Deutsche Bibelgesellschaft

Andere Schreibweise: Esther; Estherbuch

(erstellt: Dezember 2006)

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Ester ist der Titel eines Buches des Alten Testaments und zugleich einer von zwei Namen der Protagonistin (→ Frauen in der Literatur des AT 7.4 und 10.2).

1. Name

Der Name Ester (hebr. אֶסְתֵּר ’æster) ist vermutlich von der babylonischen Göttin → Ischtar oder dem altiranischen Wort *star- „Stern“ abzuleiten. Die → Septuaginta schreibt Εσθερ Esther, die → Vulgata Hester. Esters hebräischer Name ist Hadassa (הֲדַסָּה hǎdassāh), eine Femininform von hebräisch הֲדַס hǎdas → „Myrte“.

2. Stellung im Kanon

In der Hebräischen Bibel gehört das Buch Ester zu den fünf → Megillot „Festrollen“, die im Kanonteil „Schriften“ stehen (→ Kanon). Es wird zum jüdischen Fest → „Purim“ (von hebräisch פּוּר pûr „Los“) gelesen, da es dieses Fest begründet. Im christlichen Kanon zählt das Buch Ester dagegen zu den Geschichtsbüchern.

3. Aufbau

Die Ester-Erzählung nimmt kein einmaliges historisches Ereignis in den Blick, sondern erzählt exemplarisch von struktureller Judenfeindschaft. Die zehn Kapitel umfassende Erzählung erweist sich als deutlich literarisch gestaltet. In der Ouvertüre, Kapitel 1 und 2, werden die handelnden Figuren König → Ahasveros (= Xerxes) und seine Frau → Wasti sowie Ester und ihr Cousin → Mordechai eingeführt. Im Hauptteil werden die beiden Protagonisten → Haman (Kapitel 3-7) und Ester (Kapitel 8-9) einander parallel gegenübergestellt. Der Schlussteil, Est 9,20-10,3, beinhaltet die Institutionalisierung des Purimfestes.

Die Erweiterungen der LXX-Fassung (s.u.) legt in Est 1,1 und Est 10,3 mit dem Traum des Mordechai und seiner Deutung einen Rahmen um die Erzählung.

4. Inhalt

Ester 2 k19
Das Buch spielt in Persien. Den Anfang des Esterbuches bildet eine Erzählung über eine Frau, die junge Königin Wasti am Hof von Susa, die sich ihrem Mann, König Ahasveros, verweigert. Die beiden Protagonisten des Buches, Ester und ihr Cousin → Mordechai, treten noch nicht auf. Auch das Thema des Buches, die Gefahr der Vernichtung, die der jüdischen Bevölkerung des persischen Großreiches durch ein Pogrom des Judenfeindes Haman droht, wird noch nicht erwähnt. Und doch gleicht der Anfang des Buches einer Ouvertüre, ohne die das Buch nicht zu verstehen ist.

Die Geschichte beginnt mit einer Machtdemonstration des persischen Königs Ahasveros. Dieser tritt als Herrscher des persischen Großreiches auf. Seinen Einfluss zeigt er wie die meisten der Herrschenden der damaligen Zeit durch große Feste und Paraden. So wird der Reichtum des Königs den Würdenträgern des Landes in einem ausgiebigen 180 Tage dauernden Fest geradezu zur Schau gestellt. Ein sieben Tage langes Fest schließt sich an, dessen Höhepunkt das Auftreten der schönen Königin Wasti sein sollte. Doch das Unerwartete passiert. Königin Wasti weigert sich zu erscheinen. Sie verteidigt ihre eigene königliche Würde, will sich nicht zum Objekt königlicher Macht degradieren lassen. So endet das Fest in einem Desaster für den König.

