Deutsche Bibelgesellschaft

Flucht als Thema der Bibel, bibeldidaktisch

(erstellt: Februar 2019)

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1. Flucht und Migration als Thema im Religionsunterricht

Migration ist in unserer globalisierten Gegenwart eine zentrale Herausforderung. Sie spielt auch in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler eine bedeutsame Rolle, sei es, dass sie selbst aus Familien kommen, in denen Flucht und Migration zur familiären Erfahrung und Erinnerung gehört, sei es, dass sie empathisch am Schicksal der vielen Geflüchteten und Migranten Anteil nehmen. Wenn wir biblische Texte als Migrationsliteratur wahrnehmen, so ist es nicht schwer, sie in einen Dialog mit den Lebensdeutungen junger Menschen zu bringen, sodass diese ihre eigene Position im Gespräch mit den biblischen Quellen entwickeln und begründen können. Ziel des biblischen Lernens kann sein, Schülerinnen und Schüler darauf aufmerksam zu machen, dass biblische Texte zwar in einem antiken Kontext geschrieben wurden und nicht eins zu eins auf die eigenen Lebenserfahrungen zu beziehen sind (Reuter, 2016), aber doch viele Themen verhandeln, die überraschend aktuell und bedeutungsvoll für eigene Lebenserfahrungen sein können. Dazu gehört auch das Thema „Migration und Flucht“, wo gelernt werden kann, dass biblische Texte das Leid von Flucht- und Migrationserfahrungen unverblümt zeigen, darin aber auch Hoffnung auf Gottes rettende Fürsorge zum Ausdruck bringen. Die Behandlung des Themas kann in mindestens dreifacher Perspektive geschehen (Schneider, 2018): 1.) Beim biblischen Lernen (→ Bibeldidaktik, Grundfragen) können biblische Fluchtgeschichten behilflich sein, gegenwärtige Fragen zu Flucht und Zwangsmigration näher zu betrachten und im Blick auf christliches Verhalten zu reflektieren. 2.) Diese Thematik kann auch zum ethischen Lernen und insbesondere zur Wertkommunikation genutzt werden, insofern gesellschaftliche Entscheidungen und Begründungen bezüglich des Umgangs mit Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten gesichtet, erarbeitet und diskutiert werden können. Entscheidend sind hier die ethischen und praktischen Konsequenzen des christlichen Gebots der Nächsten- und Fremdenliebe. 3.) Zum dritten kann „mystagogischer“, d.h. auf die Gottesfrage und religiöse Seinsdeutungen orientierter Religionsunterricht (Schambeck, 2012) Kinder und Jugendliche dafür sensibilisieren, Erfahrungen von Flucht und Migration im Zusammenhang der Gotteserfahrung zu thematisieren. Gerade beim Thema „Flucht und Migration“ werden im Religionsunterricht oft allein die sozialethischen Fragen ganz ins Zentrum gestellt. Aber die biblischen Texte zeigen häufig, dass Fluchterfahrungen zugleich als Gotteserfahrungen erzählt werden oder die Not von Flucht und Migration eine Deutung im Licht des Glaubens erfordert – sei es, dass Gott als Fluchthelfer erhofft, oder das traumatisierende Leid erzwungener Migration als Gottverlassenheit beklagt wird (Noomi in Rut 1). Fluchterfahrungen sind oft schwere Leiderfahrungen und verlangen eine religiöse und christliche Deutung, die mit Schülerinnen und Schülern besprochen werden kann. Zur biblischen und christlichen Gotteserfahrung gehört, dass Gott uns besonders in Leidsituationen nicht im Stich lässt und dass Gott im bedürftigen Fremden selbst begegnet (Theoxenie, siehe unten Kapitel 5) – wie bei Abraham in Mamre (Gen 18), in Jesu Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25) oder in der Episode von den Emmausjüngern (Lk 24), dass also der freundliche Umgang mit dem Fremden zum Ort von Gotteserfahrung wird (Neuhauser, 2016; Naumann, 2018). Selbstverständlich lassen sich eine Fülle weiterer unterrichtlicher Anwendungsfelder vorstellen (Reese-Schnitker/Bertram/Franzmann, 2018) und mittlerweile gibt es eine Vielzahl von unterrichtspraktischen Materialien.

