Deutsche Bibelgesellschaft

Lukas 1,(26-38)39-56 | 4. Sonntag Im Advent | 22.12.2024

Einführung in das Lukasevangelium

1. Verfasser

Das dritte Evangelium ist das einzige, dessen Verfasser in der ersten Person Singular auf sich als Autor verweist (Lk 1,3), allerdings nennt er nicht seinen Namen, sondern nur den seines Adressaten Theophilus. Er ist kein Augenzeuge, sondern in seinem Zeugnis von solchen abhängig (Lk 1,2). Der erstmals in der inscriptio von P75 ca. ein Jahrhundert nach der Abfassung des Evangeliums genannte Name Lukas, der etwa zur gleichen Zeit auch bei Irenäus bezeugt wird (Adv Haer III,1,1), könnte fiktiv sein, wenngleich er sich im Unterschied zu ‚Matthäus‘ oder ‚Johannes‘ weniger für eine Fiktion nahelegt, da sich mit ihm keine unmittelbare apostolische Autorität reklamieren lässt. Der ebenfalls in das späte zweite Jahrhundert zu datierende Kanon Muratori identifiziert den Verfasser aufgrund der „Wir-Passagen“ in der Apostelgeschichte mit dem in Phlm 24 und 2 Tim 4,11 genannten Paulusbegleiter und dem in Kol 4,14 genannten Arzt Lukas. Bleibt letzteres unsicher, so gewinnt die Annahme, dass es sich um einen Paulusbegleiter handeln könnte, wieder an Zustimmung (vgl. Wolter 8). Wurde früher oft angenommen, dass er wegen fehlender Kenntnisse Palästinas, des Vermeidens semitischer Begriffe und seiner Zurückhaltung gegenüber der Sühnevorstellung Heidenchrist gewesen sein müsse (vgl. Fitzmyer 42-47), so wird heute aufgrund der genauen Kenntnis der griechischen Übersetzung des Alten Testaments sowie jüdischer Interna (Lehrdifferenzen zwischen Sadduzäern und Pharisäern), aber auch wegen seines Interesses an der Israelfrage häufig angenommen, dass er Jude war (vgl. Smith: Luke). Die Verbindung von biblischem und hellenistischem Denken, das Desinteresse an der Gesetzesfrage und die Rolle der „Gottesfürchtigen“ in der Apostelgeschichte machen es jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich, dass Lukas aus dem Kreis der „Gottesfürchtigen“ stammt, Sympathisanten der Synagoge, die wegen des Verlustes der gesellschaftlichen Beziehungen, den Beschneidung und das Einhalten der Reinheitsgebote nach sich zogen, den Übertritt zum Judentum nicht vollziehen wollten / konnten. Damit ließe sich die „doppelte kulturelle Identität des Verfassers“ am ungezwungensten erklären (Marguerat 33; Bovon I, 22); Lukas stünde „nicht nur theologisch, sondern auch biographisch zwischen Judentum und Hellenismus“ (Kraus 244).

2. Adressaten

Die Anrede an Theophilus als einen in der christlichen Überlieferung Unterwiesenen (Lk 1,4) zeigt, dass sich Lukas an Christen richtet. Aber sein Bemühen, als „Evangelist der Griechen“ (Wiefel 4) seine Botschaft in den kulturellen Kontext der griechisch-römischen Welt zu übersetzten, lässt vermuten, dass er sein Werk auch als eine zur werbenden Weitergabe an Nichtchristen geeignete Schrift angelegt hat. Paradigmatisch dokumentiert das die - zumindest in der vorliegenden Form von Lukas verfasste - Areopagrede (Apg 17, 22–32), das „Muster einer Missionsrede an Gebildete“ (Harnack 391).