Auf den Rat der Weisen wird Wastis Verhalten zur Staatsaffäre erklärt: Ihre Weigerung zu erscheinen wird als Angriff auf den Herrschaftsapparat des Staates verstanden. Man fürchtet, dass die Frauen im persischen Reich über die Tat Wastis zu reden beginnen, sich gar ihr Verhalten zum Vorbild nehmen, so dass die Männer in den Augen der Frauen ihre Macht verlieren könnten. Ein Mann darf jedoch nach der in der antiken vorherrschenden Vorstellung seine Dominanz weder im Staat noch im Haus verlieren. Deshalb ist Wastis Auflehnung eine Staatsangelegenheit. Folge ist die Verstoßung Wastis, damit die Frauen im persischen Reich öffentlich daran erinnert werden, ihren Männern zu gehorchen. Die Machtdemonstration des Königs ist damit nicht nur eine königliche, hat nicht nur öffentlichen Charakter, sondern ist Vorbild für jeden Mann im Hause.

Ester 3 16Jh Farnese-Stundenbuch
Nachdem Wasti abgesetzt und verstoßen wurde, möchte sich der König eine neue Königin erwählen. Für zwölf Monate werden junge Frauen aus dem ganze persischen Reich an den königlichen Hof gebracht, der Pflege und Schönheitskuren unterzogen, um am Ende dem König für eine Nacht zur Verfügung zu stehen, damit er eine unter ihnen wählt. Die anderen sind für den königlichen Harem vorgesehen. Bei dieser reichsweiten Musterung schöner, junger Frauen fällt der Blick auch auf Ester, die als Pflegetochter bei ihrem Cousin Mordechai in Susa lebt.

Über Mordechai sagt die Erzählung, dass er in Susa im Königstor arbeitet. Die genaue Tätigkeit bleibt im Unklaren, doch gehört er zu den Beamten des persischen Staates im Dienst des Königs und hat es demnach als Jude im nicht-jüdischen Lebensumfeld zu einer beachtlichen Position gebracht. Ein Putschversuch, der ihm zu Ohren kommt, wird von ihm zu Fall gebracht, ein Verhalten, das im weiteren Verlauf der Erzählung noch eine wichtige, ja lebensrettende Rolle spielen wird. Mordechai und Ester gehören zu einer assimilierten jüdischen Diaspora in Susa. Sie gelten als Nachkommen jener Juden, die im 6. Jh. v. Chr. von Nebukadnezar aus Jerusalem ins Babylonische Exil verschleppt worden waren. Nun wird Ester ein zweites Mal verschleppt, und zwar in den Harem des persischen Königs, eines nicht-jüdischen Mannes.

Die Ester-Erzählung verdeutlicht die Problematik jüdischen Lebens in der Diaspora sehr anschaulich. Die Assimilation führt soweit, dass die eigene jüdische Identität verleugnet werden muss. Dies trifft auch auf Ester zu, die hier dem Rat ihres Cousins Mordechai folgt. Der fürchtet um Ester, er fürchtet die Judenfeindschaft, die später sichtbar wird, wenn er angezeigt wird, weil er Jude ist und Haman die Huldigung verweigert. Nahezu vollständige Assimilierung ist überlebensnotwendig. Spürbar wird das u.a. darin, dass im ganzen Buch Ester die charakteristischen Merkmale des jüdischen Glaubenslebens wie Speisegebote oder Gebete keine Rolle spielen.

Die Möglichkeiten jüdischer Assimilation erreichen jedoch in dem Moment ihre Grenzen, als Haman durch Förderung des Königs Ahasveros zum zweiten Mann im Staat gewählt wird. Er fordert öffentliche Unterwerfung ein. An der Exklusivität der Verehrung des einen Gottes zeigt sich jedoch der Glaube im Leben. Haman, Sohn Hammedatas, der Agagiter, wird der Gegenspieler Esters genannt. Das Beiwort „der Agagiter“ kennzeichnet seine politische Gesinnung. Denn Agag war der König von → Amalek. Amalek wiederum steht in der Bibel für die Feindschaft gegen Israel. Dieser politischen Gesinnung verweigert Mordechai, bedingt durch seine jüdische Identität, die öffentliche Huldigung, woraufhin er denunziert wird. Haman plant daraufhin, nicht nur Mordechais Leben auszulöschen, sondern alle Juden im persischen Großreich auszurotten.

