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Lukas 13,(1-5)6-9 | Buß- und Bettag | 20.11.2024

Einführung in das Lukasevangelium

1. Verfasser

Das dritte Evangelium ist das einzige, dessen Verfasser in der ersten Person Singular auf sich als Autor verweist (Lk 1,3), allerdings nennt er nicht seinen Namen, sondern nur den seines Adressaten Theophilus. Er ist kein Augenzeuge, sondern in seinem Zeugnis von solchen abhängig (Lk 1,2). Der erstmals in der inscriptio von P75 ca. ein Jahrhundert nach der Abfassung des Evangeliums genannte Name Lukas, der etwa zur gleichen Zeit auch bei Irenäus bezeugt wird (Adv Haer III,1,1), könnte fiktiv sein, wenngleich er sich im Unterschied zu ‚Matthäus‘ oder ‚Johannes‘ weniger für eine Fiktion nahelegt, da sich mit ihm keine unmittelbare apostolische Autorität reklamieren lässt. Der ebenfalls in das späte zweite Jahrhundert zu datierende Kanon Muratori identifiziert den Verfasser aufgrund der „Wir-Passagen“ in der Apostelgeschichte mit dem in Phlm 24 und 2 Tim 4,11 genannten Paulusbegleiter und dem in Kol 4,14 genannten Arzt Lukas. Bleibt letzteres unsicher, so gewinnt die Annahme, dass es sich um einen Paulusbegleiter handeln könnte, wieder an Zustimmung (vgl. Wolter 8). Wurde früher oft angenommen, dass er wegen fehlender Kenntnisse Palästinas, des Vermeidens semitischer Begriffe und seiner Zurückhaltung gegenüber der Sühnevorstellung Heidenchrist gewesen sein müsse (vgl. Fitzmyer 42-47), so wird heute aufgrund der genauen Kenntnis der griechischen Übersetzung des Alten Testaments sowie jüdischer Interna (Lehrdifferenzen zwischen Sadduzäern und Pharisäern), aber auch wegen seines Interesses an der Israelfrage häufig angenommen, dass er Jude war (vgl. Smith: Luke). Die Verbindung von biblischem und hellenistischem Denken, das Desinteresse an der Gesetzesfrage und die Rolle der „Gottesfürchtigen“ in der Apostelgeschichte machen es jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich, dass Lukas aus dem Kreis der „Gottesfürchtigen“ stammt, Sympathisanten der Synagoge, die wegen des Verlustes der gesellschaftlichen Beziehungen, den Beschneidung und das Einhalten der Reinheitsgebote nach sich zogen, den Übertritt zum Judentum nicht vollziehen wollten / konnten. Damit ließe sich die „doppelte kulturelle Identität des Verfassers“ am ungezwungensten erklären (Marguerat 33; Bovon I, 22); Lukas stünde „nicht nur theologisch, sondern auch biographisch zwischen Judentum und Hellenismus“ (Kraus 244).

2. Adressaten

Die Anrede an Theophilus als einen in der christlichen Überlieferung Unterwiesenen (Lk 1,4) zeigt, dass sich Lukas an Christen richtet. Aber sein Bemühen, als „Evangelist der Griechen“ (Wiefel 4) seine Botschaft in den kulturellen Kontext der griechisch-römischen Welt zu übersetzten, lässt vermuten, dass er sein Werk auch als eine zur werbenden Weitergabe an Nichtchristen geeignete Schrift angelegt hat. Paradigmatisch dokumentiert das die - zumindest in der vorliegenden Form von Lukas verfasste - Areopagrede (Apg 17, 22–32), das „Muster einer Missionsrede an Gebildete“ (Harnack 391).

3. Datierung

Die Datierung schwankt – von einer Frühdatierung um 60 n.Chr. bis weit ins 2. Jahrhundert hinein. Die deutliche Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger nimmt als frühesten Zeitpunkt die Zerstörung Jerusalems an, auf die das Evangelium zurückblickt (vgl. Lk 21,20–24 mit Mk 13,14–20; Lk 19,43f) und bestimmt den spätesten Zeitpunkt von der Apostelgeschichte her, deren Paulusbild gegenüber dem Paulus der Briefe hagiographisch überhöht ist. Da die relativ wohlwollende Darstellung der römischen Herrschaft nicht so recht in die Spätzeit Domitians mit dessen übersteigertem Herrscherkult seit Beginn der 90er Jahre passt (vgl. Johannesoffenbarung), Lukas die Sammlung der Paulusbriefe noch nicht zu kennen scheint und die Front gegenüber dem Judentum nicht so verhärtet ist wie bei Matthäus, wird das Doppelwerk meist zwischen 75 und 90 verortet. Ein nicht allzu spätes Abfassungsdatum legt sich auch nahe, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Lukas Begleiter des Paulus gewesen sein könnte.