3. Datierung

Die Datierung schwankt – von einer Frühdatierung um 60 n.Chr. bis weit ins 2. Jahrhundert hinein. Die deutliche Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger nimmt als frühesten Zeitpunkt die Zerstörung Jerusalems an, auf die das Evangelium zurückblickt (vgl. Lk 21,20–24 mit Mk 13,14–20; Lk 19,43f) und bestimmt den spätesten Zeitpunkt von der Apostelgeschichte her, deren Paulusbild gegenüber dem Paulus der Briefe hagiographisch überhöht ist. Da die relativ wohlwollende Darstellung der römischen Herrschaft nicht so recht in die Spätzeit Domitians mit dessen übersteigertem Herrscherkult seit Beginn der 90er Jahre passt (vgl. Johannesoffenbarung), Lukas die Sammlung der Paulusbriefe noch nicht zu kennen scheint und die Front gegenüber dem Judentum nicht so verhärtet ist wie bei Matthäus, wird das Doppelwerk meist zwischen 75 und 90 verortet. Ein nicht allzu spätes Abfassungsdatum legt sich auch nahe, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Lukas Begleiter des Paulus gewesen sein könnte.

4. Entstehungsort

Ungenaue Kenntnis der geographischen Verhältnisse Palästinas und abnehmendes Interesse an jüdischen Bräuchen machen eine Herkunft aus dem im jüdischen Stammland unwahrscheinlich; aufgrund diverser Angaben in der Apostelgeschichte werden vor allem Antiochia, Cäsarea, Rom und Philippi vermutet; keine Annahme konnte sich bislang überzeugend durchsetzen.

5. Theologisches Zentrum: Gott

In der längsten Zusammenfassung der Jesusvita außerhalb der Evangelien Apg 10,37-43 wird Jesus einmal genannt, Gott fünfmal. Diese Theozentrik ist Programm und bestimmt das ganze Doppelwerk, wie schon die Statistik zeigt: Das Appellativum θεός (das sich jeweils bis auf wenige Ausnahmen auf den biblischen Gott bezieht) findet sich bei Markus 48mal, bei Matthäus 51mal und bei Johannes 83mal, im lukanischen Doppelwerk aber 290mal (Evangelium 122, Apostelgeschichte 168); hinzu kommt der namensäquivalente Gebrauch von Gottesepitheta wie „Herr“, „Höchster“, „Mächtiger“, „Retter“ oder „Gebieter“. Zudem wird der göttliche Machtbereich entschiedener als in den anderen Evangelien als „heilig“ abgesetzt – das Adjektiv ἅγιος findet sich 7mal bei Markus, 10mal bei Matthäus und 5mal bei Johannes, im Doppelwerk aber 73mal. Zentrales Thema des Lukasevangeliums ist also Gott – der Gott, den Jesus von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater anruft. Die göttliche Vaterschaft ist nicht nur Zentrum seines Betens (Lk 11,2-4.11-13; 22,42), sondern auch seines Selbstverständnisses (Lk 10,21f), seiner Ethik (Lk 6,35f) und seiner Verkündigung (Lk 15,11-32). Dessen Barmherzigkeit, programmatisch in den Lobgesängen des Anfangs gepriesen (Lk 1,50.54.72.78), bestimmt Jesu Worte, Werke und sein Verhalten. Weil dieser Gott als „Akteur im Hintergrund“ (Schmidt) alles durch „den festgesetzten Willen und das Vorauswissen“ lenkt (Apg 2,23), ist auch in Jesu scheinbarem Scheitern nur das geschehen, „was seine Hand und Wille zuvor festgesetzt hat“ (Apg 4,28). Indem so Gottes „mitleidende Barmherzigkeit“ denen, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen, den Morgenglanz seiner Ewigkeit aufstrahlen ließ (Lk 1,78f) wurde inmitten allen Unheils jenseits von Eden Heilsgeschichte möglich, wurde „die Tür zum schönen Paradeis“ wieder aufgeschlossen (EG 27,6 vgl. Lk 23,43).