2. Flucht, Vertreibung, Deportation

Die Bibel erzählt in vielfacher Weise von Zwangsmigration, d.h. von Flucht, Vertreibung und Deportation (→ Flucht; → Exil/Exilszeit). Als Flucht fasse ich das willentliche Entrinnen aus Verhältnissen auf, in denen man nicht mehr leben kann. Bei Vertreibung wird die Migration durch einen politischen Akteur erzwungen, bei Deportation nicht nur erzwungen, sondern als Zwangsmaßnahme durchgeführt. Selbstverständlich sind die Grenzen hier fließend. Zwei biblische Fluchtgeschichten sind in der Religionspädagogik seit langem beliebt: Israels Exodus aus der Knechtschaft in Ägypten, bedroht vom Kindermord des Pharao, eine Flucht, die Israels Glaubensbekenntnis vom befreienden und mit seinem Volk mitgehenden Gott nachhaltig geprägt hat, sowie die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten (Mt 2), die ihrerseits die Jesusgeschichte in den Echoraum der Mose- und Exoduserzählung hineinschreibt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass erzwungene Migrationen in der Bibel in zahlreichen biblischen Texten begegnen und sich tief auch in die theologischen Reflexionen und Gottesvorstellungen eingegraben haben. Das muss zunächst nicht verwundern, weil menschliche Geschichte, wo immer wir genauer hinschauen, Migrationsgeschichte ist. Der Facettenreichtum der biblischen Migrationsthematik ist aber dennoch bemerkenswert, weil die Vorgänge von Zwangsmigration in deutlichem Kontrast zum alttestamentlichen Ideal bäuerlicher Sesshaftigkeit wahrgenommen werden.

2.1. „Ruhe finden“ an einem Ort

Dieses Ideal bäuerlicher Sesshaftigkeit geht davon aus, dass ein Mensch an einem Ort innerhalb seiner Familie, seiner Sippe und seines Volkes lebt und sein Auskommen darin findet, dass er die Ressourcen des Landes als familiäres Erbteil bewirtschaftet, und zwar in der Kontinuität der Generationen im gleichen Lebensumfeld. Diese Situation wird in der hebräischen Bibel mit der Wendung seine Ruhe (hebräisch menucha) finden benannt. In einer patrilokalen und auf Verwandtschaft basierenden Gesellschaft bilden Vaterhaus, Sippe und die Ressourcen des Landes die großen Stabilitätsanker des Lebens, die dem Einzelnen angesichts der Wechselfälle des Daseins Halt, Sicherheit und Schutz vermitteln. Soziale Sicherheitssysteme, die über die eigenen Bezugsgruppen hinausgingen, gab es kaum. Überleben und einigermaßen sicher leben konnte man nur in diesem verwandtschaftlichen Rahmen. Erst vor diesem Idealbild kann man ermessen, in welche Schwierigkeiten und individuellen Notlagen jemand kam, der zur Flucht genötigt wurde, weil er alle diese Sicherheiten aufzugeben gezwungen war. Wenn wir zu Beginn der Abrahamgeschichte Gottes Aufforderung lesen: Geh aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Vaterhaus, in ein Land das ich dir zeigen werde! (Gen 12,1), dann wird uns in den vertrauten Worten nur selten die brutale Härte dieser Forderung deutlich, wenn Gott verlangt, dass Abraham sich von all dem trennen soll, was seinem bisherigen Leben Sicherheit und Stabilität gegeben hat. Im Verständnis der Antike ist Abrahams Aufbruch radikal und ungeheuerlich, ein Abbruch nahezu aller vertrauten Lebensbeziehungen.

