Deutsche Bibelgesellschaft

Psalmendidaktik

(erstellt: Januar 2015)

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1. Zur Einführung

Beate Leßmann (Leßmann, 2002, 1) spricht von der „beeindruckenden Erfahrung […], dass Worte der Psalmen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Schule und Gemeinde so elementar in ihrem Menschsein ansprechen, dass sie sich ganz spontan und unmittelbar auf die Sprache und die Erfahrungen der Psalmen einlassen“. Die Entdeckung, dass Sätze der Psalmen in einer einzigartigen Weise das genuin didaktische Potenzial „doppelseitiger Erschließung“ (Klafki, 1964, 298) in sich tragen, war wie jede Entdeckung situationsgebunden, sie hat sich aber deshalb in solcher Breite durchgesetzt, weil sie im Schnittpunkt didaktischer Forderungen stand.

Der Versuch, den Religionsunterricht problemorientiert anzulegen (→ Problemorientierter Religionsunterricht), unterlag der Suggestion, dass Theologie und Religionsunterricht „Lösungen“ anzubieten hatten auf die Lebensfragen der Jugendlichen und Kinder; aber der christliche Glaube wird sich selbst entfremdet, wenn er als Problemlösungspotenzial eingesetzt wird; das ist bei Bonhoeffer eindrücklich nachzulesen. Jedenfalls schülerorientiert sollte der Religionsunterricht ansetzen, doch wie kommen wir den elementaren Fragen der Schülerinnen und Schüler auf die Spur? Der Unterricht müsse therapeutisch sein (→ Sozialisationsbegleitender Religionsunterricht, wurde gefordert, aber wie soll er das leisten? Generell sollen wir darum bemüht sein, den Zugang zur „religiösen Dimension“ zu öffnen – als ob nie ein Bonhoeffer die totale Irreführung gezeigt hätte, die darin liegt.

Auf eine geradezu bestürzende Weise finden wir uns mit den Psalmworten im Schnittpunkt all dieser so unterschiedlichen Bestrebungen. Ich skizziere den Vorgang dieser Entdeckung.

2. Der Anstoß: Eine Schülerfrage

Die Situation: Fachdidaktisches Praktikum; mitten aus heiterem Himmel, aus einem durchaus katastrophenfernen heiteren Unterricht kommen drei Jungen zu uns: „Dürfen wir mal was fragen?“ „Na klar! Und -?“ „Jetzt sagen Sie uns als unser Religionslehrer mal ganz ehrlich: Glauben Sie denn, dass wir noch erwachsen werden?“

Nachzutragen zur Situation: Es war die Zeit, in der die ökologische Frage erst langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein Boden zu gewinnen begann – aber deutlich war schon hier, dass die Kinder schärfer als die Erwachsenen die heraufziehende Krise sehr sensibel wahrgenommen hatten.

Was sollten wir darauf antworten? Problemorientiert die in dieser Frage liegende Angst zu thematisieren – mit der nicht ganz glaubwürdigen Lösung (zu der es Dutzende gedruckter Entwürfe gab), dass mit Jesus im Boot alle Angst überwunden sei, verbot sich von selbst; damit wären wir an dem existenziellen Ernst der Frage vorbeigegangen.

Den Kern dieser Frage hat die Shell-Studie Jahre später als Grundfrage der Jugendlichen thematisiert: Ob sie noch die Chance hätten, später einmal ihr eigenes Leben zu führen. Das forderte eine andere Antwort als den Hinweis auf das sichere Bürgerrecht im Himmel.

3. Erster Versuch

Von mir selbst weiß ich: Wenn es hart auf hart geht, helfen mir theologische „Aussagen“ nicht mehr. Nur noch Worte der Psalmen reden dann so, dass die Seele es begreift und Halt daran findet. Aber reden die biblischen Psalmen denn auch begreiflich für Kinder?

Wir machen den Selbstversuch, lesen die Psalmen, finden viel Fremdes, Unverständliches, aber immer wieder – zumal in Luthers Übersetzung – auch Sätze, die so einfach reden, dass sie auch Kindern zugänglich sein müssten: „Ich habe mich müde geschrien“ (Ps 69,4); „ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß“ (Ps 31,13); „Tränen würgen mich immerzu“ (Ps 42,4); „meine Kräfte sind vertrocknet“ (Ps 22,16); „wie Hunde haben sie mich umzingelt“ (Ps 22,17); „ich liege da und zähle meine Knochen, sie aber stehen da und schauen auf mich herab“ (Ps 22,18).

