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(erstellt: Februar 2020)

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1. Wortherkunft und -verwendung

Der Begriff Populismus leitet sich etymologisch vom lateinischen Begriff populus (= das Volk) ab. Das Suffix -ismus steht im politischen Sprachgebrauch zumeist für die Übersteigerung oder gar Verabsolutierung einer politischen Grundeinstellung oder Geisteshaltung.

Als populistisch werden üblicherweise solche politischen Bewegungen, Parteien oder Personen bezeichnet, die sich gegen die herrschende Lehre bzw. die etablierten politischen und/oder gesellschaftlichen Eliten wenden, sich als Vertreter des vorgeblich „wahren“ Volkswillens gerieren und die prima facie einfache Lösungen für komplexe politische Probleme anbieten. Typische Trägergruppen sind dementsprechend zumeist gesellschaftliche Milieus, die sich durch die existierende gesellschaftliche Ordnung bzw. das politische System nicht angemessen repräsentiert oder sogar benachteiligt fühlen.

Populistische Phänomene können auf dem rechten wie auf dem linken politischen Spektrum auftreten, wenngleich es typisch für Populisten ist, dass sie die klassische Links-Rechts-Unterscheidung zur Einteilung des politischen Spektrums in der Regel ablehnen und vorgeben, im Namen des Volkes unabhängig von diesen Kategorien zu agieren.

Der Begriff ist zumeist negativ konnotiert und wird häufig zur Abwertung des politischen Gegners verwendet. Nicht selten wird Populistinnen und Populisten ein irrationales Politikverständnis attestiert und sie werden in die Nähe der Demagogie gerückt. Populismus gilt oftmals als opportunistisch, prinzipienlos und an niedere politische Instinkte appellierend. Er wird daher in der Regel als Gegenbegriff zu pragmatischer, sachbezogener Politik profiliert. Populismuskritikerinnen und Populismuskritiker unterstellen zumeist, dass im politischen Diskurs zwischen kognitiven und affektiven, mithin zwischen rationalen und irrationalen Komponenten unterschieden werden könne (Dubiel, 1986, 44). Diese scharfe Trennung erschwert es jedoch, das Phänomen des Populismus vollumfänglich zu verstehen und konterkariert zudem die Formulierung von Gegenstrategien. Populistische Argumente, die für viele Teile der Bevölkerung tatsächlich ihrem Common sense entsprechen oder ihm zumindest nahekommen, lassen sich schwerlich allein dadurch entkräften, sie als „affektiv“ oder „irrational“ zu deklarieren. Im Übrigen hat Politik grundsätzlich stets Emotionen, Leidenschaften und Ängste als konstitutive Dimensionen menschlichen Handelns zu berücksichtigen.

Der Populismusbegriff wird im öffentlichen und publizistischen Diskurs verhältnismäßig unscharf verwendet und mit zum Teil falschen Begriffskonnotationen verbunden. Es gibt kaum ein politisches Schlagwort unserer Zeit, das so häufig verwendet und dabei inhaltlich so unklar definiert ist, wie Populismus (Taggart, 2002). So unterschiedliche politische Akteure bzw. Analysten wie Horst Seehofer, Alexander Gauland, Gerhard Schröder oder Heribert Prantl (Prantl, 2017) haben den Populismusbegriff affirmativ besetzt; gleichzeitig wird er ebenso auf dezidiert extremistische Parteien wie den französischen Front National der 1970er- und 1980er-Jahre angewendet. Allein schon diese kursorischen Verweise zeigen die ganze Bandbreite an Anwendungsbeispielen und die damit einhergehende Unschärfe, die mit dem Begriff einhergeht.

2. Begriffsgeschichte

Das mit dem Populismus beschriebene Auftreten und seine oben genannten Attribute sind vom Inhalt her so alt wie die → Demokratie selbst. Als Begriff hingegen kam Populismus Ende des 19. Jahrhunderts auf, um eine situativ aus dem Volk hervorgehende politische oder soziale Bewegung zu beschreiben. Diese Bewegungen waren zumeist stark personenzentriert und zielten auf die Mobilisierung unterprivilegierter sozialer Schichten. In der politischen Debatte Russlands im 19. Jahrhundert stand der Begriff für eine geschlossene Ideologie (→ Ideologiekritik) einer kleinen Gruppe von Intellektuellen, den sogenannten Narodniki (Scherrer, 1989, 1102f.). Begriffsprägend für den westlichen Kontext wirkte insbesondere die relativ kurzlebige Farmerpartei Populist Party, die sich zwischen 1891 und 1908 im Westen der USA insbesondere gegen die Einführung des Goldstandards wendete. Im lateinamerikanischen Zusammenhang waren die im Zuge der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise entstanden nationalistisch-protektionistischen Tendenzen unter Juan Péron in Argentinien und Getúlio Vargas in Brasilien einflussreich.