Durch das Los legt Haman nach Genehmigung durch den König einen Tag fest, an dem er gegen die jüdische Bevölkerung des Reiches vorgehen will. In seiner Anklagerede beschreibt Haman, dass es der jüdischen Diaspora in seiner Zerstreuung gelinge, trotz allem ihre Identität als Volk zu bewahren. Er behauptet, dass der den Juden durch die Tora vorgewiesene Weg unvereinbar sei mit den Gesetzen und Herrschaftsinteressen des persischen Königs.

Trotz der starken Assimilation, in der das jüdische Volk lebt, trotz der Bereitschaft zur Kooperation mit den Herrschenden, setzt Haman in seiner Pogromschrift allein auf die Verschiedenheit des Judentums im Unterschied zu den Herrschenden des persischen Reiches.

Auch wenn die Estererzählung ein positives Ende nimmt, so ist es doch erstaunlich, wie sich Hamans Worte und Gründe gerade gegen das assimilierte Judentum durch die lange Verfolgungsgeschichte des jüdischen Volkes hindurch immer wiederfinden.

Als die Pläne des Pogroms Mordechai zu Ohren kommen, führt er die üblichen → Trauerriten aus und zieht so bis vors Tor. Auch wenn er in den Palast keinen Einlass erhält, werden seine Angst und sein Entsetzen schon so für alle öffentlich sichtbar. Ester hält Mordechais Auftreten zunächst für reines Spektakel. Erst durch einen Vertrauten erfährt sie von den furchtbaren Plänen Hamans. Dann erreicht sie der Auftrag Mordechais, zum König zu gehen und um Gnade für das jüdische Volk zu bitten. Einst hatte Mordechai Ester zwar gebeten, ihre Identität als Jüdin zu verbergen und auf diese Weise im Harem zu überleben und eine Position zu bekommen, die es ihr ermöglicht, Einfluss auf den König zu nehmen. Mordechai erwartet, dass Ester die Möglichkeiten, die ihr durch die Nähe zum König gegebenen sind, nutzt, um die Gefahr von ihrem Volk abzuwenden.

Ester sieht sich jedoch zunächst mit der Macht des Königs konfrontiert. Er allein entscheidet, wer sich ihm nähern darf. Bei Todesstrafe ist es verboten, sich dem König unerlaubt zu nähern. Ester ist so Objekt der königlichen Wünsche.

Mordechai jedoch gibt sich mit dieser Lage nicht zufrieden. Er macht Ester Vorwürfe, durch ihr Schweigen und ihre Verborgenheit im Königspalast ihr Leben nicht retten können.

Zwei Welten werden geschildert, die gegenwärtige Herrschaft des persischen Königs und die zukünftige gerechte Welt. Esters Leben und Sterben werden davon abhängig sein, für welche Welt sie sich entscheidet. Davon ist Mordechai überzeugt. Aus dieser Überzeugung formuliert er die Hoffnung auf Rettung für das jüdische Volk. Ester stellt er vor die Entscheidung, das Leben und die Solidarität mit dem jüdischen Volk zu wählen oder schweigend ihr Volk zu verraten und damit der Macht des Todes zu verfallen.

Konfrontiert mit dieser Überzeugung Mordechais, wird Ester aus der Fixierung auf die sie umgebenden Machtverhältnisse befreit. Sie ist nicht weiter Objekt königlicher Macht und Willkür. Sie ist Jüdin und damit Subjekt in einer Generationen übergreifenden Geschichte. So wird Ester handlungsfähig, ohne dass sich die Machtverhältnisse, in denen sie sich gefangen sah, dabei äußerlich verändert haben. Ihre Perspektive gegenüber diesen Machtverhältnissen verändert sich allein durch ihre eigene Identität. Sie gewinnt ihre Freiheit und eine Kraft, die darin ihren Ausdruck findet, dass sie es am Ende des Gespräches ist, die Mordechai sagt, was zu tun ist.