Eine merkwürdige Entdeckung: Dies alles sind Worte der Klage; die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen, aber es bliebe dabei: Elementar zugänglich sind zuallererst die Worte der Klage; Worte des Lobes und des Vertrauens – „Lobe den Herrn, meine Seele“ (Ps 103,2); „der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (PS 23,1) – gehören zuerst nicht dazu. Warum nicht? Das ist nicht nur eine pädagogische, sondern eine zutiefst theologische Frage.

Unsere erste Antwort: Die Worte des Lobes und des Vertrauens machen eine Voraussetzung, die nicht alle Kinder und Jugendlichen teilen, eine Gotteserfahrung, die Lob und Vertrauen als Antwort hervorruft. Allenfalls die bewusst „religiös sozialisierten“ Schülerinnen und Schüler bringen diese Voraussetzung mit, den anderen fehlt sie und ist auch nicht durch suggestive Fragen (Wer ist das Du?) wieder einzuholen.

Aber umso erstaunlicher ist das andere: Jedenfalls machen auch die Klageworte der Psalmen diese Voraussetzung, sie haben einen Adressaten, ohne den sie nie so formuliert worden wären – aber dennoch sind sie unmittelbar zugänglich, verständlich für jede und jeden, auch ohne irgendeine religiöse Sozialisation. Und darin liegt ihre besondere didaktische Chance, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Hier sind Erfahrungen und Fragen in Sprache gefasst, die jeder Mensch mit sich trägt. Aber es sind eben diese Erfahrungen und Fragen, die in der biblischen Gotteserfahrung eine genaue Antwort finden, nicht im Sinne einer Lösung, sondern als Wegweisung, die tröstet, „ob ich schon wanderte im finstern Tal“ (Ps 23,4).

Anders gesagt: Die Worte der Klage, allgemein und überall so verständlich, führen uns didaktisch genau an den Ort, an dem die biblische Botschaft existenziell begreiflich wird. Sie erzwingen keine Akzeptanz, gar als die einzige „Lösung“, aber sie ermöglichen und eröffnen ein Verstehen, das die Eigenart, ja die Einzigartigkeit dieser Gotteserfahrung erfassen kann.

Doch: Wie lässt sich das didaktisch umsetzen und planen (→ Unterrichtsplanung)? Die Studierenden in der Praktikumsgruppe sagen: Wenn die These stimmt, dass die Bibel ihre eigene Didaktik hat, dann lassen wir uns jetzt von den Psalmenworten führen und sind gespannt, wohin.

4. Wir kommen ins Gespräch

Wir machen also den Versuch: Wir beginnen mit einem dieser Klageworte, präsentieren es als Gesprächsanstoß, planen und strukturieren das Gespräch aber nicht im Vorhinein, wir haben kein anderes Ziel als dieses, dass sich ein Gespräch entwickeln soll, dessen Richtung und Charakter durch die Kinder bestimmt wird, nicht durch unsere Zielvorgaben. Im Nachhinein begreifen wir, dass eben dies zur Struktur des Gespräches gehört, das wir suchen:

Wir suchen ein Gespräch, in dem die Kinder nicht vorausahnend die „richtigen“ Antworten geben, die der Lehrer ihrer Meinung nach erwartet, ein Gespräch ohne die Zensur des richtig und falsch, ein Gespräch auch ohne straffe Zielführung, denn → Kreativität, zumal wenn sie aus dem Emotionalen kommt, braucht Freiheit – und Zeit. Das bedeutet nicht, dass wir absichtslos in dieses Gespräch gehen – wir haben eine klare didaktische Absicht, einen Raum zu schaffen, in dem es zwischen den Kindern und Jugendlichen und den biblischen Worten zu einer direkten Kommunikation kommen kann, in pädagogischer Begrifflichkeit: zu einer „originalen Begegnung“ (Heinrich Roth).

Wir brauchen dazu ein möglichst offenes Wort, damit das Gespräch nicht zu schnell durch einfache, vermeintlich richtige Antworten beschlossen wird. Die Praktikumsgruppe wählt ein schweres Wort vom Anfang des 69. Psalms:

DAS WASSER GEHT MIR BIS AN DIE KEHLE

ICH VERSINKE IN TIEFEM SCHLAMM

WO KEIN GRUND IST

Die Frage wird gestellt, ob wir nicht im Vorhinein klären müssten, dass dies eine Metapher ist und wie man damit umgeht, doch das verneinen wir: Wir würden mit solchen Erklärungen der Metapher die Chance nehmen, mit ihren offenen Impulsen das Gespräch anzuregen und weiterzutreiben. Uns liegt doch vor allem daran, dass die Schülerinnen und Schüler mit dem biblischen Text unmittelbar kommunizieren und so der Text selbst das Gespräch bestimmt und nicht der Erwartungsdruck, die Kinder müssten zielstrebig zu dieser oder jener von uns intendierten Lösung kommen.