Im deutschen Sprachraum ist der Begriff hingegen erst etwa seit den 1960er-Jahren etabliert und erlebt seit den 1980er-Jahren eine bemerkenswerte Aufwertung, einerseits im Zuge der Erfolge rechtspopulistischer Parteien in vielen europäischen Parteiensystemen, andererseits im südamerikanischen Kontext.

Charakteristischerweise wurde der Begriff auf beiden Seiten des politischen Spektrums in pejorativer Konnotation als politischer Kampfbegriff gegen den jeweiligen Gegner argumentativ in Stellung gebracht: So diffamierten etwa konservative Denker wie Daniel Bell oder Nathan Glazer die Studierendenbewegung der 1960er-Jahre als Linkspopulismus, während Neomarxisten wie Ernesto Laclau und Stuart Hall Margaret Thatchers Wahlkampfstrategien Ende der 1970er-Jahre als Rechtspopulismus bezeichneten (Scherrer, 1989, 1101).

Interessant ist auch die Konnotation des Begriffs in verschiedenen Weltteilen: Während in der europäischen Forschungslandschaft überwiegend ein negatives Begriffsverständnis vorherrscht, gilt der Populismus aus US- und lateinamerikanischer Perspektive oftmals als wertfreier Politikstil und wird als nicht weiter anstößige Begleiterscheinung von politischer Führung in der politischen Debatte verhandelt (Kazin, 1995). Gerade in Lateinamerika gilt Populismus größtenteils als gewöhnliche Strategie des Machterwerbs und Machterhalts unter anderen (Barr, 2009, 44).

In der Bundesrepublik hat der Begriff Populismus im Zusammenhang mit den globalen Flucht- und Migrationsbewegungen (→ Migration) der Jahre 2015ff. und dem Aufschwung der durch weite Teile der Politikwissenschaft als rechtspopulistisch eingestuften Partei Alternative für Deutschland (AfD) noch einmal zusätzlich an Rezeptionskraft gewonnen.

3. Aspekte des Populismusbegriffs

3.1. Volks vs. Elite als entscheidendes Kriterium

Versucht man die vielfältigen Erscheinungsphänomene von Populismus auf ein alle verbindendes Kriterium zurückführen, so wäre dies der konstruierte Gegensatz zwischen Volk und Elite. Damit ist dem Populismus bereits von seiner Grundanlage her eine dichotome Struktur eigen, die zwischen Volk und Eliten trennt, wobei die Populistinnen und Populisten sich auf Seiten des gemeinen Volkes wähnen, und vorgeben, dessen Interessen zu vertreten und dessen Willen realisieren zu wollen (Spier, 2010, 19; Müller, 2016, 42). Diese Minimaldefinition scheint mittlerweile Konsens in der Forschung zu sein; die Debatte entspannt sich mittlerweile eher entlang der Frage, ob dies schon ein hinreichendes oder nur notwendiges Kriterium für einen allgemeinen Populismusbegriff darstellt. So argumentiert beispielsweise Jan-Werner Müller, dass Populismus neben seiner antielitären Ausrichtung auch stets antipluralistisch sei (Müller, 2016, 46).

Die Grundkonstellation Volk vs. Elite wird von Links- und Rechtspopulistinnen und -populisten unterschiedlich ausbuchstabiert: Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten konstruieren einen in der Regel ethnisch aufgeladenen Gegensatz zwischen autochthonem Volk und Zugewanderten, während Linkspopulistinnen und Linkspopulisten auf eine Konfrontation zwischen einfachem Volk und abgehobenen Wirtschaftseliten setzen, denen zuweilen unterstellt wird, die politischen Eliten zu steuern. Vereinfacht ausgedrückt kann man sich dies mit den beiden Schlagworten Wir gegen die anderen (Rechtspopulismus) und Wir gegen die da oben (Linkspopulismus) merken. Rechtspopulismus wird dabei inhaltlich zumeist mit Nationalismus aufgeladen, Linkspopulismus dagegen zumeist mit Sozialismus; wobei es für die Flexibilität der Populistinnen und Populisten spricht, dass sie sich wechselseitig aus dem Reservoir des jeweils anderen bedienen.