Ester 4 15Jh Jacopo del Sellaio
Ester, die im Harem getrennt von der jüdischen Gemeinschaft der Stadt Susa lebt, plant in ihrem Vorgehen gegen Haman zunächst ein gemeinsames → Fasten, um die Gemeinschaft zwischen ihr und ihrem Volk wiederherzustellen. Als Teil dieser Gemeinschaft bestimmt nicht mehr die Angst vor dem Tod Esters Handeln. So wird die andere Wirklichkeit, die Mordechais Bekenntnis festhält, in dem Fasten, das Ester organisiert, sichtbar. Aus dem Bekenntnis erwächst im Ritual eine Gegenöffentlichkeit, die den Mächten, die die Welt beanspruchen, trotzt.

Auf die Fastenerfahrung wird am Ende des Ester-Buches noch einmal zurückgegriffen, wenn das → Purimfest institutionalisiert wird. Haman hatte mit dem Los, hebr. pûr, den Tag festgelegt, an dem die Pogrome stattfinden sollten. Das Los hat damit indirekt auch den Tag des Entrinnens festgelegt. Deshalb haben die Festtage, die zum Gedenken der Errettung gefeiert werden sollen, den Namen Purim „Lose“. Purim feiert das Leben, den Sieg über die Feinde.

Ester 5 16Jh Paolo Veronese
Vor Ester liegt die Audienz beim König, bei der sich ihr eigenes Schicksal und das ihres Volkes entscheiden wird. Um sich vorzubereiten und ihre Überlebenschance zu erhöhen, kleidet sich Ester königlich. Dass dies den König beeindruckt, hat schon die Geschichte Wastis gezeigt.

Ester richtet zwei Feste aus. Esters Plan beruht auf der Geschichte Wastis. Zuerst bereitet sie für den König ein Fest und lädt den König und Haman dazu ein. Während dieses Festes kündigt sie ein weiteres Fest an, das sie für Haman und den König ausrichten wird und zu dem sie wieder beide Männer einlädt. Mit dieser Einladung ehrt sie während der ersten Festlichkeit Haman genau so wie den König. Im König schürt sie jedoch Misstrauen und Angst, in Haman den Größenwahnsinn. So werden die Männer gegeneinander ausgespielt. Haman eilt nach Hause, lässt sich von seiner Frau und seinen Freunden feiern und schmiedet Mordpläne gegen Mordechai. Der König aber, dessen Frau einen anderen feiert, hat eine schlaflose Nacht. Er blättert in den Annalen des Reiches auf der Suche nach einem Mann, der als Gegenspieler Hamans dienen könnte. Und er findet einen, der sich schon einmal bei einem Putschversuch als treu erwiesen hat. Das ist Mordechai.

Ester 6 17Jh Jan Victors 2
Diese verschiedenen Reaktionen der beiden Männer kennzeichnet die Stimmung, die Ester mit der Einladung zum zweiten Fest ausgelöst hat und in die dieses Fest hineinfällt. Und so wird Esters zweites Festmahl zu einem Gegenstück jenes Festes, bei dem König Ahasveros die Königin Wasti verstieß. Sie beschuldigt Haman, dass er einen Anschlag auf sie, die Königin, und ihr Volk plant. Haman wird von ihr als Feind angeklagt. Sie verallgemeinert die von Haman ausgehende Bedrohung und suggeriert dem König, die Bedrohung gälte ihr und insofern gälte sie ihm, dem König, und dem Reich. Der König fühlt sich bedroht. Selbst als Haman um Gnade bittend vor Ester niederfällt, sieht der König in ihm nur noch den Feind. Er missdeutet die Szene als Vergewaltigungsversuch und lässt Haman als Usurpator hinrichten.