4. Entstehungsort

Ungenaue Kenntnis der geographischen Verhältnisse Palästinas und abnehmendes Interesse an jüdischen Bräuchen machen eine Herkunft aus dem im jüdischen Stammland unwahrscheinlich; aufgrund diverser Angaben in der Apostelgeschichte werden vor allem Antiochia, Cäsarea, Rom und Philippi vermutet; keine Annahme konnte sich bislang überzeugend durchsetzen.

5. Theologisches Zentrum: Gott

In der längsten Zusammenfassung der Jesusvita außerhalb der Evangelien Apg 10,37-43 wird Jesus einmal genannt, Gott fünfmal. Diese Theozentrik ist Programm und bestimmt das ganze Doppelwerk, wie schon die Statistik zeigt: Das Appellativum θεός (das sich jeweils bis auf wenige Ausnahmen auf den biblischen Gott bezieht) findet sich bei Markus 48mal, bei Matthäus 51mal und bei Johannes 83mal, im lukanischen Doppelwerk aber 290mal (Evangelium 122, Apostelgeschichte 168); hinzu kommt der namensäquivalente Gebrauch von Gottesepitheta wie „Herr“, „Höchster“, „Mächtiger“, „Retter“ oder „Gebieter“. Zudem wird der göttliche Machtbereich entschiedener als in den anderen Evangelien als „heilig“ abgesetzt – das Adjektiv ἅγιος findet sich 7mal bei Markus, 10mal bei Matthäus und 5mal bei Johannes, im Doppelwerk aber 73mal. Zentrales Thema des Lukasevangeliums ist also Gott – der Gott, den Jesus von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater anruft. Die göttliche Vaterschaft ist nicht nur Zentrum seines Betens (Lk 11,2-4.11-13; 22,42), sondern auch seines Selbstverständnisses (Lk 10,21f), seiner Ethik (Lk 6,35f) und seiner Verkündigung (Lk 15,11-32). Dessen Barmherzigkeit, programmatisch in den Lobgesängen des Anfangs gepriesen (Lk 1,50.54.72.78), bestimmt Jesu Worte, Werke und sein Verhalten. Weil dieser Gott als „Akteur im Hintergrund“ (Schmidt) alles durch „den festgesetzten Willen und das Vorauswissen“ lenkt (Apg 2,23), ist auch in Jesu scheinbarem Scheitern nur das geschehen, „was seine Hand und Wille zuvor festgesetzt hat“ (Apg 4,28). Indem so Gottes „mitleidende Barmherzigkeit“ denen, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen, den Morgenglanz seiner Ewigkeit aufstrahlen ließ (Lk 1,78f) wurde inmitten allen Unheils jenseits von Eden Heilsgeschichte möglich, wurde „die Tür zum schönen Paradeis“ wieder aufgeschlossen (EG 27,6 vgl. Lk 23,43).

