Deutsche Bibelgesellschaft

Luther und die Apokryphen

Die Apokryphen der Lutherbibel – das sind Schriften, die nur im griechischen Alten Testament (der Septuaginta), nicht aber in der Hebräischen Bibel enthalten sind. Und ebendeshalb waren sie in ihrer Zugehörigkeit zum Kanon der Bibel lange Zeit umstritten.

1. „Nützlich und gut zu lesen“ – die Apokryphen der Lutherbibel. Ein Beitrag von Martin Rösel

„Apocrypha. Das sind Bücher: so nicht der heiligen Schrift gleich gehalten: und doch nützlich und gut zu lesen sind.“ Wer in einer alten Ausgabe einer Lutherbibel das Neue Testament nach Maleachi, dem letzten prophetischen Buch des Alten Testaments sucht, macht eine Entdeckung. Statt des Matthäusevangeliums findet sich ein ganz neuer Abschnitt, die Sammlung der Apokryphen. Sie wird mit der hier wiedergegebenen Überschrift eingeleitet, darauf folgt nur eine Inhaltsübersicht. Es wird nicht erklärt, warum diese Bücher der heiligen Schrift nicht gleich gehalten werden, und man erfährt auch nicht, warum ihre Lektüre nützlich sein soll. Hinzu kommt: Je nachdem, welche aktuelle Ausgabe der Lutherbibel man heute aufschlägt, kann dieser Teil der Apokryphen auch ganz fehlen. Sind sie also doch nicht nützlich, sondern entbehrlich? [...]

2. Was sind die Apokryphen?

Um das Problem der Apokryphen nachvollziehen zu können, ist ein Ausflug in verschiedene Epochen der Geschichte nötig: Zunächst ein weiter Schritt zurück in das alte Israel: Das Alte Testament, die Sammlung der Schriften Israels, entstand in einem Zeitraum von mindestens 500 Jahren seit dem 8. vorchristlichen Jahrhundert. Damals wurde in Israel vor allem Hebräisch gesprochen, daher ist dies die Sprache der religiösen Überlieferungen Israels und Judas. In der Zeit der persischen Herrschaft nach dem 6. Jahrhundert und in der Phase der griechischen Dominanz ab dem 3. Jahrhundert wurde zunehmend auch Aramäisch, dann Griechisch gesprochen; das Hebräische wurde zur Sprache der Religion und des Kults. [...]

3. Die Apokryphen in Luthers Bibelübersetzung

In der Reformationszeit wurde der unterschiedliche Umfang der Bibelausgaben zum Problem – immerhin nach fast 1500 Jahren, in denen kaum je Anstoß an den apokryphen Büchern genommen wurde. Hintergrund dessen war die Bewegung des Humanismus – der geistigen Strömung der Renaissance-Zeit – die im 15. Jahrhundert einsetzte. Hier wurde gefordert, dass man sich bei der Beschäftigung mit den großen Philosophen und Dichtern der Antike auf die lateinischen oder griechischen Originalschriften stützen solle. Wahrscheinlich durch Erasmus von Rotterdam wurde dieses Programm im Jahr 1511 zu dem Ruf „ad fontes!“ (zu den Quellen!) prägnant zusammengefasst. [...]

4. Übersetzung durch Luthers Mitarbeiter

Die Apokryphen in der Lutherbibel haben noch eine weitere Besonderheit, die Konsequenzen bis in die Gegenwart hatte: Luther hat nur sehr geringe Teile dieser Schriften selbst übersetzt. Sicher ist sich die Forschung nur bei einigen Kapiteln von Jesus Sirach und bei der Weisheit Salomos. Die anderen Bücher hatten vor allem Philipp Melanchthon und Justus Jonas ins Deutsche übertragen. Grund dafür waren wohl die Überarbeitung und der angegriffene Gesundheitszustand des Reformators. Außerdem gab es eine Konkurrenz der Bibelübersetzungen; die Zürcher Bibelübersetzer hatten schon vor den Wittenbergern die erste Vollbibel auf den Markt gebracht, sodass man unter Zugzwang war. [...]