Esters Plan und Vorgehen gegen Haman wären ohne Wastis Weigerung nicht verstehbar. So zeigt sich das Buch Ester als kunstvoll angelegtes Buch, für dessen Fortgang die Ouvertüre zwingend notwendig ist.

5. Komposition

Ester 1
Als literarisches Grundgerüst lassen sich die Festgelage sowie die beiden Fastenzeiten (Est 4,3.16) und die beiden Erlasse (Est 3,12-13; Est 8,9-12) ausmachen. Die Festgelage sind als literarische Gestaltungsmittel am Anfang, in der Mitte und am Ende des Buches zu finden. Sie weisen bestimmte Merkmale auf und stehen zueinander in direkter Beziehung. Die ersten beiden Festgelage, die der König nach seiner Thronbesteigung und nach der Konsolidierung der Herrschaft ausrichtet, sind durch Zeitangaben näher bestimmt. Insgesamt werden in der Vorgeschichte vier Festgelage geschildert, wobei die Vierzahl in der Antike und im Alten Orient als Zeichen für Vollständigkeit galt. Mit dem vierten Festgelage ist vor allem die Gestalt der Ester verbunden. Sie wird zur Königin erhoben, womit gleichsam ein Höhepunkt der Vorgeschichte erreicht ist.

Die Haupthandlung erzählt ebenfalls von vier Festgelagen, die von oder für Juden ausgerichtet werden.

In der Mitte des Buches steht ein Festgelage, das den ersten Erlass (Est 3,12-13) abwehren und den zweiten Erlass (Est 8,9-12) ermöglichen soll. Als Krisis ist dabei die Weigerung Esters, für ihr Volk einzutreten (Est 4,4-12), anzusehen. Auffallend ist dabei die Rahmung durch zwei Fastenzeiten (Est 4,3.16).

Einen zweiten Wendepunkt in der Ester-Erzählung markiert das Schicksal Mordechais, das das Geschick seines Volkes repräsentiert.

Auffallend sind zwei Erzählstränge: Zum einen geht es um das Schicksal des jüdischen Volkes, zum anderen zeigt sich dies in Abhängigkeit von der Handlungsweise einzelner Personen.

6. Textüberlieferung

Das Buch Ester existiert in drei Fassungen, einer hebräischen, die mit ca. 160 Versen die kürzeste ist, und zwei griechischen, davon eine Langfassung der LXX und eine etwas kürzere, lukianische Fassung, die auch Alpha-Text genannt wird. Zu den LXX-Zusätzen gehören folgende Stellen:

- Traum Mordechais, Entdeckung des Verschwörungsplans (Est 1,1a-r)

- Edikt Hamans, alle Juden zu vernichten (Est 3,13a-g)

- Gebete Mordechais und Esters (Est 4,17a-z)

- Gang Esters zur Audienz beim König (Est 5,1a-f.2ab)

- Edikt des Königs zum Schutz und zur Rettung der Juden (Est 8,12a-x)

- Deutung des Traumes Mordechais (Est 10,3a-l)

Diese LXX-Zusätze wollen die Geschichte nicht nur erzählerisch ausgestalten, sondern explizite Theologie liefern. So wird bei der Schilderung der Rettung der Juden durch bewussten Einsatz von Motiven der Exodusüberlieferung an das grundlegende Ereignis der Volkwerdung Israels erinnert und an ein positives, vertrauensvolles Gottesverhältnis. Im Vordergrund steht Jahwe als befreiender, rettender Gott in äußerster Notsituation.

Die Zusätze des Traums und der Deutung des Traums bilden nicht nur einen kunstvollen Rahmen, sie erinnern auch stark an die Josefsnovelle und deuten Eigenschafen der Josef-Figur im Blick auf Mordechais Verhalten. Darüber hinaus ist das Traum-Motiv gerade für die jüdisch-hellenistische Zeit sehr bekannt. Ähnliches gilt für das Motiv der Gebete Mordechais und Esters.