6. Besonderheit: Die Hermeneutik der Doppelkodierung

Lukas entstammte der gebildeten Schicht der hellenistischen Welt. Entsprechend sein Bemühen, die christliche Botschaft als ein Angebot für Gebildete darzubieten, das sich in konzentrierter Form in der bereits erwähnten Areopagrede des Paulus zeigt, in deren semantischer Ambivalenz sich sich wie in einem Brennglas die lukanische Hermeneutik der Doppelkodierung spiegelt: Zum einen wird das christliche Zeugnis an die biblische Überlieferung zurückgebunden und in deren Licht gedeutet, zugleich aber profiliert Lukas seinen zweigeteilten „Bericht“ im ständigen Dialog mit den Bildungstraditionen seiner Zielgruppe in der hellenistischen Welt (vgl. M.Becker: Dion). So werden gerade die markanten Besonderheiten des Doppelwerks vom Magnifikat über die Weihnachtsgeschichte, die Kindheitsgeschichte, die Darstellung des Täufers, die Ethik einer imitatio Dei, die Tischreden bis hin zu den Passions- und Ostererzählungen so dargeboten, dass sie aus doppelter Perspektive plausibilisiert werden. So verweist die auf das Leiden und Sterben erfolgende Himmelfahrt auch terminologisch auf die frühjüdische Eliatradition (vgl. 2 Kön 2,9.10.11; Sir 48,9; 1 Makk 2,58), aber mit überraschender Deutlichkeit eben auch auf Herakles, der als „Retter (σωτήρ) der Erde und der Menschen“ (Dion or. 1,84) nach seinem Sterben, bei dem er den „Vater“ gebeten hat, seinen Geist zu sich aufzunehmen (vgl. Ps._Seneca: Hercules Oeteus 1695.1703f mit Lk 23,46), vom „allmächtigen Vater“ im „Vierrossegespann“ nach oben „entrafft“ und „unter die strahlenden Sterne versetzt“ (Ovid: Met. IX,271f), also vergöttlicht wurde. Diese Doppelkodierung reicht bis in das Gottesverständnis: So wird die Verbindung von Gott und Leben als Inbegriff der biblischen Gottesoffenbarung vom lukanischen Jesus deutlicher unterstrichen als in seinen Vorlagen (Lk 20,36.38 vgl. E.-M. Becker), zugleich aber betont der lukanische Paulus im Anschluss an die stoische Religionsphilosophie dieselbe Verbindung als Charakteristikum der paganen Gottesahnung (Apg 17,25.28), wobei er sogar zustimmend einen paganen Zeushymnus zitieren kann (Apg 17,28), zugleich aber die Religiosität der gebildeten ‚Heiden‘ durch Bezug auf die Auferstehung eingemeindet (Apg 17,31 vgl. 17,18).

Literatur:

  • Eve-Marie Becker: Wie Lukas über den ‚Gott der Lebenden‘ spricht und für den sachkundigen Leser Geschichte schreibt. Lk 20,27-40 par. Mk 12,18-27 im Vergleich; in: J.Dochhorn, R.Hirsch Luipold, I.Tanaseanu Döbler: Über Gott. FS Reinhard Feldmeier, Tübingen 2022, 207-222.
  • Matthias Becker: Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse, SCCB 3, Paderborn 2020.
  • F. Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1-3, Neukirchen-Vluyn/Zürich 20193
  • Joseph Fitzmyer: The Gospel According to Luke I-IX: Introduction, Translation, and Notes (The Anchor Bible, Vol. 28).
  • Adolf von Harnack: Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 19244.
  • Wolfgang Kraus: Lukas: Urchristlicher Schriftsteller zwischen Judentum und Hellenismus, in: Christoph Barnbrock / Werner Klän (Hgg.): Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V.Stolle, ThFW 12, Münster 2005.
  • Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 2022.
  • Joshua Paul Smith: Luke Was Not A Christian: Reading the Third Gospel and Acts within Judaism; BIS 218, Leiden 2023.
  • Karl Matthias Schmidt: Akteur im Hintergrund. Anmerkungen zur Anwesenheit der Erzählfigur „Gott“ in der lukanischen Kindheitserzählung, in: Eisen, U. E. / Müller, I. (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016, 295-320.
  • Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig 1988.
  • M. Wolter: Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008.

A) Exegese kompakt: Lukas 13,1-9

1Παρῆσαν δέ τινες ἐν αὐτῷ τῷ καιρῷ ἀπαγγέλλοντες αὐτῷ περὶ τῶν Γαλιλαίων ὧν τὸ αἷμα Πιλᾶτος ἔμιξεν μετὰ τῶν θυσιῶν αὐτῶν. 2καὶ ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτοῖς· δοκεῖτε ὅτι οἱ Γαλιλαῖοι οὗτοι ἁμαρτωλοὶ παρὰ πάντας τοὺς Γαλιλαίους ἐγένοντο, ὅτι ταῦτα πεπόνθασιν; 3οὐχί, λέγω ὑμῖν, ἀλλ’ ἐὰν μὴ μετανοῆτε πάντες ὁμοίως ἀπολεῖσθε. 4ἢ ἐκεῖνοι οἱ δεκαοκτὼ ἐφ’ οὓς ἔπεσεν ὁ πύργος ἐν τῷ Σιλωὰμ καὶ ἀπέκτεινεν αὐτούς, δοκεῖτε ὅτι αὐτοὶ ὀφειλέται ἐγένοντο παρὰ πάντας τοὺς ἀνθρώπους τοὺς κατοικοῦντας Ἰερουσαλήμ; 5οὐχί, λέγω ὑμῖν, ἀλλ’ ἐὰν μὴ μετανοῆτε πάντες ὡσαύτως ἀπολεῖσθε.