Und genau so entwickelt sich das Gespräch: Die Kinder warten nicht auf gezielte Fragen oder Impulse, sondern fangen einfach an auszusprechen, was sie in den Worten des Psalms hören oder ahnen: Das sind alles ängstliche Wörter – Da hat einer Angst, dass er untergeht – Da muss ein anderer sein, der ihm Schlimmes will – Vielleicht will er sterben! – Nein, er hat doch Angst! – Vielleicht hat er etwas verbrochen und hat Angst! – Vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen – Vielleicht sind andere hinter ihm her! – Vielleicht träumt er das nur …

Da hat einer Angst – das ist erst einmal der Schlüssel, nicht von uns angeboten, sondern von einem Kind entdeckt; andere versuchen, damit weiterzukommen: Vielleicht will er sterben! – nein – er hat doch Angst! – Vielleicht hat er etwas Böses getan – vielleicht … vielleicht … Ganz deutlich ist: Die Kinder benutzen den Psalm als Schlüssel, um an Erfahrungen heranzukommen, die sie in sich tragen; sie sprechen aus, was der Psalm in ihnen wachruft, Wahrnehmungen, die in ihrer eigenen Seele wohnen – und davon lebt das Gespräch: Sie reden hier von sich selbst, von eigenen Erfahrungen, anders könnten sie gar nicht reden, nur weil sie sich dabei nicht unnötig outen wollen, legen sie einen doppelten Schleier darüber: Sie reden in der dritten Person und im Modus des Vielleicht – „Vielleicht ist da einer, der …“.

5. Was ist da geschehen?

Wir halten den Atem an – da geschieht etwas, wonach wir so lange vergeblich gesucht, woran wir so lange schon gearbeitet haben: Die Kinder kommunizieren direkt mit dem biblischen Text, sie bewegen sich nicht auf der Ebene abstrakter Aussagen über den Text, sondern reden mit den Worten des Psalms; sie assoziieren, und zwar aus den Wahrnehmungen ihrer Seele. Wohin führt das? Nicht zu einer theologisch korrekten Auslegung, aber der Text füllt sich mit Leben, mit ihrem eigenen Leben, mit ihren eigenen Träumen und Erfahrungen.

Und noch mehr: Erst der Psalm motiviert sie, davon zu reden und darüber nachzudenken; ein gezielter Impuls – Ihr habt doch alle schon mal Angst gehabt, erzählt mal! – hätte das nie vermocht. Ich kann das Geheimnis dieser Sprache nicht hinlänglich beschreiben; aber es ist eine Sprache, die nicht nur dem, was in mir ist, zu einem Ausdruck verhilft, sondern sie ist wie ein Lichtkegel in einer dunklen Höhle, sie lässt auf einmal entdecken, was ich so noch nie wahrgenommen habe und macht es mitteilbar, und in dieser Kommunikation gewinnt es immer deutlichere Konturen.

Ich erinnere mich an einen Jungen, der im Gespräch (im vierten Schuljahr) die Spur seiner Selbstentdeckungen offenlegte: Zuerst sagte er zu diesem Psalmwort: „… im tiefen Schlamm, wo kein Grund ist – das ist doch wie Traurigkeit ohne Grund.“ Und später, nachdem das Gespräch einen ganz anderen Verlauf genommen hatte, ergänzte er seine Entdeckung „… dass sie nicht aufhört!“ Und schließlich, wieder eine Zeit lang später, fand er seine endgültige Formulierung: „Ich weiß – unendliche Traurigkeit!“ Er formuliert eine Erfahrung, die ich als fast tägliche Erfahrung des Alters sehr genau kenne – und ich erschrecke, was für Erfahrungen schon Zehnjährige in ihrer Seele tragen – Erfahrungen, die nach Sprache suchen. Nur so werden sie lernen, mit ihnen umzugehen. Bleiben sie sprachlos, so setzen sie Metastasen, ganz woanders, die dann wie Geschwüre unerwartet aufbrechen.