2.2. Flucht als schwere Leid- und Krisenerfahrung

Während Abraham sich in Mesopotamien immerhin vor eine Wahl gestellt sieht und nicht fliehen muss, wird bei Zwangsmigrationen dieser Abbruch gewaltsam erzwungen und er führt unmittelbar in eine Lebenssituation voller Unsicherheiten, Ängste und Gefährdungen. Diese werden in der Bibel allerdings nur selten ausgemalt. Die kompakteste Darstellung solcher Nöte findet sich unter den Fluchbestimmungen des Deuteronomiums, in denen Gott seinem Volk im Fall des Bundesbruches ein notvolles Leben unter fremden Völkern, in der Zerstreuung (→ Exil/Exilszeit; → Diaspora (AT)) androht:

Dazu wirst du unter jenen Völkern keine Ruhe haben, und deine Fußsohlen werden keine Ruhestatt finden. Denn Jhwh wird dir dort ein bebendes Herz geben, erlöschende Augen und eine verzagende Seele. Und dein Leben wird dauernd in Gefahr schweben; Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. Morgens wirst du sagen: Ach dass es Abend wäre!, und abends wirst du sagen: Ach dass es Morgen wäre!, vor Furcht deines Herzens, die dich schrecken wird, und vor dem, was du mit deinen Augen sehen wirst (Dtn 28,65-67).

Dieser Blick auf die lebensmindernde Seite einer Migrantenexistenz ist freilich eine extreme Stimme, die davon ausgeht, dass es am neuen Ort keine wirkliche Bleibe gibt. Es gibt auch andere biblische Stimmen. Das Volk Israel hat gerade durch die Erfahrungen von Zwangsmigrationen, Exil und Diaspora gelernt, dass es Heimat auch im Plural gibt (Müllner, 2011), dass Gott sein Volk auch in Flucht und Vertreibung fürsorglich begleitet und rettet, dass er auch am neuen Ort erfahren werden kann. So zeichnet etwa der Brief des Propheten Jeremia an die judäischen Deportierten in Babylon (Jer 29) ein anderes Bild, dass nämlich Akkulturation am neuen Ort möglich und wünschenswert ist, sogar in Babylon. Die Diasporaerzählungen (Josef, Ester, Daniel, Tobit → Diaspora) variieren die Chancen und Schwierigkeiten jüdischer Existenz am Ort der Migration. Im Ergebnis der Reflexion solcher Migrationserfahrungen kommt es im antiken Israel zu Identitätsmustern, die sich zugunsten der Gottesbeziehung von einer engen Bindung an (nur) einen Ort lösen. Solche ortsflexiblen Identitätsmuster sind im Judentum und Christentum bis heute bestimmend geblieben. Aber das „bebende Herz“, die „verzagende Seele“, das „erlöschende Auge“ sind starke Bilder für die tiefgehende emotionale Erfahrung der Unsicherheit, Angst und Überlebensnot, die mit Zwangsmigrationen im Horizont der Bibel verbunden sind. In jedem Fall beschreiben solche Zwangsmigrationen eine schwere persönliche Krisenerfahrung, eine prekäre Situation des Dazwischen – zwischen dem nicht mehr an einem Ort leben zu können und der Unsicherheit, am anderen Ort Zuflucht und neue Bleibe zu erlangen, um wieder „seine Ruhe“ zu finden.