6Ἔλεγεν δὲ ταύτην τὴν παραβολήν· συκῆν εἶχέν τις πεφυτευμένην ἐν τῷ ἀμπελῶνι αὐτοῦ, καὶ ἦλθεν ζητῶν καρπὸν ἐν αὐτῇ καὶ οὐχ εὗρεν. 7εἶπεν δὲ πρὸς τὸν ἀμπελουργόν· ἰδοὺ τρία ἔτη ἀφ’ οὗ ἔρχομαι ζητῶν καρπὸν ἐν τῇ συκῇ ταύτῃ καὶ οὐχ εὑρίσκω· ἔκκοψον [οὖν] αὐτήν, ἱνατί καὶ τὴν γῆν καταργεῖ; 8ὁ δὲ ἀποκριθεὶς λέγει αὐτῷ· κύριε, ἄφες αὐτὴν καὶ τοῦτο τὸ ἔτος, ἕως ὅτου σκάψω περὶ αὐτὴν καὶ βάλω κόπρια, 9κἂν μὲν ποιήσῃ καρπὸν εἰς τὸ μέλλον· εἰ δὲ μή γε, ἐκκόψεις αὐτήν.

Lukas 13:1-9NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

1 Es waren aber zu diesem Zeitpunkt welche anwesend, die ihm von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte.

2 Und er antwortete, indem er ihnen sagte: „Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder waren als alle [anderen] Galiläer, weil sie das erlitten haben?

3 Nein, sage ich euch, sondern: Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso umkommen.

4 Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete – meint ihr, dass sie schuldiger waren als alle [anderen] Menschen, die Jerusalem bewohnen?

5 Nein, ich sage euch: sondern wenn ihr euch nicht umorientiert, werdet ihr alle ebenso umkommen.“

6 Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: „Es hatte einer einen Feigenbaum, gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam, um Frucht darauf zu suchen und fand keine.

7 Da sprach er zu dem Weingärtner: ‚Siehe, drei Jahre [sind es nun schon], seit ich komme, um Frucht zu suchen an diesem Feigenbaum und finde keine. Hau ihn nun ab!

Was nimmt er dem Boden die Kraft?‘ 

8 Der aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, während ich um ihn grabe und ihn dünge;

9 vielleicht bringt er in Zukunft Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.‘“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Das Schlüsselwort in diesem Text ist μετανοεῖν in V.5. Die traditionelle Übersetzung mit ‚umkehren‘, ‚Buße tun‘ bringt nur unzureichend zum Ausdruck, dass es sich um ein Derivat von νοῦς handelt, das Verstand, Vernunft bedeutet. Es geht also um ein Umdenken, um die Neuorientierung der Daseins- und Handlungsorientierung.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der Text ist ein Lehrgespräch, bei dem Jesus von anderen um eine Stellungnahme gebeten wird, die er dann in Form einer autoritativen Antwort gibt. Die Besonderheit besteht hier darin, dass Jesus nach der Zurückweisung der bei seinen Gesprächspartnern vorausgesetzten Deutung seine eigene Position in Form eines Gleichnisses gibt. Dies erlaubt ihm durch die beiden hier auftretenden Protagonisten, statt einer einfachen Antwort die Zuhörer auf ihre eigene Verantwortung zu verweisen. Im Anschluss an die vorangegangene Diskussion sowie aufgrund der ‚sprechenden Metaphern‘ vom Baum, seinen Früchten und dem Weinbergbesitzer, der keine Frucht findet (vgl. Jes 5) lädt die Bildrede zur allegorisierenden Übertragung der Einzelzüge ein: Im Besitzer kann man Gott sehen, im Baum die Menschen, die keine ‚Früchte der Umkehr‘ bringen, in der Fürbitte des Gärtners die Intervention Christi. Gemeinhin wird das Gleichnis auf Israel bezogen, aber das ist nicht zwingend.