6. Besonderheit: Die Hermeneutik der Doppelkodierung

Lukas entstammte der gebildeten Schicht der hellenistischen Welt. Entsprechend sein Bemühen, die christliche Botschaft als ein Angebot für Gebildete darzubieten, das sich in konzentrierter Form in der bereits erwähnten Areopagrede des Paulus zeigt, in deren semantischer Ambivalenz sich wie in einem Brennglas die lukanische Hermeneutik der Doppelkodierung spiegelt: Zum einen wird das christliche Zeugnis an die biblische Überlieferung zurückgebunden und in deren Licht gedeutet, zugleich aber profiliert Lukas seinen zweigeteilten „Bericht“ im ständigen Dialog mit den Bildungstraditionen seiner Zielgruppe in der hellenistischen Welt (vgl. M.Becker: Dion). So werden gerade die markanten Besonderheiten des Doppelwerks vom Magnifikat über die Weihnachtsgeschichte, die Kindheitsgeschichte, die Darstellung des Täufers, die Ethik einer imitatio Dei, die Tischreden bis hin zu den Passions- und Ostererzählungen so dargeboten, dass sie aus doppelter Perspektive plausibilisiert werden. So verweist die auf das Leiden und Sterben erfolgende Himmelfahrt auch terminologisch auf die frühjüdische Eliatradition (vgl. 2 Kön 2,9.10.11; Sir 48,9; 1 Makk 2,58), aber mit überraschender Deutlichkeit eben auch auf Herakles, der als „Retter (σωτήρ) der Erde und der Menschen“ (Dion or. 1,84) nach seinem Sterben, bei dem er den „Vater“ gebeten hat, seinen Geist zu sich aufzunehmen (vgl. Ps._Seneca: Hercules Oeteus 1695.1703f mit Lk 23,46), vom „allmächtigen Vater“ im „Vierrossegespann“ nach oben „entrafft“ und „unter die strahlenden Sterne versetzt“ (Ovid: Met. IX,271f), also vergöttlicht wurde. Diese Doppelkodierung reicht bis in das Gottesverständnis: So wird die Verbindung von Gott und Leben als Inbegriff der biblischen Gottesoffenbarung vom lukanischen Jesus deutlicher unterstrichen als in seinen Vorlagen (Lk 20,36.38 vgl. E.-M. Becker), zugleich aber betont der lukanische Paulus im Anschluss an die stoische Religionsphilosophie dieselbe Verbindung als Charakteristikum der paganen Gottesahnung (Apg 17,25.28), wobei er sogar zustimmend einen paganen Zeushymnus zitieren kann (Apg 17,28), zugleich aber die Religiosität der gebildeten ‚Heiden‘ durch Bezug auf die Auferstehung eingemeindet (Apg 17,31 vgl. 17,18).

Literatur:

  • Eve-Marie Becker: Wie Lukas über den ‚Gott der Lebenden‘ spricht und für den sachkundigen Leser Geschichte schreibt. Lk 20,27-40 par. Mk 12,18-27 im Vergleich; in: J.Dochhorn, R.Hirsch Luipold, I.Tanaseanu Döbler: Über Gott. FS Reinhard Feldmeier, Tübingen 2022, 207-222.
  • Matthias Becker: Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse, SCCB 3, Paderborn 2020.
  • F. Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1-3, Neukirchen-Vluyn/Zürich 20193
  • Joseph Fitzmyer: The Gospel According to Luke I-IX: Introduction, Translation, and Notes (The Anchor Bible, Vol. 28).
  • Adolf von Harnack: Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 19244.
  • Wolfgang Kraus: Lukas: Urchristlicher Schriftsteller zwischen Judentum und Hellenismus, in: Christoph Barnbrock / Werner Klän (Hgg.): Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V.Stolle, ThFW 12, Münster 2005.
  • Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 2022.
  • Joshua Paul Smith: Luke Was Not A Christian: Reading the Third Gospel and Acts within Judaism; BIS 218, Leiden 2023.
  • Karl Matthias Schmidt: Akteur im Hintergrund. Anmerkungen zur Anwesenheit der Erzählfigur „Gott“ in der lukanischen Kindheitserzählung, in: Eisen, U. E. / Müller, I. (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016, 295-320.
  • Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig 1988.
  • M. Wolter: Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008.