3.2. Stil oder Inhalt?

Ein Großteil der wissenschaftlichen Literatur zur Kategorie des Populismus beschäftigt sich mit der Frage, ob mit dem Begriff ein inhaltlicher Eigenwert verbunden ist oder ob es sich (nur) um einen politischen Stil handelt. Man kann demzufolge in der Forschungsliteratur eine Ideologieschule von einer Strategieschule unterscheiden.

Vertreter der Ideologieschule wie Cas Mudde, Daniele Albertazzi und Duncan McDonnel unterstellen, der Populismus sei eine konkrete politische Richtung, deren ideologischer Kern in einer moralischen Aufladung des konstruierten Gegensatzes zwischen „Volk“ und „Elite“ liege (Mudde, 2004, 543; Albertazzi/McDonnel, 2008, 3). Da dies jedoch im Vergleich zu den „klassischen“ Großideologien des 20. Jahrhunderts wie Faschismus, Sozialismus und Kommunismus eine nur sehr vage und schmal bemessene inhaltliche Füllung darstellt, berufen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Ideologieschule auf das vom Ideentheoretiker Michael Freeden entwickelte Konzept einer thin centered ideology, das im Deutschen nur sehr schwierig als dünne Ideologie zu übersetzten ist. Eine Ideologie ist demzufolge als „dünn“ zu bezeichnen, wenn sie ein spezifisches Ziel verfolgt, in das sich andere komplexere Ideologiebausteine aus anderen Politikfeldern einpassen lassen. Beispiele hierfür wären der Nationalismus, die Ökologiebewegung oder der Feminismus (Freeden, 1996, 485). Der Volk-Elite-Gegensatz fungiert insofern als ein feststehendes, grundsätzliches Raster, das nach Belieben mit inhaltlichen Versatzstücken aus anderen, ausgefeilteren Ideologien gefüllt werden kann.

Die Vertreterinnen und Vertreter der Strategieschule hingegen argumentieren, dass die empirische Vielfalt beobachtbarer Phänomene von Populismus es nicht zulasse, ein gemeinsames inhaltliches Definitionskriterium zu entwickeln. Sie konzentrieren sich stärker auf Parallelen im öffentlichen Erscheinungsbild verschiedener populistischer Vertreterinnen und Vertreter, auf Ähnlichkeiten in der äußeren Performance und auf deren Mobilisierungsstrategien. Eine Liste solcher Ähnlichkeiten im äußeren Auftreten haben Frank Decker und Marcel Lewandowsky aufgestellt: Rückgriff auf Common-Sense-Argumente, Vorliebe für radikale Lösungen, Verschwörungstheorien und Denken in Feindbildern, Provokation und Tabubruch, Emotionalisierung und „Angstmache“, Verwendung von biologistischen und Gewaltmetaphern (Decker/Lewandowsky, 2017, 35).

Neben den beiden in Opposition zueinander stehenden großen theoretischen Ansätzen existiert noch eine postmarxistische Auffassung, die von Autoren wie Ernesto Laclau vertreten wird, und der zufolge Populismus als politische Praxis verstanden wird, die auf eine ideologieschaffende Diskurspraxis abzielt (Laclau, 2005). Chantal Mouffe hat daran anknüpfend den Populismus als logische Folge einer zu konsensuell und zu wenig agonal, das heißt konfrontativ agierenden Politik der etablierten Parteien in den vergangenen Jahren gedeutet (Mouffe, 2005; 2018).

Eine weitere Position, die zwischen den beiden Ansätzen der Ideologie- und Strategieschule angesiedelt ist, vertritt Karin Priester, die Populismus weder als Ideologie noch als Strategie, sondern vielmehr als politischen Prozess versteht: Sie geht von der Prämisse aus, dass in modernen Gesellschaften generell ein latentes Potenzial elitenkritischer Mentalität vorhanden ist, das mobilisiert und zu einem handlungsfähigen Akteur verdichtet werden kann (Priester, 2012, 48). Auf der Grundlage dieser Annahme entwickelt Priester ein Phasenmodell, das von der Latenzphase über die Malaisephase und die politische Sammlungsphase bis hin zur Phase der politischen Teilhabe des Populismus an der → Macht mündet (Priester, 2012, 96-113).