6. Der Kreis weitet sich

Wir haben mit anderen Klageworten immer wieder die gleiche Erfahrung gemacht. Der Satz ICH RUFE – DU ANTWORTEST NICHT (Ps 22,3) erwies sich geradezu als eine Grunderfahrung vieler Kinder; und Sätze wie diese: ICH HABE MICH MÜDE GESCHRIEN – ICH BIN WIE EIN ZERBROCHENES GEFÄSS – ICH WEINE BITTER, SIE ABER VERSPOTTEN MICH – ICH HABE MEHR FEINDE ALS ICH HAARE AUF DEM KOPF HABE (Ps 69,3; 31,13; 69,11; 69,5) geben nicht nur Kindern die Chance, eigene schmerzhafte Erfahrungen auszusprechen. Wir waren ja gar nicht auf der Suche nach einem „therapeutischen Religionsunterricht“, aber in diesen Gesprächen wurde klar: Indem Kinder eine Sprache fanden für zuvor sprachlose Erfahrungen hatten sie den ersten Schritt einer offensichtlich notwendigen Therapie gefunden.

Unzählige solcher Worte, in denen Kinder sich selbst entdecken, finden sich in den biblischen Psalmen, aber nicht nur dort: Vor allem im Buch Hiob/Ijob (→ Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Grundschule; → Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Sekundarstufe), aber auch in den Prophetenbüchern findet sich diese Sprache, die Kindern aus der Seele spricht. Der unterrichtliche Impuls lässt sich vielfältig erweitern: Für ein Gruppengespräch, etwa im Stuhlkreis, beschränken wir uns nicht auf nur ein Psalmwort, sondern bringen viele ins Spiel, zur Auswahl, auf Karten geschrieben, und jede/jeder sucht sich eine Karte aus und sagt ein paar Sätze dazu, und das Gespräch verzettelt sich dennoch nicht in der Vielfalt der Erfahrungen, sondern sie alle ergänzen und interpretieren sich wechselseitig.

Denn ganz unterschiedliche Worte lassen immer wieder eine gemeinsame Grunderfahrung erkennen; das zeigt sich besonders, wenn wir auf nonverbale Formen der Aneignung zurückgreifen, etwa wenn wir Bilder zu den gewählten Worten malen lassen oder nach musikalischen (→ Musik) oder choreografischen (→ Tanz, Primarstufe, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II) Ausdrucksmöglichkeiten suchen. Unerwartet war für uns die Wirkung, dass sich die so individuell ausgewählten und bearbeiteten oder besprochenen Worte nachhaltig einprägen, aber auf andere Weise als in dem hoch problematischen und dennoch immer wieder geforderten „Auswendiglernen“ – jetzt nämlich einem tiefen und zugleich offenen persönlichen Verstehen erschlossen.

7. Vernetzung

Diese Arbeit ist nicht in ein paar Stunden getan, sie braucht Wochen für immer neue Entdeckungen. Eine Entdeckung aber dürfen wir uns am Ende nicht entgehen lassen: Wenn Kinder diese Sätze, die inzwischen zu ihren eigenen geworden sind, selbst in der Bibel wiederfinden, in diesem so schwer zugänglichen, fremden Buch – solche Sätze ihrer eigenen Selbsterfahrung dort gedruckt zu finden, ist unerwartet; und andererseits erschließen sich von diesen ihnen so vertrauten Sätzen auf einmal auch sehr schwere biblische Texte.

Selbst der 22. Psalm, der Kreuzespsalm, lässt sich mit Grundschulkindern im Gespräch erschließen, wenn sie in dem Fluss der Klage auf einmal Inseln finden, die ihnen bekannt sind, in den schweren Worten der Klage die ihnen vertrauten Sätze und ihre eigenen Bilder von schweren, kaum erträglichen Träumen. Auf einmal wird ihnen so die Passion Jesu (→ Passion und Auferstehung, bibeldidaktisch, Grundschule; → Passion und Auferstehung, bibeldidaktisch, Sekundarstufe) zu einer Erzählung, die Schritt für Schritt auch von ihrer eigenen Verlassenheit spricht, von ihren eigenen Verletzungen und von der großen Angst, so ausgeliefert zu sein. Ausliefern ist in der Passionserzählung des Markus das leitmotivische Stichwort, wehrlos ausgeliefert zu sein, die Urangst der Kinder, und nicht nur die ihre. Die Passion Jesu gewinnt dadurch eine Nähe zu ihnen, die wir durch keine Art von Erklärung so herstellen könnten.

Und noch ein zweites didaktisches Wunder vollbringen die Klageworte der Psalmen: In ihnen finden sich alle Kinder wieder (und nicht nur Kinder), ohne die Voraussetzung irgendeiner religiösen Sozialisation; die Worte der Psalmen werden überall unmittelbar verstanden, in Benin City ebenso wie in Seoul in Korea. Sie haben freilich eine emotionale Voraussetzung: Sie alle sprechen aus einer tiefen Sehnsucht nach Glück, aus einer leidenschaftlichen Liebe zum Leben und aus einem geradezu verzweifelten Protest gegen die Verweigerung und Zerstörung von Leben und Glück, Freiheit und Menschlichkeit, Liebe und Geborgenheit.