Der textgeschichtliche Zusammenhang der drei Fassungen des Esterbuches ist in der Forschung umstritten. Am nächsten liegt eine Entwicklungslinie vom masoretischen Text über die Septuaginta zum Alpha-Text.

Die Einheitsübersetzung hat sich für einen Mischtext entschieden, den masoretischen Text mit eingefügten LXX-Zusätzen, während die Übersetzungen der reformatorischen Tradition ausschließlich den hebräischen Text zugrunde legen und die Zusätze in einem Anhang als „Stücke zum Buch Ester“ liefern.

7. Entstehung und geschichtlicher Hintergrund

Wie bei vielen biblischen Schriften gilt im Blick auf die Historizität des Erzählten auch beim Buch Ester äußerste Skepsis. Primär handelt es sich um ein literarisches Kunstwerk, um Dichtung, nicht um einen historischen Bericht. Dennoch lässt sich die historische Frage im Blick auf einzelne Protagonisten der Erzählung stellen. So wissen wir um die Regierungszeit des Ahasveros, der mit Xerxes I. gleichzusetzen ist. Sie fällt in die Jahre 485-465 v. Chr. Besondere Kenntnis gewinnen wir aus der griechischen Geschichtsschreibung, die dem feindlichen Persien gegenüber jedoch nicht neutral berichtet. Herodot beschreibt zahlreiche Ereignisse aus der Regierungszeit Xerxes I. Deren Kenntnis sowie die auffallende Vertrautheit des Verfassers des Esterbuches mit persischen Gegebenheiten scheinen für die Historizität des Buches zu sprechen. So sind beispielsweise die sieben fürstlichen Ratgeber auch aus Herodot III 83f. bekannt (Text gr. und lat. Autoren). Dasselbe gilt für das Postsystem (Herodot V 14.52) und bestimmte Huldigungsformen vor dem König und vor höheren Beamten (Herodot III 86; I 134). Wohltäter werden großzügig belohn (Herodot III 139-141). Darüber hinaus findet sich im Esterbuch eine beträchtliche Zahl an persischen Wörtern und Namen.

Die Vertrautheit des Verfassers des Esterbuches mit der persischen Umwelt allein ist jedoch noch kein Beleg für die Historizität des Buches, die durch andere Merkmale stark in Frage gestellt wird. So bleibt zu fragen, ob ein Festgelage tatsächlich 180 Tage gedauert haben kann. Auch ist nach der Geschichtlichkeit des Verhaltens Königin Wastis zu fragen, die nicht zum Fest der Männer kommt. Kann ein König einem Edikt zugestimmt haben, das verlauten lässt, jeder Mann sei Herr im eigenen Haus? Können die Reichsverlautbarungen in allen Sprachen des Reiches verfasst worden sein? Auch sind Konversionen zum Judentum in der geschilderten Menge für Persien in dieser Zeit nicht bezeugt. Wie sind die Angaben über die Zugehörigkeit des Mordechai zur Gruppe der Exilierten mit den Regierungsdaten König Xerxes I. zu vereinbaren? Die zeitlichen Angaben über das Erscheinen Esters am königlichen Hof können nur schwer mit den historisch belegten Ereignissen dieses Jahres zusammengebracht werden, befand sich der König zu dieser Zeit doch in den entscheidenden Schlachten in Griechenland und Kleinasien. Der entscheidende Aspekt gegen die Historizität des Buches Ester dürfte jedoch die angegebene Zeit sein, in der Ester Königin von Persien gewesen sein soll, zwischen dem 7. und dem 12. Regierungsjahr König Xerxes I. Für diese Zeit sind jedoch weder die Namen Ester noch Wasti belegt. Bei Herodot ist für den betreffenden Zeitraum Amestris als Königin von Persien bezeugt (Herodot VII 114). Zudem müsste Mordechai, der nach Est 2,6 zu den Exulanten von 597 v. Chr. zählt, zur der Zeit, in der die Erzählung spielt, schon gut 120 Jahre alt sein. Dies ist unwahrscheinlich und passt schon gar nicht zur jugendlichen Ester, die als Cousine ja ungefähr gleich alt sein müsste. Ferner gilt für Persien keine besondere Judenfeindschaft. Judenhass und Judenverfolgung sind aus der Epoche der Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen bekannt.