Umstritten ist in der Forschung die Bedeutung der Personenzentriertheit von Populismus. Nicht wenige Autoren stellen auf die Bedeutung einer maßgeblichen Führungspersönlichkeit für den Populismus ab (Müller, 2016; Decker/Hartleb, 2006; Decker, 2004). Benjamin Moffitt geht sogar so weit zu behaupten, dass zeitgenössischer Populismus ohne Führungspersönlichkeit nicht vorstellbar sei (Moffitt, 2016, 55). Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser hingegen kritisieren, dass mit dem einseitigen Blick auf populistische Anführerinnen und Anführer die inhaltliche Dimension von Populismus, das heißt die ideologische Angebotsseite tendenziell unterschätzt werde (Mudde/Rovira Kaltwasser, 2012, 10). Man wird jedoch nicht in Abrede stellen können, dass zumindest der weit überwiegende Anteil der empirisch beobachtbaren populistischen Parteien und Bewegungen über eine charismatische Führungsfigur an der Spitze verfügt oder eine solche zumindest an ihrem Anfang stand.

Insbesondere die Entwicklung Venezuelas von einer grundsätzlich liberalen, repräsentativen Demokratie zum politischen System des sogenannten Bolivarismus oder Chavismus, einem (links-)populistischen Regime unter Hugo Chávez seit Ende der 1990er-Jahre, stellt eine Herausforderung für die Populismusforschung dar: Diese liegt darin begründet, dass das populistische Regime Venezuelas sowohl personenzentriert-autoritär, als auch partizipativ-(radikal-)demokratisch angelegt ist. Sogenannte Consejos comunales, gewissermaßen Bürgerräte, die für ihre (kommunal-)politische Arbeit vor Ort jedoch auf die Finanzierung durch den Staat angewiesen sind, konsolidieren die Bindung zwischen den Volksmassen und dem autoritären Führer an der Spitze des Staates (Rhodes-Pury, 2015, 419).

3.3. Populismus und Demokratie

Populismus und Demokratie stehen in einem höchst ambivalenten Verhältnis zueinander. Interessant für ihr spannungsreiches Wechselverhältnis ist, dass beide Begriffe auf das Volk verweisen, die Demokratie auf die altgriechische Antike (demos), der Populismus auf die römische Antike (populus). Die Demokratie beruft sich in ihrer Herrschaftslegitimation auf das Volk. Da der Populismus auf die umfassende Verwirklichung dieses Prinzips abhebt, ist es aus demokratischer Perspektive sehr herausfordernd, gegen Populismus zu argumentieren, da stets der eigene Geltungs- und Legitimationsanspruch ein Stück weit eingeschränkt werden muss.

In den meisten der heute bekannten und akzeptierten Demokratietheorien verweist der Begriff Volk auf deutlich mehr als nur auf eine schlichte Schicht- oder Standesbezeichnung. Der Begriff umfasst deutlich mehr als das mit ihm adressierte Kollektiv im Sinne einer Summe seiner Individuen, sondern es wird ein politisches Abstraktum konstruiert, das über das Repräsentationsprinzip abgebildet wird (Isensee, 1995, 21-42). Das so verstandene Volk liegt auch dem anspruchsvollen Begriff des Volkswillens zugrunde, der nicht einfach vorhanden ist, sondern durch Praktiken, Verfahren und Zuschreibungen in der politischen Willensbildung erst gebildet werden muss (Jörke/Selk, 2017, 58). Zudem setzt die moderne Demokratie nicht nur auf das sie konstituierende Mehrheitsprinzip, sondern hegt dieses zusätzlich mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und einem ausgebauten Minderheitenschutz ein. Die → Freiheit des Individuums wird heute vor allem durch Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt und Verfügungsrechte über Privateigentum abgesichert. Heutige liberale Demokratien entsprechen dem strengen Ideal der Volkssouveränität aus guten Gründen nur eingeschränkt und lassen sich eher als Mischform aus demokratischer Volkssouveränität und liberaler Rechtsstaatlichkeit auffassen (Priester, 2012, 54).