Auf all dies aber antwortet die biblische Gotteserfahrung mit der einzigartigen Leidenschaft einer Liebe, die diese Sehnsucht auffängt und erfüllt. Es ist, als ob alles Menschsein darauf angelegt ist, sich dieser Erfüllung entgegenzustrecken. Ob das schon „natürliche Theologie“ ist, weiß ich nicht. In den Psalmen jedenfalls ist es so, und darin liegt für uns eine große unerschöpfte Chance.

8. Namen des Vertrauens

Die Klage sucht nach Antwort – das Drama der Verzweiflung in Wolfgang Borcherts Heimkehrerstück „Draußen vor der Tür“ endet mit der wild herausgeschrienen Frage: „Gibt denn keiner Antwort?!“ Aber was für eine Antwort sucht der heimkehrende Beckmann, was für eine Antwort sucht Ijob? Weder Ijob noch Beckmann suchen nach einer „Lösung“; die theologischen Lösungen, die Ijobs Freunde bereithalten, steigern nur seine Verzweiflung. Dietrich Bonhoeffer in der Enge und Angst seiner Haft wehrt sich vehement gegen das Angebot einer „Lösung“: „Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems“ schreibt er inmitten aller Zusammenbrüche im Jahr 1944 (Bonhoeffer, 1998, 408).

Wir suchen Antwort auf die Fragen und Klagen der Kinder, aber nicht als „Lösung“; das war die Fehlsteuerung eines problemorientiert ansetzenden Unterrichts (→ Problemorientierter Religionsunterricht). Probleme fordern eine Lösung, aber wir suchen anderes – eine Antwort, die inmitten der Angst Vertrauen eröffnet, im Verlassensein noch Geborgenheit, im Dunkeln ein Licht.

Was wir als erstes fanden, waren Namen: DU BIST MEIN LICHT, MEINE STÄRKE, MEIN LIED (Ps 27,1; 28,7; 118,14) – nicht wie Namen, die Gegenstände definieren, sondern Namen, wie sie Liebende füreinander suchen, Eltern für ihre Kinder, Namen, die Raum schaffen für Erfahrungen der Liebe. Ihnen eng benachbart sind Sätze des Vertrauens, die im Grunde auch nur ausformulierte Namen sind: DEINE HAND HÄLT MICH FEST; DU HÖRST MEIN WEINEN; DU HÄLTST MIR DEN KOPF HOCH (Ps 63,9; 6,9; 3,4).

Wie aber bringen wir diese Worte ins Gespräch, ohne dass sie die fatale zerstörerische Funktion einer „Lösung“ übernehmen? Und wie sollen die nicht religiös sozialisierten Kinder mit der direkten Anrede DU umgehen?

Wir mischten die Vertrauensworte einfach unter die anderen Worte der Klage und warteten im Stuhlkreis gespannt auf die Reaktion der Kinder. Einige entdeckten: Das sind da jetzt andere Wörter! Aber die Assoziationen, die sie dann ins Gespräch brachten, unterschieden sich gar nicht von denen, die sie zuvor zu den Worten der Klage genannt hatten: Erfahrungen von Angst und Dunkel und Alleinsein – deutlicher als formgeschichtliche Analysen zeigten uns diese Gespräche, wie elementar beide Formen, die Klage und die Worte des Vertrauens, aufeinander bezogen sind, in der Logik der Seele sind sie untrennbar miteinander verbunden.

9. Im Zentrum der Bibel

Unter den Vertrauensworten aber erwies sich eines als das eindeutig stärkste (Ps 23,4): DU BIST BEI MIR! In ihm war offenbar aller nur denkbare Trost versammelt – aber nur so lange, wie wir das DU offen lassen. Lassen wir uns hinreißen zu der Frage: Wer ist denn dieses DU?, so wird mit einem Schlage zweierlei zerstört: Wir haben alle nicht religiös sozialisierten Kinder abgehängt, und wir haben – nicht weniger zerstörerisch – die tröstenden Sätze des Vertrauens für sie in Forderungen des Glaubens verwandelt, das Evangelium ins tötende Gesetz.