A) Exegese kompakt: Lukas 1,39-56

39Ἀναστᾶσα δὲ Μαριὰμ ἐν ταῖς ἡμέραις ταύταις ἐπορεύθη εἰς τὴν ὀρεινὴν μετὰ σπουδῆς εἰς πόλιν Ἰούδα, 40καὶ εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον Ζαχαρίου καὶ ἠσπάσατο τὴν Ἐλισάβετ. 41καὶ ἐγένετο ὡς ἤκουσεν τὸν ἀσπασμὸν τῆς Μαρίας ἡ Ἐλισάβετ, ἐσκίρτησεν τὸ βρέφος ἐν τῇ κοιλίᾳ αὐτῆς, καὶ ἐπλήσθη πνεύματος ἁγίου ἡ Ἐλισάβετ, 42καὶ ἀνεφώνησεν κραυγῇ μεγάλῃ καὶ εἶπεν·

εὐλογημένη σὺ ἐν γυναιξὶν

καὶ εὐλογημένος ὁ καρπὸς τῆς κοιλίας σου.

43καὶ πόθεν μοι τοῦτο ἵνα ἔλθῃ ἡ μήτηρ τοῦ κυρίου μου πρὸς ἐμέ; 44ἰδοὺ γὰρ ὡς ἐγένετο ἡ φωνὴ τοῦ ἀσπασμοῦ σου εἰς τὰ ὦτά μου, ἐσκίρτησεν ἐν ἀγαλλιάσει τὸ βρέφος ἐν τῇ κοιλίᾳ μου. 45καὶ μακαρία ἡ πιστεύσασα ὅτι ἔσται τελείωσις τοῖς λελαλημένοις αὐτῇ παρὰ κυρίου.

46Καὶ εἶπεν Μαριάμ·

Μεγαλύνει ἡ ψυχή μου τὸν κύριον,

47καὶ ἠγαλλίασεν τὸ πνεῦμά μου ἐπὶ τῷ θεῷ τῷ σωτῆρί μου,

48ὅτι ἐπέβλεψεν ἐπὶ τὴν ταπείνωσιν τῆς δούλης αὐτοῦ.

ἰδοὺ γὰρ ἀπὸ τοῦ νῦν μακαριοῦσίν με πᾶσαι αἱ γενεαί,

49ὅτι ἐποίησέν μοι μεγάλα ὁ δυνατός.

καὶ ἅγιον τὸ ὄνομα αὐτοῦ,

50καὶ τὸ ἔλεος αὐτοῦ εἰς γενεὰς καὶ γενεὰς

τοῖς φοβουμένοις αὐτόν.

51Ἐποίησεν κράτος ἐν βραχίονι αὐτοῦ,

διεσκόρπισεν ὑπερηφάνους διανοίᾳ καρδίας αὐτῶν·

52καθεῖλεν δυνάστας ἀπὸ θρόνων

καὶ ὕψωσεν ταπεινούς,

53πεινῶντας ἐνέπλησεν ἀγαθῶν

καὶ πλουτοῦντας ἐξαπέστειλεν κενούς.

54ἀντελάβετο Ἰσραὴλ παιδὸς αὐτοῦ,

μνησθῆναι ἐλέους,

55καθὼς ἐλάλησεν πρὸς τοὺς πατέρας ἡμῶν,

τῷ Ἀβραὰμ καὶ τῷ σπέρματι αὐτοῦ εἰς τὸν αἰῶνα.

56Ἔμεινεν δὲ Μαριὰμ σὺν αὐτῇ ὡς μῆνας τρεῖς, καὶ ὑπέστρεψεν εἰς τὸν οἶκον αὐτῆς.

Lukas 1:39-56NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

39. Maria aber stand auf in diesen Tagen

und wanderte eilends in das Bergland in eine Stadt Judas.

40. Und sie trat ein in das Haus des Zacharias und grüßte Elisabeth.

41. Und es geschah:

Als Elisabeth den Gruß der Maria hörte,

hüpfte der Fötus in ihrem Schoß,

und Elisabeth wurde vom heiligen Geist erfüllt,

42. und sie schrie auf mit lauter Stimme und sagte:

„Gesegnet du unter den Frauen,

und gesegnet die Frucht deines Schoßes.

43. Wer bin ich denn,

dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?

44. Denn siehe:

Als die Stimme deines Grußes an meine Ohren drang,

da hüpfte der Embryo in meinem Schoß voll Jubel.