3. Ursachen von erzwungener Migration

3.1. Der Krieg

Wie in unseren Tagen gehören auch in der Bibel Kriege zu den häufigen Fluchtursachen. Neben verschiedenen Kriegen mit Nachbarvölkern sind hier vor allem die Eroberungskriege der assyrischen und babylonischen Weltmächte zu nennen, die Israel und Juda im Zeitraum von 740-587 v. Chr. in Atem gehalten haben (→ Exil/Exilszeit). Als die Assyrer ab 732 v. Chr. den israelitischen Norden eroberten, führte dies zu einer großen Flüchtlingskrise. Entwurzelte Israeliten flohen nach Süden in das politisch noch halbwegs intakte Juda und zuletzt nach Jerusalem. Die Stadt war so überfüllt, dass König Hiskia durch einen gewaltigen Mauerbau die Fläche Jerusalems verdreifachen musste (Bieberstein, 2016, 6.3.3). Es bildete sich ein Heer von israelitischen Binnenflüchtlingen, die in judäischen Ortsgemeinschaften Aufnahme und Duldung suchten. Der Schutz des Fremden in der alttestamentlichen Rechtstradition hat hier vermutlich einen wesentlichen historischen Haftpunkt. Als ein Jahrhundert später der neubabylonische Herrscher Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) Jerusalem belagerte, eroberte und 587 v. Chr. zerstörte, versuchten sich die Judäerinnen und Judäer vorher in die ostjordanischen Nachbarstaaten Moab und Edom in Sicherheit zu bringen, in der Hoffnung, nach dem Ende der Kämpfe wieder in ihr zerstörtes Land zurückkehren zu können (Jes 16). Auch Ägypten im Süden war ein ersehntes Fluchtziel, wenn der Feind von Norden anrückte (Jer 43). Massendeportationen als Zwangsmaßnahme imperialer Herrschaft hatten schon die Assyrer in beträchtlichem Umfang eingesetzt. Davon waren auch Israel und Juda betroffen. In langen Trecks wurden vor allem Angehörige der Oberschichten in andere Länder des Imperiums „umgesiedelt“ und Menschen aus anderen Weltgegenden in Israel „angesiedelt“ (2 Kön 17).

Israelitische Kriegsgefangene wurden, sofern sie nicht sofort getötet wurden, für Sklavenarbeiten bei baulichen Prestigeprojekten in den assyrischen Königsstädten eingesetzt. Die babylonischen Herrscher haben diese Praxis beibehalten, aber etwas „humaner“ gestaltet, weil sie den judäischen Deportierten in Babylon zugestanden, gemeinsam zu siedeln. So konnten sie als Gruppe im Exil überleben, während die von Assyrien deportierten Nordisraeliten (zehn Stämme Israels) in der Migrationsgeschichte des Altertums verschwunden sind und sich ihre Spuren in den multikulturellen Zielgesellschaften kaum mehr aufspüren lassen.

Der assyrische König Sanherib (705-681 v. Chr.) hat die Eroberung der judäischen Stadt Lachisch 701 v. Chr. in einem großformatigen, detailreichen Alabaster-Relief darstellen lassen und an hervorgehobener Stelle in seinem Königspalast in Ninive präsentiert (heute im British Museum). Es zeigt fliehende judäische Frauen aus der belagerten Stadt (Abb. 1) sowie die Deportation von judäischen Frauen, Kindern und Männern, die zu Fuß und mit Ochsenwagen den beschwerlichen Weg in die Fremde antreten mussten (Abb. 2).

Flucht als Thema der Bibel 1

Flucht als Thema der Bibel 2

3.2. Hunger und wirtschaftliche Not

Neben dem Krieg werden am häufigsten wirtschaftliche Notlagen, vor allem Dürren und Hungersnöte (→ Hunger/Hungersnot (AT)), genannt: So flieht Abraham mit seiner Frau Sara nach Ägypten (Gen 12,10-20), Isaak und Rebekka müssen ins Gebiet der Philister (Gen 26) ausweichen. Wegen einer viele Jahre anhaltenden Hungersnot siedelt die Jakobfamilie nach Ägypten um. Auch in der Ruterzählung ist eine Hungersnot in Betlehem der Grund für die Flucht der Familie Elimelechs nach Moab. All diese biblischen Fluchtgeschichten aus wirtschaftlicher Not werden als erfolgreiche erzählt, jedenfalls in der Hinsicht, dass die Geflohenen Aufnahme und Auskommen am anderen Ort finden und ihr Überleben sichern können. In der Bibel weist kein Herrscher eines Ziellandes Hungermigranten zurück. Freilich ergeben sich dann manchmal andere Komplikationen zwischen Migranten und Ortsansässigen, etwa um die Nutzung von Wasser und anderen Ressourcen wie bei Isaak und Rebekka im Philisterland (Gen 26).