Wir müssen die Vertrauensworte so tief wie nur möglich in zwischenmenschlichen Erfahrungen verankern, in Trosterfahrungen mit der Mutter, der Freundin, dem Freund – nur dann können sie sich mit elementarer emotionaler Erfahrung füllen, und nur so können sie Eingang finden in ein ahnungsweises Verstehen der biblischen Gotteserfahrung. Überraschend ist für mich dabei immer wieder, wie wir auf diesem – didaktischen – Weg direkt ins theologische Zentrum der Bibel gelangen: Die ursprüngliche Gotteserfahrung, aus der sich die gesamte Geschichte der Bibel entwickelt, in der Begegnung des Mose mit dem brennenden Dornstrauch, redet in Worten und Bildern der Psalmen: ICH HABE EUER SCHREIEN GEHÖRT, EUER ELEND GESEHEN, EURE TRÄNEN (Ex 3,7-9) – bis hin zu dem tiefen Geheimnis des unaussprechlichen Gottesnamens, das hier enthüllt wird: ICH BIN DA (Ex 3,14) heißt der → Gott, der hier redet, und das ist nichts anderes als die Zurückverwandlung des stärksten Vertrauenswortes der Psalmen DU BIST BEI MIR (Ps 23,4) in die Wurzel, die alles trägt.

Es ist sehr viel gewonnen, wenn im Unterricht dieser Schritt gelingt. Nach meiner Erfahrung wirkt die Zwangsvorstellung, wir müssten an dieser Stelle ausdrücklich und ausschließlich von Gott reden, nur zerstörerisch. Wir können diesen Gott nicht auf dem Wege theologischer correctness in unseren Unterricht hereinholen. Es kommt aber fast zwingend auf diesem Weg bei den Kindern zu Grenzeinsichten wie dieser: Und wenn der ganz allein ist, kann er trotzdem sagen: „Du bist bei mir!“ – und damit ist – anders als mit „richtigen“ Aussagen über Gott – ein Raum für eigene neue Erfahrungen mit dieser Wirklichkeit eröffnet.

10. Und das Lob?

In der Regel werden Klage und Lob als die beiden Spannungspole genannt, zwischen denen die Sprache der Psalmen ihre Form gewinnt. Wir haben gesehen, wie eng die Worte des Vertrauens auf die Klage bezogen sind. Im weiteren Sinne könnten wir die Sprache des Vertrauens als Lob bezeichnen, aber im Kern geht es im Lob um noch ein anderes Feld der Erfahrung.

Ohnehin ist das Wort Lob ein schwieriges Wort, zumal im pädagogischen Kontext. Der hebräische Text spricht hier vom Segnen: Meine Seele soll, so steht es im Anfang des 103. wie des 104. Psalms, Ihn segnen. Und das geschieht in Luthers unübertrefflich elementarer Übersetzung in dem darauffolgenden Satz: Du bist sehr schön! Dieser Satz kehrt im Hohenlied wieder: „Wie bist Du schön, meine Freundin!“ (Hld 4,1). Es ist ein Satz der Bewunderung, in ihm liegen das große Erstaunen, das tiefe Erkennen und das ganze Glück der Liebe.

Und tatsächlich ist dies die Erfahrung, aus der das Lob wächst, der überwältigende Augenblick des Glücks. Und das Glück sucht seine Sprache, es muss sie finden, denn ohne sie bliebe das Glück eine Erfahrung nur des Augenblicks, ohne Dauer, im nächsten Augenblick schon vergangen. Es gehört zum ökologischen Umgang mit der eigenen Seele, die Augenblicke des Glücks zu bewahren, um sie wiederholen zu können. Die Seele lebt davon.

Wahrscheinlich aber leistet die Sprache noch mehr. Ich frage mich, ob es ohne die Sprache so etwas wie Glück überhaupt gäbe. Für mich wird Glück immer erst dann wirklich, wenn ich eine Sprache dafür finde. Erst so kann es Fuß fassen in meinem Bewusstsein, in meiner Seele.

Und das ist anders als in der Klage: Die Sprache der Klage zu finden ist lebensnotwendig, weil anders die Schmerzpunkte der Verletzung und Trauer und des Zorns in mir gar nicht beherrschbar wären. Die Sprache des Glücks aber ist lebensnotwendig, weil es ohne sie die Erfahrung des Glücks gar nicht gäbe. Sicher dürfen wir dabei nicht nur an die Sprache der Worte denken; auch der Vogel im Fluge oder eine aufgehende Blüte reden zu mir in der Sprache des Glücks. Aber ich brauche Worte, um das mir und anderen zu zeigen.