45. Und selig, die geglaubt hat,

dass sich erfüllen wird, was ihr vom Herrn gesagt ist.“

46. Und Maria sprach:

Meine Seele macht den Herrn groß,

47. und mein Geist freut sich über Gott, meinen Retter.

48. Denn er hat nach seiner Sklavin geschaut – [trotz] ihrer Niedrigkeit.

Schaut also:

Von nun an werden mich alle Geschlechter glücklich nennen,

49. denn Großes hat der Mächtige an mir getan,

und heilig [ist] sein Name,

50. und sein Erbarmen [währt] von Geschlecht zu Geschlecht

über die, welche Ehrfurcht vor ihm haben.

51. Er hat Gewalt geübt mit seinem Arm,

zerstreut die in ihrer Herzensgesinnung Überheblichen!

52. Heruntergerissen hat er Machthaber von Thronen

und Niedrige hoch erhoben.

53. Hungernde hat er mit Gutem erfüllt

und Reiche mit leeren Händen weggeschickt.

54. Er hat sich Israels angenommen, seines Kindes,

eingedenk seines Erbarmens,

55. wie er es unseren Vätern zugesagt hat,

Abraham und seinen Nachkommen – für immer.

56. Maria blieb aber ungefähr drei Monate mit ihr zusammen, dann kehrte sie in ihr Haus zurück.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Das Gotteslob der Maria wechselt vom Präsens in V.46b zum Aorist, der als Zeitstufe des Hymnus im Folgenden beibehalten wird. Man kann diese Form als ‚gnomischen Aorist‘ verstehen, der eine allgemeingültige Wahrheit zur Sprache bringt, oder als ‚ingressiven Aorist‘, der deutlich macht, dass Gott mit der Erwählung der „Magd“ als Mutter seines Sohnes bereits begonnen hat, seine Herrschaft auf der Erde aufzurichten. Beides ist letztlich kein Gegensatz, sondern macht deutlich, dass das im Lied Gepriesene nicht für eine ferne Zukunft erträumt wird, sondern als heilsamer Machtwechsel im Himmel schon Realität ist und auf Erden jetzt beginnt.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Mit der Zwischenszene der ‚Heimsuchung Mariens‘ werden die bislang nebeneinander herlaufenden Erzählstränge der beiden Geburtsankündigungen miteinander verschränkt. Bemerkenswert ist die zentrale Rolle, die den Frauen hier zukommt, die eine nach antikem Verständnis eine Greisin, die andere ein junges Mädchen, denen gemeinsam ist, dass Gott in ihren Leibern seine Rettung heranwachsen lässt. Relativ eigenständiger Fluchtpunkt ist der Lobgesang der Maria, der nichts mit Elisabeth und dem Täufer zu tun hat. Er ist ein Patchwork biblischer Sprache, bei dem sich zu jeder Zeile alttestamentliche Parallelen finden, vor allem zum Lied der Hannah 1 Sam 2,1–10. Wie das Benedictus des Zacharias Lk 1,68-79 zeigt es, dass die israelitische Psalmendichtung nach Abschluss des Psalters nicht zum Erliegen kam, sondern v.a. in den frühjüdischen ‚Erweckungsbewegungen‘ eine neue Blüte erreicht hat, von den pharisäischen Psalmen Salomos bis zu den Hodayot aus Qumran. Zugleich aber weist das Lied motivische Entsprechungen zur paganen Tradition auf, besonders zum Zeushymnus am Beginn von Hesiods ‚Werke und Tage‘ (1–8).