3.3. Familiäre oder politische Konflikte

Weitere Fluchtgründe sind familiäre Konflikte, in die Einzelne geraten: Jakob flieht aus Angst um sein Leben zur Verwandtschaft nach Mesopotamien, nachdem er seinen älteren Bruder Esau um den Erstgeburtssegen betrogen hat, und kehrt erst viele Jahre später zurück. In der Abrahamfamilie kommt es zum Konflikt zwischen Sara und ihrer ägyptischen Sklavin Hagar, der dazu führt, dass die von Abraham schwangere Hagar allein in die Wüste flieht (Gen 16). Später wiederholt sich das Drama nicht als Flucht-, sondern als Vertreibungsgeschichte (Gen 21). Beide Male führen Flucht und Vertreibung nicht in den erwartbaren, sicheren Tod, vielmehr zur Erfahrung göttlicher Rettung in der Wüste. In der Josefsgeschichte ist es ein familiärer Konflikt, der dazu führt, dass Josef von seinen Brüdern als Sklave verkauft und nach Ägypten verschleppt wird.

Fluchtursachen können aber auch politische Konflikte sein. Menschen fliehen, um politischer Verfolgung zu entgehen: So flieht David, einst glorreicher Heerführer im Dienst König Sauls, mit seinen Getreuen vor den Nachstellungen des Königs – zuerst in die judäische Wüste, dann zu den Philistern (1 Sam 19-30). Später muss David – von seinem eigenen Sohn als König entmachtet – aus Jerusalem fliehen (2 Sam 15). Aber auch der Brudermörder Abschalom flieht aus Jerusalem (2 Sam 13). Mose flieht in die Wüste nach Midian, nachdem er einen Sklavenaufseher erschlagen hat (Ex 2). Auch Josef und Maria fliehen wegen politischer Verfolgung aus Betlehem nach Ägypten (Mt 2). In der Geschichte König Salomos wird erzählt, wie Jerobeam, ein Fronaufseher Salomos, mit einem Aufstandsversuch scheitert und wiederum nach Ägypten ins politische Exil flieht, um nach seiner Rückkehr dann der erste König des Nordreichs zu werden (1 Kön 11f.). Der Prophet Urija, ein Zeitgenosse Jeremias, hat da sehr viel weniger Glück. Seine Königskritik in Jerusalem zwingt ihn zur Flucht – wieder in das Land am Nil. Darauf schickt der judäische König eine Geheimdienstmission nach Ägypten, lässt Urija „kidnappen“ und nach Jerusalem zurückbringen, wo der missliebige Prophet getötet wird (Jer 26). Vom Propheten Elija wird erzählt, wie er vor König Ahab und Isebel um sein Leben flieht. Er schafft es bis in die Wüste von Beerscheba, wirft sich unter einen Ginsterstrauch und ist so erschöpft, dass er nur noch sterben will. Auch der Flüchtling Elija wird von Gott in der Wüste gefunden, wie einst der sterbensmatte Ismael, und mit Speise und Trank versorgt (1 Kön 19).

3.4. Theologische und ethische Dimensionen

Die stärkste theologische Prägekraft indes entfaltet Israels Flucht aus der Knechtschaft in Ägypten. Es ist sehr auffällig, dass Israels Gründungserzählung, die sein Gottesverständnis zutiefst prägt, die Befreiung aus der Sklaverei, als Migrationsgeschichte von Flucht und Vertreibung erzählt und in der Pesach-Tradition immer wieder erinnert wird. Die Ahnen Israels werden in vielschichtigen Zusammenhängen als Migranten (und nicht als Nomaden!) gezeigt. Die biblischen Gründungserzählungen sind erfahrungsgesättigte Migrationsgeschichten. Ein beim Erntedankfest zu sprechendes Glaubensbekenntnis beginnt: „Ein umherirrender Aramäer war mein Vater …“ (Dtn 26,5 → Credo, kleines geschichtliches). Für das Gottesverständnis ergibt sich daraus das Bekenntnis zum befreienden und mit seinem Volk mitgehenden Exodusgott. Und für die Ethik die Forderung, den Migranten, der in deinen Toren weilt, nicht zu unterdrücken, weil du selbst Fremdling gewesen bist in Ägypten (Ex 22,20 und öfter; Ebach, 2016).