Die moderne Demokratie basiert insofern offenkundig auf einem recht abstrakten, voraussetzungsreichen und anspruchsvollen Konzept von Volk und Volkswillen, das der Populismus in dieser Form nicht teilt. Populistinnen und Populisten unterstellen in der Regel einen theoretisch unterbestimmten Begriff von Volk und Volkswillen, bei dem es keinerlei Unterscheidungen gibt und in dem das Prinzip der → Gleichheit herrscht. Der Volkswille muss dieser Lesart zufolge nicht erst aufwändig konstruiert werden, sondern existiert unmittelbar. Die Mehrheitsentscheidung und der Gemeinwille werden als deckungsgleich betrachtet. Aus diesen Gründen wird ersichtlich, warum der Populismus aus demokratietheoretischer Perspektive ein ausgesprochen problematisches und sogar latent demokratiefeindliches Phänomen darstellt, da er wesentliche Grundlagen moderner Demokratien schlicht nicht zur Kenntnis nimmt bzw. zum Teil sogar aktiv negiert.

3.4. Populismus und Extremismus

Der inflationäre Gebrauch des Populismus-Begriffs ist auch darauf zurückzuführen, dass seine Grenzen zur politischen Mitte und zum politischen Extremismus nicht leicht zu bestimmen sind. Ein beliebtes Missverständnis in diesem Zusammenhang besagt, beim Populismus handele es sich um eine Art „weichen“ oder graduellen Extremismus bzw. um eine Vorstufe zum Extremismus.

Aus Sicht der vergleichenden Extremismusforschung ist es die aktive Verfassungsfeindschaft (→ Grundgesetz), das heißt der konkrete Wille und das darauf bezogene aktive Handeln zur Abschaffung bzw. Überwindung des politischen Systems, die den Extremismus kennzeichnet (Jesse/Panreck, 2017, 60). Populistinnen und Populisten gerieren sich als Gegenstimme zum Establishment und erheben den Anspruch, den „wahren“ Volkswillen zu vertreten, jedoch verstehen sie sich in der Regel nicht als Anti-System-Bewegung. Damit ist einerseits eine klare Demarkationslinie zwischen Populistinnen und Populisten sowie Extremistinnen und Extremisten beschrieben. Dies bedeutet aber zugleich auch, dass populistische Parteien und Bewegungen durchaus latent dazu in der Lage sind, extremistisch zu werden, und zwar in dem Moment, in dem sie die Schwelle zur offenen Systemfeindlichkeit überschreiten. Insofern kann der Populismus zwar in Einzelfällen die Vorstufe zum Extremismus sein, ein notwendiger kausaler Zusammenhang besteht hier aber nicht.

Zur Klärung der Zusammenhänge haben Eckhard Jesse und Isabelle-Christine Panreck ein hilfreiches vierdimensionales Schema entwickelt. Den beiden Extremismusforschern zufolge sind Populismus und Extremismus nicht deckungsgleich. Während Extremismus die Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat in seiner demokratischen wie in seiner konstitutionellen Säule darstellt, kann Populismus durchaus demokratische Spielregeln beachten, und zwar dann, wenn Populismus einen Politikstil im politischen Willensbildungsprozess einer Gesellschaft bezeichnet. Verwirrung ergibt sich nur daraus, dass sich auch Extremistinnen und Extremisten des populistischen Stils bedienen können.

Aus diesen Annahmen lassen sich vier Idealtypen konstruieren: demokratisch/nicht-populistisch, extremistisch/nicht-populistisch, extremistisch/populistisch, demokratisch/populistisch. Während der zweit- und dritt-genannte Typ die demokratischen Spielregeln verletzen, bekennen sich der erste und der vierte Typ zum demokratischen Verfassungsstaat (Jesse/Panreck, 2017, 66f.).

Die Verwirrung im öffentlichen Diskurs ist also schlicht eine Folge daraus, dass die Begriffe Populismus und Extremismus analytisch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Tom Thieme fasst den Kernunterschied prägnant zusammen: „Populismus kann in demokratischer und extremistischer Ausprägung auftreten; zugleich gibt es demokratische und extremistische Phänomene, die ohne Populismus auskommen.“ (Thieme, 2018, 20). Für die Klassifizierung als extremistisch ist die Frage nach der Verfassungsfeindlichkeit wesentlich. Wenn diese ausgeklammert wird, trägt das Verständnis von Populismus als „Extremismus-light“ mehr zur Unschärfe als zur analytischen Klarheit bei (Thieme, 2018, 19).