3. Historische Einordnung

Viel spricht dafür, dass es sich bei den Passagen über Johannes um eine Überlieferung handelt, die von Anhängern des Täufers, die eine Zeit lang als eigene Gruppe im Judentum existierten (vgl. Apg 19,1–7), tradiert wurde und Lukas zu seiner Vorgeschichte inspiriert hat. Um diese mit der Jesusüberlieferung zu verbinden, hat Lukas vermutlich die Erzählung von ‚Heimsuchung Mariens’ verfasst, wobei die meisten Exegeten davon ausgehen, dass das Magnifikat vorlukanisch ist. Seine Herkunft ist allerdings ebenso umstritten wie die Frage, ob es eine hebräische oder aramäische Vorlage hatte und ob und wie es Lukas bearbeitet hat.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Bei dieser dritten Episode der lukanischen Kindheitsgeschichte sind die erzählenden Anteile noch geringer als in den bisherigen. Alles konzentriert sich auf das deutende Wort, gipfelnd im großen Gotteslob: Mit Ausnahme von V.48b ist in jedem der 15 anderen Haupt- und Nebensätze des Magnifikat von ihm die Rede, dem Herrn, dem Retter, dem Mächtigen. Maria sieht sich selbst also nur insofern als Gegenstand des Preises, als Gott „auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut“ und damit die für sein Heilshandeln charakteristische Umkehrung der Verhältnisse eingeleitet hat. Mit „Herr“ (kyrios) und „Retter“ (sōtēr) verwendet sie im parallelismus membrorum zwei at.liche Gottesprädikate, die dann im Evangelium auf Christus übertragen werden (kyrios ab 1,43, sōtēr in 2,11). Ihre Parallelisierung im eröffnenden Gotteslob (vgl. Sir 51,1) verbindet programmatisch Macht und Güte: Wie bei der Betonung der Allmacht beim Zuspruch des Engels an Maria (Lk 1,37) erweist der „Mächtige“ seine Größe darin, dass seine Macht dem Anderen zu Gute kommt: „Der Mächtige hat Großes an mir getan“.  Zugleich thematisiert das Lied Gottes Rettermacht nicht nur im Gegenüber zur menschlichen Niedrigkeit, sondern auch zur menschlichen Überheblichkeit. Dort nimmt sie – ebenfalls gut biblisch – die Gestalt des Gerichts an (vgl. Jes 11,4; Sir 10,12–14; 16,5–12). Die Rückbindung an die Verheißungen an „Abraham und seine Nachkommen“ macht dabei deutlich, dass die hier gepriesene ‚Machtergreifung’ Gottes nicht nur das unerhört Neue ist, sondern zugleich das Uralte, weil sich hier erfüllt, was aus der Perspektive der christlichen Schriftinterpretation schon immer Gottes Absicht war (vgl. Lk 1, 70).

5. Theologische Perspektivierung

Die von Maria gepriesene Macht Gottes hat ein doppeltes Gesicht – je nach Adressaten. Beides steht nicht in Spannung zueinander, sondern ist zusammen Ausdruck des göttlichen Erbarmens (eleos), auf das die beiden Strophen des Liedes zulaufen (V. 50.54). Denn als der Retter ist Gott nicht ‚immer mit den stärkeren Bataillonen‘ (Friedrich II), sondern steht auf der Seite der Niedrigen und Armen und widersteht deshalb den Mächtigen und Reichen. Diese Umkehrung der Verhältnisse durch den seinen Verheißungen treuen Gott Israels ist für Lukas das Vorzeichen, unter dem das ganze Leben Jesu gelesen werden soll: Seine Wunder und sein Verhalten, seine Verkündigung und zuletzt sein ganzes, nach Leiden und Sterben in der Himmelfahrt gipfelndes Leben.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Aus der Exegese nehme ich zwei Aspekte mit: Es ist zum einen die Beobachtung, dass die Freude über die Ankunft der schwangeren Maria bei Elisabeth und ihrem Kind in starken Empfindungen zum Ausdruck kommt. Das Kind „hüpft“. Im sechsten Monat schwanger, spürt man Kindsbewegungen und es beginnt die Zeit, in der der Fötus wächst und an Gewicht zunimmt. Bei der biblischen Botschaft – Johannes weiß schon vor der Geburt, wer von Maria geboren wird – hat der Evangelist zumindest auf den Zeitpunkt, ab wann es biologisch möglich ist deutliche Kindsbewegungen zu spüren, Rücksicht genommen.