Das Interesse des Esterbuches liegt so nicht primär im Historischen. Es ist daher nicht als Novelle (bzw. Diasporanovelle) oder „historisierte Weisheitserzählung“ zu verstehen, sondern als „romanhafte Erzählung“, die in persischer Zeit spielt, jedoch in hellenistischer Zeit entstanden sein dürfte. Als charakteristisch für den Roman in hellenistischer Zeit gelten die Komplexität des Handlungszusammenhangs, das theatrum mundi, erotische Konnotationen und eine gewisse „Weltdeutung“ (vgl. Zenger 2004, 307). Die oft vertretene Datierung der Entstehung des Esterbuches ins 5./4. Jh. muss so stark in Frage gestellt werden. Wahrscheinlicher ist das 3. Jh. Die gute Kenntnis über die persischen Gegebenheiten entspricht dem Bildungsgut der griechischen Historiker.

Als Entstehungsort des Esterbuches wird oft die östliche Diaspora angenommen, da es vor allem die Situation des Judentums in einer nichtjüdischen Welt reflektiert.

8. Theologie

Da der Gottesname im hebräischen Text des Esterbuches nicht begegnet, entsteht der Eindruck, es handle sich um eine nicht-theologische Erzählung, die das Judentum mehr als ethnische, weniger als religiöse Größe betrachtet. Seine Funktion könnte dann in der profanen Erklärung des jüdischen Purimfestes liegen. Die theologische Bedeutung ist jedoch nicht zu verkennen, zumal der Gottesname in den Erweiterungen der griechischen Fassung vorkommt.

Die Theologie des Esterbuches zeigt sich in der Lektüre des Gesamtwerkes. Hier ist vor allem auf die intertextuellen Bezüge mit den Geschichtsüberlieferungen zu achten. So spiegelt der Konflikt zwischen Mordechai und Haman die Feindschaft zwischen Amalek und Israel wider, die in der Tora Grundtopos für die fundamentale Existenzgefährdung Israels ist (Ex 17,8-16; Dtn 25,17-19), wobei besonders Ex 17,8-16 festhalten, dass Amalek die Vernichtung des Volkes Israel nicht gelingen wird. Dieser Konflikt wird im Esterbuch erinnert, indem Haman als „Agagiter“ (Est 3,1) und Mordechai als „Sohn des Jair, des Sohns des Schimi, des Sohns des Kisch“ (Est 2,5) bezeichnet wird (vgl. 1 Sam 15). Indem Ester durch geschicktes Handeln für die Rettung des jüdischen Volkes eintritt, werden ihr in Relecture der Agag-Saul-David-Erzählung messianische Eigenschaften zugesprochen.

Eine zweite Geschichtsüberlieferung, die im Buch Ester erinnert und aktualisiert wird, ist die Josefsgeschichte. In überraschend übereinstimmenden Einzelheiten wird das Hofmilieu der Josefsgeschichte in die Estererzählung hineingenommen. Eine zentrale Parallele liegt weiterhin darin, dass ein erst am Königshof aufgestiegener Jude nicht nur sein eigenes Volk vor dem Tod bewahrt, sondern ein fremdes Weltreich erfolgreich regiert. Eine Neuerung im Esterbuch besteht darin, dass die Figur des Josef aufgespalten wird in die Mordechai- und in die Esterfigur. Mordechai agiert jedoch stärker im Hintergrund, während Ester gegenüber Haman als Frau auftritt, die durch Schönheit und Weisheit zu überzeugen weiß. Sie gilt in der Erzählung als weibliche Joseffigur, die als Identifikationsfigur für das Leben und Überleben in der Diaspora dient.