3. Historische Einordnung

Die beiden von den Gesprächspartnern und von Jesus erwähnten Katastrophen sind anderweitig nicht bezeugt, was allerdings angesichts der vielen verlorene gegangenen antiken Quellen nicht notwendig gegen die Historizität der Ereignisse spricht.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Bei Krankheiten und anderem Unglück zeigt sich immer wieder das fatale Bedürfnis, sich von fremdem Unglück dadurch zu dispensieren, dass man die Betroffenen selbst dafür verantwortlich macht, gerne auch mit religiöser Begründung. Diesen Mechanismus setzt Jesus offensichtlich bei seinen Hörern voraus und widerspricht ihm. Dabei lehnt er nicht jeden Zusammenhang zwischen Leid und Schuld ab. Im Unterschied zu der in den heutigen westlichen Gesellschaften verbreiteten grundsätzlichen Bestreitung einer Interdependenz zwischen Schuld und Schicksal bezieht er beides durchaus aufeinander, lehnt aber mit einem schroff vorangestellten „Nein“ jeden Versuch ab, den vom Unglück Betroffenen ein besonderes Verschulden zuzusprechen (und sich damit selbst von Schuld zu entlasten). Stattdessen unterstreicht er, dass alle an einem universalen Schuldzusammenhang teilhaben und deshalb auch von allen ein Sinneswandel samt entsprechender Lebensänderung verlangt wird, wenn sie nicht ein vergleichbares Schicksal erleiden wollen. Diese Argumentation wird von Jesus zunächst durch ein weiteres Beispiel verstärkt, um dann seine Forderung einer generellen Umkehr durch das anschließende Gleichnis noch zu unterstreichen. Dessen Pointe besteht im Widereinander von Weinbergbesitzer und Gärtner, welche die beiden möglichen Konsequenzen vertreten: Die sofortige Vernichtung aufgrund des doppelten Versagens (der Baum laugt den Boden aus und bringt keine Frucht) oder der noch einmal gewährte Aufschub als Chance zur Bewährung.

5. Theologische Perspektivierung

Die Argumentation Jesu ist bestimmt von der Spannung zwischen der unerwartet eingeräumten Gnadenfrist, die noch Rettung möglich macht, und der weiter bestehenden Forderung nach der Frucht, für die es, wie dann Lk 13,22-30 näher ausführt, auch ein „zu spät“ gibt. Die aktuellen Krisen (Klimaerwärmung, Kriege, Terror, Flüchtlingsströme, politische Radikalisierungen) lassen solche Mahnungen des Neuen Testament auch in unseren in mancherlei Hinsicht gemäßigten Breiten wieder aktueller erscheinen als in den letzten 80 Jahren. Immer mehr wird deutlich, dass sich ein bloßes ‚Weiter so‘ verbietet. Umdenken ist zur Überlebensfrage geworden. Die eingeräumte Gnadenfrist ist wie im Gleichnis Jesu auch eine Galgenfrist. So wird man gerade am ‚Buß- und Bettag‘ die Spannung offenhalten, die in dieser Erzählung auf deren zwei Protagonisten verteilt wird: Es gibt einen, der nach den ‚Früchten‘ abrechnet, aber es gibt auch einen Fürsprecher.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Für die Predigt kann zunächst die Vorstellung relevant sein (V. 5), dass Jesus eine Art Drohung oder zumindest eine bedrohliche Prognose ausspricht. Dazu passt dann die Perspektive auf das Abhauen des Feigenbaums im Gleichnis, das ja ebenfalls in einen zeitlichen Horizont gestellt wird. Zu fragen wäre: Inwiefern kommt mir das bekannt vor oder inwiefern kann ich solche Perspektiven irgendwie aus eigener Erfahrung nachvollziehen? Wer etwas Falsches tut, wird bestraft – das ist aus dem Straßenverkehr bekannt. Denkt man konkret an Umorientierung und Umkommen (V. 5 formuliert im Plural), dann drängt sich vielleicht das Thema Klimakrise auf. Im Gleichnis begegnet zudem auch noch das für alle möglichen Lebenslagen grundsätzlich anschlussfähige Thema der Veränderung: Heute noch keine Frucht, womöglich aber in Zukunft – das kann persönlich so unterschiedliche Aspekte betreffen wie den Umgang mit dem eigenen Körper und der Gesundheit (Abnehmen, Sport machen usw.) oder mit dem Zusammenleben in Beziehungen (aus einer Krise der Partnerschaft herauskommen). Wie aber sieht das mit dem Umkommen und dem Abgehauenwerden aus? Soll der ,echte‘ Tod gemeint sein oder reicht eine Deutung aus, die darauf abhebt, dass irgendwann Chancen vertan und Möglichkeiten verspielt sind?