Und Elisabeth schreit auf mit lauter Stimme: Die Freude einer Frau äußert sich nicht sittsam-still, sondern laut. Und zum anderen ist es die Verbindung des Lobgesangs der Maria zur alttestamentlichen Tradition der Psalmen und des Lobgesangs der Hanna. Es gibt bei Lukas also nicht nur einen männlichen Stammbaum von Joseph bis Adam (Lk 3), sondern eine „Abstammung“ aus einer Glaubenstradition, die Lukas über die verwandtschaftliche Linie der Frauen (Elisabeth als Verwandte Marias) und der Frauen innerhalb der Heilsgeschichte zieht. Und diese enthält das prophetisch-sozialkritische Element der Umkehrung der Verhältnisse von Starken und Schwachen, Hungernden und Reichen. Während Maria in der sog. Weihnachtsgeschichte des Lukas nichts sagt und „alle diese Worte in ihrem Herzen behält“, wird sie hier in die prophetische Tradition eingezeichnet. Die Mutter Jesu ist selbst eine Prophetin. Dazu passt aus meiner Sicht auch, dass die Verse des Lobgesangs so aufgebaut sind, dass die die Verhältnisse umkehrende Kraft Gottes zunächst Maria selbst widerfährt und sie diese dann als Wesen und Wirken Gottes in der Welt ankündigt. Dazu passt auch der erste Satz der Perikope: „Maria aber stand auf in diesen Tagen.“ – und lässt darin durchaus eine doppelte Botschaft hörbar werden.

2. Thematische Fokussierung

Umkehrung der Verhältnisse – die Machthaber von den Thronen stoßen und die Niedrigen hoch erheben. Die Perikope mündet in eine revolutionäre Ankündigung. Sie durchzieht die biblische Heilsgeschichte. Ich finde nachvollziehbar, dass dies der Fokus der Exegese ist und schließe mich ihr an. Damit wird von Beginn an die Zielsetzung göttlichen Handelns deutlich. Dessen Kraft, weltumspannende und politische Dimension. Alles erscheint kraftvoll in diesen Versen – der Entschluss Marias aufzustehen, die Reaktion der Elisabeth und die ihres ungeborgenen Kindes und das Gotteslob Marias. Alles wirkt eindeutig in diesen Versen – das Bekenntnis der Elisabeth zu der „Mutter meines Herrn“, die selbst zugeschriebene Niedrigkeit der Maria und die Gewissheit, dass Gott der Retter ist, dessen Erbarmen durch die ganze Geschichte hindurch besteht. Mit dieser Eindeutigkeit taucht aber noch etwas anderes auf: Das Wirken Gottes in der Welt stellt die Machtfrage. Nur in Verbindung mit der Frage nach der Macht ist die Umkehrung der Verhältnisse und ist Gerechtigkeit praktizierbar. Das Magnifikat ist schon zu Beginn der Christentumsgeschichte realistisch. Wichtig erscheint mir, den revolutionären Gedanken nicht auf den bloßen Dienstcharakter und das soziale Engagement – das keinesfalls infrage gestellt werden soll – einzugrenzen. Es geht nicht nur darum, dass die Armen satt werden. Denn das scheint nur dann dauerhaft möglich, wenn die Reichen leer ausgehen. Wenn sich also die Regeln der Verteilung und der wirtschaftlichen und politischen Arrangements einer Gesellschaft grundsätzlich ändern. Ich finde das die wichtige Einsicht in diesem Revolutionslied: Es sind die Verhältnisse, die sich so ändern müssen, dass es keine die Armut befördernden Strukturen mehr gibt. In dieser Weise ist der Text längst in der Befreiungstheologie und in der feministischen Theologie interpretiert worden.

Was in der Auslegungstradition der Marienfrömmigkeit und Adventsstimmung kaum in Blick kommt – dass der Lobgesang ein aggressives Moment hat. Wer einen vom Thron „herunterreißt“, der wird handgreiflich.

Dass es zwei Frauen sind, denen Lukas diese Machtkritik in den Mund legt, steht ebenfalls für eine Umkehrung von Verhältnissen, in denen Frauen eben keine politische Rede halten und öffentlich Machtkritik üben konnten. Auslöser für das Revolutionslied ist eine Gotteserfahrung: es ist die Menschwerdung Gottes. Das von Maria und Elisabeth gepriesene Erbarmen gründet in der Erfahrung, dass der erwartete Retter nicht über den menschlichen Verhältnissen steht, sondern in sie hinein geboren wird.