Wie finden wir die Sprache des Glücks? Die Urform begegnet uns in dem einfachen Satz: Wie bist Du schön! Dieser Satz kann sich in unzähligen Varianten entfalten. Auf dem Weg der Klage fanden wir uns wie in einer Engführung: Es sind nur wenige Worte, die dem Druck der Leiden standhalten. Die Sprache des Lobes aber blüht so vielgestaltig auf wie das Leben um uns und in uns. Sie braucht nicht einmal die Form der Anrede, auch nicht den Gestus der Dankbarkeit. Der 104. Psalm sagt einfach: „Da ist das Meer – so groß und weit!“ (104,25) und lässt uns in jedem Wort das Erstaunen spüren.

Die Frage nach dem Adressaten aber verlangt eine ähnliche Behutsamkeit wie bei den Worten des Vertrauens. Die einfache Frage liegt allzu nahe: Wem verdanken wir das alles? Wer hat das gemacht? – Doch mit der Antwort wären wir wieder bei der gesichtslosen Abstraktion eines „Allmächtigen“, die das Profil der biblischen Gotteserfahrung unkenntlich macht.

Die Sprache des Glücks kann nicht monologisch bleiben; sie sucht ihren Adressaten. Monologisch einsam formuliertes Glück ist schon nahe der Verzweiflung. Adressaten aber sind das Schöne selbst – oder auch die anderen, denen ich das mitteilen will. Natürlich rede ich mit den Blumen in meinem Garten; aber dass der Ursprung all des Guten und Schönen um mich eben der ist, der in dem brennenden Dornstrauch zu Worte kommt mit seiner befreienden Zusage: Ich bin da! – dass die Erfahrung der Befreiung wiedererkannt wird in der Schönheit ringsum – „Die Erde ist voll Deiner Güte!“ (Ps 119,64) – in den Wolken des Himmels, in der tröstlichen Ordnung selbst der Gestirne: Sie alle sind um des Menschen willen da! – das ist nicht Naivität, sondern konsequent zu Ende gedachte Theologie der Befreiung, die die Urerfahrung der Befreiung zurückverfolgt bis in die allerersten Anfänge, bis in den Ursprung der Welt; denn von dorther kommt, dort wohnt sie eigentlich (Joh 1,1-14), sie ist der Sinn der Welt, ihr Herzstück. Das ist eine Entdeckung von solchem Gewicht, dass wir ein Leben lang brauchen, sie mit Hilfe der Bibel nachzubuchstabieren. Nur auf dem Weg entdeckenden Lernens kann das Schritt für Schritt gelingen: Die schnelle und nur scheinbar „richtige“ Lösung „Gott“ würde diese Entdeckung hoffnungslos blockieren.

Es ist nicht schwer, die Sprache des Lobens in den Unterricht hereinzuholen. Astrid Greve hat beschrieben, wie sie das mit dem einfachen Impuls genauer Naturbeobachtung erreicht (Albrecht/Baldermann/Greve, 2012). Wir müssen die Kinder nur auf die Spur des Staunens bringen, und wir werden selbst staunen, über welch eine ursprüngliche Kraft lyrischer Sprache schon Kinder verfügen, gerade auch solche, die sonst nicht zu den Hochleistungsschülern gehören.

11. Schlüsselworte direkter Kommunikation

In den Worten der Psalmen haben wir Schlüsseltexte gefunden, die auch andere biblische Texte und Zusammenhänge für eine direkte Kommunikation öffnen, für ein elementares Verstehen: → Wundergeschichten der Evangelien öffnen sich unerwartet, wenn Kinder mit ihren Psalmworten die Situation der Leidenden ausleuchten und damit ihre eigenen Erfahrungen in die Geschichten einbringen; auf einmal reden auch die Ostergeschichten in einer ähnlichen Unmittelbarkeit, hinter der die Frage nach dem Faktischen in den Hintergrund tritt.

Aber auch der Ansatz, von einzelnen Sätzen auszugehen, hat Schlüsselcharakter. Für das Buch Hiob (→ Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Grundschule; → Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Sekundarstufe) liegt es ohnehin nahe, aber auch die Leidenschaft der Propheten erschließt sich anders, wenn wir nicht von Erzählungen zur Sozialgeschichte des achten oder siebten vorchristlichen Jahrhunderts ausgehen, sondern ihre Worte in einzelnen Sätzen direkt sprechen lassen (Oberthür, 1998; Baldermann, 1996). Heutige Kinder verstehen doch sofort, was das heißt (Am 2,7):

SIE TRETEN DEN KOPF DES ARMEN IN DEN STAUB

und entdecken, dass sich so etwas nicht nur in der Welt der Kinder und Jugendlichen abspielt.