2. Thematische Fokussierung

Der Text spricht mit dem Verhältnis von Tun und Ergehen ein lebensweltlich wichtiges Thema an. Allerdings ist auffällig, dass im ersten Teil (V. 1–5) zwei Vorkommnisse genannt sind, die eine gewissermaßen höchst äußerliche Bedrohung darstellen. Dabei ist die argumentative Tendenz nicht ohne weiteres zu verstehen: Wenn Pilatus irgendwelche Menschen unrechtmäßig getötet hat, inwiefern könnte das überhaupt sinnvollerweise für die Formulierung einer Drohung herangezogen (schärfer: instrumentalisiert) werden? Sollte das als gerechte Strafe gedeutet sein? Damit würde man doch wohl an unseren heutigen Standards scheitern. Und auch der todbringende Unfall: Was hat das mit Schuld zu tun? Die Äußerlichkeit beider Vorfälle ist jedenfalls nicht günstig, um das Verhältnis von Umorientierung und Folge zu reflektieren. Dabei ist vor allem zu bedenken: Wovon und wohin und weshalb umorientieren? Was wurde oder wird denn noch falsch gemacht und worin soll die Veränderung bestehen? Hier wird nichts (!) dazu gesagt. Hoffentlich übernimmt die Predigt nicht einfach diese Vokabel als selbstverständlich, denn sie ist es mitnichten – und dabei ist sie in (in weitestem Sinne) politischer Hinsicht sensibel (Umorientierung kann auch ,Gehirnwäsche‘ usw. bedeuten).

Auch das Bild vom Feigenbaum bringt Probleme mit sich: Ist der Lebensweg der Menschen mit natürlichem Wachstum und entsprechender ,Störung‘ vergleichbar, so dass man mit allem sachlichen Recht Frucht erwarten kann und der Baum ohne Frucht seinem sozusagen natürlichen Zweck nicht entspricht? Aber auch hier wirft nicht nur die Abstraktheit Fragen auf: Welche Frucht soll ich denn bringen? Und wie sieht denn mein Abgehauenwerden – heute! – aus? Wird hier der Mund nicht zu voll genommen? Was ist mit nicht nur konfessionsloser (Hans-Martin Barth), sondern auch fruchtloser Glücklichkeit? Oder wäre Frucht auch Glück?

3. Theologische Aktualisierung

Der Jesus dieser Perikope ist auffällig und wohl für die meisten heutigen Ohren auf befremdliche Weise streng oder hart. Dabei stellt die Möglichkeit einer im weitesten Sinne ethischen Deutung noch die wenigsten Probleme dar, wie insbesondere im Blick auf den ersten Teil und das Beispiel der Klimakrise ersichtlich werden kann. Hier ließe sich die Härte ja auch ermäßigen, wenn es nicht unbedingt um ein Umkommen im gewöhnlichen Sinne gehen würde, sondern um die inneren Tode oder das innere Sterben – also im Sinne einer Verarmung unserer Seele oder eines Kaltwerdens unseres Herzens oder einer Erkrankung unseres Zusammenlebens. Das ist alles recht eingängig. Nur: Wo bleibt der – im Text explizit ja auch überhaupt nicht begegnende – Glaube? Denkt jemand hier an eine Umorientierung des Gottesverhältnisses und eine entsprechende ,Schuld‘? Wie wären hier und heute (!) die Vergehen zu beschreiben, und wie wäre eine entsprechende Bedrohung zu benennen? Was fehlt dem Menschen an Gott, der sich nicht zu Gott hinwendet?