3. Theologische Aktualisierung

Vom „backlash“ (Gegenreaktion) ist seit einigen Jahren vermehrt die Rede. Damit ist gemeint, dass errungene Gleichberechtigung (nicht nur, aber vor allem von Frauen und Männern) eine Gegenreaktion hervorruft und reaktionäre politische Kräfte entstehen. Mittlerweile wird der backlash vor allem im Zusammenhang von Antifeminismus und dem Wiedererstarken einer sog. hegemonialen Männlichkeit diskutiert. Der jüngste Machtdiskurs schließt daran an und ist längst zu einer der kulturellen Streitdebatten geworden: die Kritik am Gender-Sternchen. Mehrere Bundesländer haben dessen Nutzung und damit das Bestreben nach einer gendersensiblen Sprache in Behörden und Schulen verboten. Diese Schreibweise wäre nicht bürgernah und verständlich, sondern eine ideologisch geprägte Sprache; stattdessen sollen die weibliche und männliche Form gewählt werden. Immerhin wird das, was vor Jahren ebenfalls für den Rede- und Schreibfluss als störend empfunden wurde, nämlich die weibliche Form hinzuzufügen (und sie nicht nur „mitzumeinen“), mittlerweile behördlich akzeptiert. Gleichzeitig bleibt auch das jüngste Verbot Zeichen eines paternalistischen Verhaltens, das Menschen unterstellt, sie könnten die Bedeutung des Gendersternchens nicht verstehen. 

Die bleibende faktische Ungleichheit von Männern und Frauen geht natürlich noch darüber hinaus. Armutsberichte bestätigen jährlich, dass das Armutsrisiko von Frauen, insbesondere von Alleinerziehenden höher ist als das von Männern. Im Alter ist das Armutsrisiko von Frauen ebenfalls höher als das von Männern. Nehme ich die sozialkritische Perspektive der Perikope ernst, dann kann meine theologische Aktualisierung nicht ohne eine gesellschaftspolitische Aktualisierung stattfinden. Die adventlich-besinnliche Atmosphäre weicht einer Deutlichkeit und Klarheit, mit der die Zahlen, Daten und Fakten die Zustände des Sozialen sichtbar machen. Maria und Elisabeth – die ganz junge und die alte Frau – heute wie damals als Frauen stark und dennoch in ihrer sozialen Rolle innerhalb der Gesellschaft besonders gefährdet. Was ich besonders interessant finde: Lukas hebt in dem Lobgesang in einem ersten Teil die Bedeutung Marias hervor; im zweiten Teil weitet er die Perspektive. Maria wird zur Ikone und Kultfigur. Aber was sie und wen sie verkündet hat weltweite Macht. Bei Lukas ist sie real und nicht nur ideal. Maria reiht sich ein in die Reihe derjenigen (wenigen) Frauen, die Gott als Streiterin für eine andere Macht selbst ermächtigt. Wie lässt sich das theologisch aktualisieren? Indem man die Reihe der ermächtigten Frauen fortsetzt, ihre Stimmen auf diese Weise lauter werden und der Machtanspruch Gottes weiblich Gestalt gewinnt.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Zusammenhang des Textes mit der Stellung im Kirchenjahr als Predigttext am 4. Advent verdankt sich des Tons der Freude und des Jubels, der an diesem Sonntag so nahe am Heiligabend schon vorbereitend angestimmt werden soll. Nimmt man den Bibeltext ernst und lässt sich davon leiten, dann ist es ein lauter Jubel und ein kämpferischer. Damit wird die adventliche Erwartungshaltung unbescheiden und drängend und so vielleicht weniger bürgerlich relativiert. Gleichzeitig gibt sie eine Klarheit an die Hand: Der Retter, der kommt, bringt einen Frieden, der auf Gerechtigkeit aufbaut. Die Freude kann konkret werden an Beispielen, an denen sichtbar wird, wie und wo für gerechte Verhältnisse heute gestritten wird.

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Feldmeier (Einführung und Exegese)
  • Dr. Melanie Beiner (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500079

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