5. Streit um die Apokryphen

Im ersten Jahrhundert nach Beginn der Reformation blieb der Stand der Dinge im Wesentlichen unverändert. Sowohl die Lutherbibel als auch die anderen evangelischen Übersetzungen behielten die apokryphen Bücher fraglos in ihrem Kanon. Die Zürcher Bibel folgte der Wittenberger Übersetzung sogar darin, dass sie sie in einen eigenen Teil zwischen den Testamenten einordnete – vorher waren sie Teil der Geschichtsbücher. Unterschiede gab es allerdings bei der Frage, welche Schriften zu den Apokryphen gehören; in Zürich nahm man auch das 3.+4. Esrabuch und das 3. Makkabäerbuch auf. Diese Entscheidung hat dann auch auf das Luthertum eingewirkt, sodass es schon im 16. Jahrhundert erweiterte Lutherbibeln und separate Ausgaben dieser drei apokryphen Bücher gab. [...]

6. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse

Als der Rat der EKD beschloss, anlässlich des 500. Reformationsjubiläums eine neue Durchsicht der Lutherbibel zu beauftragen, stellte sich die Lage bei den Apokryphen als besonders kritisch dar. Aus den oben genannten Gründen konnte ihre Übersetzung nicht mehr überzeugen: Sie war sprachlich uneinheitlich und beruhte zum Teil auf späten, lateinischen Texten. Hinzu kam, dass sich die Revisionen des 19. und 20. Jahrhunderts wegen der allgemeinen Abwertung der Apokryphen keine besondere Mühe mit diesen Schriften gegeben hatten. Den Überarbeitern der Ausgabe von 1970 war zwar der Problembestand bewusst. Doch statt konsequent die besten vorhandenen Textausgaben zu nutzen, nahmen sie nur sprachliche Retuschen vor. Das führte dazu, dass die Apokryphen der Lutherbibel kaum noch gelesen wurden und im wissenschaftlichen Gespräch gar nicht mehr zu nutzen waren. [...]

7. Neue Textteile, neue Verszählung

Eine wichtige Forderung des Rats der EKD war, dass diese neuen Übersetzungen auch parallel mit früheren Bibelausgaben benutzbar sein sollten. Daher findet man in den neuen Übersetzungen in vielen Fällen zusätzliche Versangaben in Klammern, sodass die entsprechenden Abschnitte in alten Ausgaben wiedergefunden werden können. In manchen Fällen waren aber die Abweichungen so groß, dass Fußnoten gesetzt wurden, die das Problem erklären. Eine weitere Besonderheit gibt es im Buch Jesus Sirach. Hier existieren zwei verschiedene griechische Textausgaben, von denen die kürzere wohl die ältere ist, die später erweitert wurde. In der Lutherbibel ist der längere Text die Grundlage, wobei die Zusätze des Langtextes in eckigen Klammern gesetzt sind. So ist das Textwachstum leicht nachzuvollziehen. [...]

Dieser Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels, der in folgendem Band erscheinen ist: Margot Käßmann/Martin Rösel, Die Bibel Martin Luthers. Ein Buch und seine Geschichte, Stuttgart/Leipzig 2016, 136–150.

Literatur

  • Klaus D. Fricke, Probleme und Stand der Revision der Apokryphen der Lutherbibel, in: K.D. Fricke/S. Meurer (Hg.), Die Geschichte der Lutherbibelrevision von 1850 bis 1984, Stuttgart 2001, 197–217.
  • Siegfried Meurer (Hg.), Die Apokryphenfrage im ökumenischen Horizont, Stuttgart 1993.
  • Christfried Böttrich/Martin Rösel (Hg.), Die Apokryphen der Lutherbibel. Einführungen und Bibeltexte, Stuttgart/Leipzig, 2017.
  • Martin Rösel, Die Durchsicht der Apokryphen in der Lutherbibel 2017, in: M. Lange/M. Rösel (Hg.): „Was Dolmetschen für Kunst und Arbeit sei“. Die Lutherbibel und andere deutsche Bibelübersetzungen, Stuttgart 2014, 247–271.

Deutsche Bibelgesellschaftv.4.25.3
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