Spätestens dann fällt endlich auch auf: Können wir dieser Forderung so einfach nachkommen (wenn man so will: Verhältnis zwischen meinem Fehlen und dem, was mir fehlt)? Wird hier zu Recht gefordert? Die große Frage nach Indikativ und Imperativ (oder Zuspruch und Anspruch) stellt sich: Kann ich können, nur weil ich soll (Kant)? Oder muss erst gegeben werden und bestünde die Pointe einer entsprechenden Gesetzespredigt dann in einer Art usus elenchticus? In dieser Perspektive stellt sich auch die Frage nach der Konsequenz gegenüber dem Feigenbaum. Vielleicht wurde der Baum nicht genug gegossen, war es zu sonnig oder er war von einem Pilz befallen? Oder wäre solches Nachfragen nur der Versuche, sich aus der Verantwortung zu stehlen – einer oft ja so betonten Ver-Antwortung, gerade auch gegenüber unserem uns anredenden und stets schon angesprochen habenden Gott?

Wichtig bleibt aus dem ersten Teil: Gegenüber dem Blick auf irgendwelche anderen Menschen wendet Jesu Blick sich auf diejenigen, die auf den Tod solcher anderen Menschen zunächst nur von außen und nachträglich blicken – und führt damit sie und ihr Leben und ihre Zukunft in das Zentrum. Hier gilt: Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Menschen! Und das schon gar nicht von der Kanzel. Wer von Schuld spricht, spricht von Schuld als Schuld als von einer jeweils eigenen. Und wo Menschen so sterben, dass wir in der Zeitung von einem Unglücksfall lesen würden, gibt es kein sinnvolles Recht, von externer Warte aus auf das Gottesverhältnis der Betroffenen zu spekulieren. Aber wenn Sünde zu Recht als eine aversio a deo gelten kann, dann lassen sich die Folgen aus ihr selbst und an ihr selbst aufweisen.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Text ist Predigttext für einen heute als kirchenjahreszeitliche Kasualie begangenen Buß- und Bettag und er passt zu dem von diesem Termin her vorgegebenen Thema: Bußkultur meint Selbstprüfungskultur – zunächst reicht auch (,niederschwellig‘): Selbstreflexivität, Nachdenklichkeit, Selbstbesinnung. Wenn man so will: Ein Feiertag zur Arbeit nicht direkt an einer eigenen Schuld, aber an der eigenen Schuldfähigkeit. Erinnert sei an Ps 19,13.

5. Anregungen

Zunächst seien zwei persönliche Assoziationen zum Feigenbaum genannt: Zum einen denke ich an die heute verstärkt wahrgenommene Bedeutung des sogenannten Totholzes in der Forstwirtschaft, und zwar insbesondere auch des noch stehenden Totholzes, also nicht erst des geschlagenen, aber liegengelassenen Baumes. Dieses Totholz ist sogenanntes Totholz, weil man es als außerordentlich wichtigen Lebensraum schätzt. Die Perspektive des Textes, die im Kontext eines anders gelagerten, nämlich im weitesten Sinne wirtschaftlichen Interesse  an der Frucht des Baumes besonders einleuchtet, leuchtet auch weiterhin durchaus ein – dieser Baum soll eben Früchte bringen und enttäuscht, wenn er sie nicht bringt. Aber man kann ins Erwägen kommen über die Herausforderung einer entsprechenden Diagnose. Zitieren wir, wenn es um den Glauben geht, nicht für gewöhnlich „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an“ (1Sam 16,7) – wie verhält sich das zu den Früchten eines Baumes (eingedenk auch von Mt 7,16)?

Ob der Seitenblick in den Wald dazu dienlich ist – der zumindest gedankliche Seitenblick auf das botanische und das menschliche Leben kann wichtig werden. In diesem Kontext erinnere ich mich zum anderen an eine us-amerikanische Redensart, die ebenfalls das Verhältnis von menschlicher und pflanzlicher Natur betrifft – ich kenne sie aus der Diskussion der Todesstrafe (!) und im Kontext der Frage einer dann gleichsam (euphemistisch zuspitzend gesprochen) präventiven Pädagogik (man denke an: ,Baumschule‘) vorgebracht: „If you can’t straighten them, chop them!“ (in etwa: „Wenn du sie nicht aufrichten kannst, dann hacke sie ab!“) Das angesprochene Problem im Verhältnis von Anspruch und Zuspruch ließe sich für den Schluss der Predigt so fruchtbar machen, dass sie im Gebet mündet.

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Feldmeier (Einführung und Exegese)
  • Dr. Johannes Greifenstein (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500073

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