4. Eine populistische Landkarte Europas

Bei allen Schwierigkeiten der kategorialen Abgrenzung und der genauen Fassung des Populismusbegriffs finden sich im Europa zum Ende des Jahres 2019 bei einer weiten Auslegung in 20 von 27 Parlamenten rechtspopulistische Parteien und in zehn von 27 Parlamenten linkspopulistische Parteien. Da Belgien, Bulgarien, Finnland, Griechenland, Lettland, Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn sogar über je zwei rechtspopulistische Fraktionen in den nationalen Parlamenten verfügen, kommt man insgesamt auf eine Zahl von 29 rechtspopulistischen Parteien im Parlamentarismus der EU-27. Hinzu kommt noch der Sonderfall der Movimento Cinque Stelle in Italien, die sich nicht eindeutig dem rechts- bzw. linkspopulistischen Spektrum zuordnen lässt, in jedem Fall aber zum Lager der Populistinnen und Populisten gehört. Mit Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, den Niederlanden, Schweden, Slowenien und Spanien gibt es neun Länder, bei deren jeweils letzten Wahlen sowohl eine rechtspopulistische wie auch eine linkspopulistische Kraft ins Parlament einziehen konnte.

Auf Regierungsebene sind Populistinnen und Populisten in verschiedenen Varianten an insgesamt 10 Regierungen der 27 EU-Staaten beteiligt: In Bulgarien, Estland, Finnland, Griechenland, Lettland, Österreich, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn sind Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten Teil eines Regierungsbündnisses; hinzu kommen noch Tolerierungs- und Stützungsmodelle in Dänemark und Litauen. Gemessen an diesen schon flächendeckend zu nennenden Erfolgen der Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten sind Linkspopulistinnen und Linkspopulisten demgegenüber an keiner Regierung führend beteiligt, allerdings gibt es zwei Tolerierungsfälle (Podemos in Spanien, Bloco de Esquerda in Portugal) in der Minderheit. In Griechenland und Italien stellten in der Vergangenheit sogar Bündnisse zwischen populistischen Parteien die Regierungen: in Griechenland kooperierte 2016 bis 2019 die linkspopulistische Syriza mit der als extremistisch einzustufenden rechtspopulistischen ANEL, in Italien regierte bis zu diesem Sommer die bereits erwähnte Fünf-Sterne-Bewegung mit der rechtspopulistischen Lega Nord.

Unter dem Strich dokumentieren diese Zahlen, dass Populistinnen und Populisten in Europa auf dem Vormarsch sind, wobei Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten aufs Ganze gesehen aktuell erfolgreicher sind als Linkspopulistinnen und Linkspopulisten. In der geografischen Orientierung lässt sich bei aller Unschärfe relativ grob subsummieren, dass im Norden und Osten Europas tendenziell Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten erfolgreicher sind, während im Süden Europas eher Linkspopulistinnen und Linkspopulisten Erfolge erzielen.

5. Bewertung: Gefahr oder Korrektiv?

In der Forschung ist umstritten, ob Populismus eine Bedrohung für die Demokratie darstellt oder ob es sich um ein gleichsam natürliches und nützliches Korrektiv handelt, von dem auch konstruktive und positive Wirkungen für die Demokratie erwartet werden dürfen (Canovan, 1999; Decker, 2006; Mudde/Rovira Kaltwasser, 2012). Während die einen argumentieren, dass Populismus die Demokratie von innen her aushöhlt und die Akzeptanz demokratisch vermittelter Verfahren dauerhaft untergraben wird, machen die anderen geltend, dass durch populistische Parteien und Bewegungen auch heilsame Effekte auf die etablierten politischen Systeme entstehen können. Verkürzt lässt sich diese Debatte auf die einprägsame Formel bringen: Populistinnen und Populisten stellen zumeist die richtigen Fragen, wenngleich sie selten bis nie adäquate Antworten formulieren und Lösungen unterbreiten. So oder so spricht viel dafür, dass die demokratisch verfassten Staaten in einer sich wandelnden Welt mit sich weiter beschleunigenden Modernisierungsentwicklungen bis auf Weiteres mit populistischen Herausforderungen konfrontiert bleiben werden und dass es letzten Endes am politischen „Establishment“ selbst liegt, mit der populistischen Herausforderung umzugehen und diese sachlich konstruktiv aufzunehmen, auf sich stellende Fragen ebenso wie mehrheitlich überzeugende Antworten zu geben.

Literaturverzeichnis

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