12. Fazit: eine Didaktik des Notwendigen

Der direkte Zugang zu den Worten der Psalmen erweist sich am Ende als ein Schlüssel, nicht nur für die Bibel insgesamt, sondern auch für die religionspädagogische Diskussion, denn → performativ ist dieser Unterricht in all seinen Formen: Im nonverbalen Umgang mit den Worten der Psalmen – mimisch, musikalisch und in Bildern, aber auch im Gespräch – immer handelt es sich um eine kreative Darstellung ganz eigener Erfahrungen, eine intensive Sprachschule ganz eigener Art, eine Alphabetisierung in genau dem Sinne, in dem Paolo Freire davon spricht: Nicht als eine Einübung in fremde Sprachmuster, sondern als ein Finden und Erfinden von Sprache für Erfahrungen, die von vitaler Bedeutung sind, bisher aber keine Sprache fanden – nur so kann Alphabetisierung gelingen. Diese Performance entwickelt sich kreativ aus dem, was bei Noam Chomsky ursprünglich einmal Kompetenz hieß, aus der erstaunlichen Fähigkeit, im Medium der Sprache verständlich Ausdruck zu finden für Erfahrungen, die bisher noch keine Sprache hatten.

Und → konstruktivistisch ist der Umgang mit Psalmen in eben diesem Sinn: Kinder und Jugendliche entdecken und entwerfen sich selbst – und dies endlich in einem Raum, der nicht dominiert wird von längst vergangenen Weltbildern, aber auch nicht von den Schaumgebilden verlogener Werbung und ihrer Plastiksprache, sondern sie finden sich in dem befreiten Raum der biblischen Gotteserfahrung und ihrer tiefen, unerschöpflichen Menschlichkeit.

Die uferlose Diskussion, ob man im Unterricht beten dürfe und wie ein sachgemäßer Zugang ohne Gebet überhaupt möglich sei, löst sich: Niemand wird durch die Worte der Psalmen zu einem Bekenntnis genötigt, das nicht das seine ist, und doch wird erfahrbar, dass es hier um eine Wirklichkeit geht, die sich nicht dem Modus des Redens-über öffnet, sondern erst in der direkten Konfrontation auf der Ich-Du- Ebene. Der „lebensweltliche Bezug“ aber ist nicht ein motivationaler Hype, schon gar nicht eine Alternative zur Bibel, sondern er ist überall dort im Spiel, wo die biblischen Worte in ihrem ursprünglichen Sinn wahrgenommen werden – es ist der einzige Zugang, der sie für Kinder und Jugendliche zu öffnen vermag.

Schülerorientierung aber kann im Ernst nicht durch einen Zettelkasten mit Schülerwünschen erreicht werden, sondern allein aus der Verantwortung, das für diese Generation Notwendige zu tun! Das ist die Kernfrage ALLER Didaktik – im Angesicht einer Generation, die in eine Welt hineingeschickt wird, die von den Vätern bis an den Rand des Unterganges ausgebeutet worden ist, so dass alle Hochrechnungen ihr nur noch begrenzte Zeit geben. Nur durch eine gemeinsame äußerste Anstrengung aller Kräfte der Liebe und der Hoffnung ist der Untergang noch abzuwenden – und diese Väter schicken sie in diese Welt mit theologischen Grundsätzen und Methoden von vorgestern und Verhaltensregeln für ein alles überbordendes Wachstum.

Nur eine Didaktik der Befreiung wird der Bibel gerecht. Sie ist nicht mit einfachen, erlernbaren methodischen Kunstgriffen zu haben, aber in den Psalmen haben wir Brunnen entdeckt, aus denen wir schöpfen können – wie sollten wir daran vorbeigehen!

Literaturverzeichnis

  • Albrecht, Folker/Baldermann, Ingo/Greve, Astrid, Psalmen, Paderborn 2012.
  • Baldermann, Ingo, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 12. Aufl. 2012.
  • Baldermann, Ingo, Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996.
  • Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 8, hg. v. Christian Gremmels, München 1998.
  • Klafki, Wolfgang, Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 3. Aufl. 1964.
  • Leßmann, Beate (Hg.), Mein Gott, mein Gott … Mit Psalmworten biblische Themen erschließen. Ein Praxisbuch für Schule und Gemeinde, Neukirchen-Vluyn 2002.
  • Oberthür, Rainer, Kinder fragen nach Leid und Gott. Lernen mit der Bibel im Religionsunterricht, München 1998.
  • Oberthür, Rainer, Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1995a.
  • Oberthür, Rainer, Psalmwort-Kartei. In Bildworten der Bibel sich selbst entdecken, Freiarbeitsmaterialien mit Begleitheft und Kopiervorlagen, Heinsberg 1995b.

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