Mordechai verkörpert durch sein Verhalten der Verweigerung der Proskynese das vor allem in der Diasporaexistenz zentrale Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976 (Taschenbuchausgabe, Rom u.a. 1994)
  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Dictionary of Judaism in the Biblical Period. 450 B.C.E. to 600 C.E., New York 1996
  • New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Kommentare

  • Berlin, Adele, Esther (JPS Bible Commentary), Philadelphia 2001.
  • Dommershausen, Werner, Ester (NEB), Würzburg 1980.
  • Gerlemann, Gillis, Esther (BKAT 21), Neukirchen-Vluyn 1982.
  • Meinhold, Arndt, Das Buch Esther (ZBK 13), Zürich 1983.
  • Ringgren, Helmer / Zimmerli, Walther / Kaiser, Otto, Sprüche, Prediger, Das Hohe Lied, Klagelieder, Das Buch Esther (ATD 16), Göttingen 1981.
  • Steck, Odil H. / Kratz, Reinhard G. / Kottsieper, Ingo, Das Buch Baruch. Der Brief des Jeremia. Zusätze zu Ester und Daniel (ATD 5), Göttingen 1998.
  • Wacker, Marie-Theres, Esther (SAT), Stuttgart 2004.

3. Weitere Literatur

  • Bardtke, Hans, Luther und das Buch Esther, Tübingen 1964.
  • Berg, Sandra A., The Book of Ester. Motifs, Themes and Structure, Missoula 1979.
  • Brenner, Athalya, A Feminist Companion to Ester, Judith and Susanna, Sheffield 1995.
  • Butting, Klara, Das Buch Esther. Vom Widerstand gegen Antisemitismus und Sexismus, in: Schottroff, Luise / Wacker, Marie-Theres (Hgg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 169-179.
  • Butting, Klara / Minnaard, Gerard / Wacker, Marie-Theres (Hgg.), Ester. Mit Beiträgen aus Judentum, Christentum, Islam, Literatur, Kunst, Wittingen 2005.
  • Crawforf, S., L.G. Greensporn (Hg.), The Book of Esther in Modern Research (JSOT.S 380), London 2003.
  • Dommershausen, Werner, Die Esterrolle. Stil und Ziel einer alttestamentlichen Schrift, Stuttgart 1968.
  • Herrmann, Wolfram, Ester im Streit der Meinungen (BFATAJ 4), Frankfurt/M. 1986.
  • Hirdt, Willi, Esther und Salomé. Zum Konnex von Malerei und Dichtung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2003.
  • Jaroš, Karl, Esther. Geschichte und Legende, Mainz 1996.
  • Wacker, Marie-Theres, Ester. Jüdin. Königin. Retterin, in: Kath. Bibelwerk (Hg.), Bekannte und unbekannte Frauen der Bibel, Stuttgart 2006.
  • Wahl, H. M., Esther-Forschung, in: ThR 66 (2001) 103-130.
  • Zenger, Erich, Das Buch Ester, in: Zenger, Erich (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart, 5. Aufl. 2004, 302-311.

Abbildungsverzeichnis

  • Königin Ester (Andrea del Castagno; 15. Jh.).
  • Karte zur Estererzählung. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Die Wahl fällt auf Ester (Farnese-Stundenbuch; 16. Jh.).
  • Der König zeigt mit dem Zepter auf Ester und schenkt ihr Leben; die Szene wird als Zeichen der Gnade vielfach dargestellt (Est 4,11; 5,2; Jacopo del Sellaio; 15. Jh.).
  • Der König zeigt mit dem Zepter auf Ester und schenkt ihr Leben; die Szene wird als Zeichen der Gnade vielfach dargestellt (Est 4,11; 5,2; Paolo Veronese; 16. Jh.).
  • Ester, Ahasveros und Haman beim Festmahl (Jan Victors; 17. Jh.).

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