung
5,16f. Bitten für den Sünder
5,18-20 Glaubenswissen
5,21 Schlußmahnung

Der ursprüngliche Briefschluss (5,13) betont die Absicht des 1Joh, die Glaubensgewissheit der Adressaten zu stärken. Der Nachtrag (5,14-21) fügt eine kurze Paränese an, die das Gebet zum Inhalt hat. Dabei werden Brüder, die eine Sünde zum Tode begehen (d. h. Irrlehrer), ausdrücklich von der Fürbitte ausgenommen. Eine Reihung von Glaubensgewissheiten, die den Brief wohl zusammenfassen sollen, und die Warnung vor den Götzen schließen den Nachtrag ab.

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Die Texte auf dieser Seite sind mit freundlicher Genehmigung übernommen aus:

Cover der Bibelkundes des Neuen Testaments von Klaus-Michael Bull

Bull, Klaus-Michael: Bibelkunde des Neuen Testaments. Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter. Überblicke – Themakapitel – Glossar, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Aufl. 2018.

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