Das Schutzrecht für Fremde (Kessler, 2016; → Fremder (AT)) ist zentraler Bestandteil aller biblischen Rechtssammlungen und es findet sich in dieser Weise nirgends sonst in den antiken Rechtskulturen. Es wird mit den eigenen Migrationserfahrungen begründet, in der Hoffnung, dass jemand mit Migranten anders umgeht, wenn er sich an seine eigene Migrationsgeschichte erinnert. Häufig wird man an israelitische Binnenflüchtlinge zu denken haben, aber nicht selten ist auch der ethnisch Fremde mitgemeint. Da diese Zugewanderten keinen Anteil am bewirtschafteten Land hatten, konnten sie sich nur als Tagelöhner und Landarbeiter verdingen, mit einem hohen Armutsrisiko und einem entsprechend niedrigen Sozialstatus in den aufnehmenden Ortsgemeinschaften. So werden die Fremden immer wieder neben „Witwen, Waisen und Armen“ als prekär lebende Personengruppe aufgeführt, die eines besonderen Schutzes bedarf (Kessler, 2016).

Wie verhält es sich mit den biblischen Fluchterfahrungen? Hier gilt, dass diese fast immer als erfolgreiche Fluchten geschildert werden, entweder, weil Gott die Flüchtenden rettet und bewahrt oder weil die aufnehmende Gesellschaft sich als großzügig erweist. Kaum ein Flüchtling in der Bibel wird aufgegriffen und zurückgebracht, oder es wird ihm am Zielort die Aufnahme verweigert. Gott begegnet als Fluchthelfer und Retter. Dies erscheint mir bemerkenswert, weil sich ja durchaus Narrative denken lassen, die Flucht oder Auswanderung ethisch und theologisch stigmatisieren, um einen bestimmten gesellschaftlichen Status quo abzusichern, Abwanderung zu verhindern oder die Menschen aus anderen Gründen von Fluchtplänen abzubringen. Man gewinnt einen anderen Eindruck: Zwangsmigrationen werden als Notlagen gesehen, die unterschiedliche Menschen treffen können. Wenn sie aber eintreffen, dann ist Gott als Helfer nicht weit.

Dieser eher allgemeine Überblick kann mit Hilfe der Auflistung von biblischen Fluchtgeschichten (siehe Anhang) weiter vertieft werden. Nun soll Exemplarisches an einigen Details gezeigt werden.

4. Exemplarische Beobachtungen

4.1. Sparsamkeit biblischer Narrative

Biblische Erzählungen sind sparsam mit der Ausgestaltung konkreter Notsituationen oder emotionaler Zustände. Die biblische Erzählsprache neigt nicht zum Voyeurismus der Gewalt. Das hat zur Folge, dass wir oft nur knappe Handlungsschilderungen finden, die schnell überlesen werden, weil wir nicht mehr gewohnt sind, die Schwere und Dramatik der geschilderten Vorgänge hinter dem reduzierten Sprachmaterial zu entdecken. Hier läge eine Chance für eine migrationssensible Bibeldidaktik zu einer empathischen Imagination dieser reduzierten Narrative zu kommen, um ihren Erfahrungsgehalt für uns heute wiederzugewinnen und zu entfalten. Ein Beispiel haben wir schon gesehen. Gott spricht zu Abraham: „Geh aus deinem Land, deiner Sippe, deinem Vaterhaus, in ein Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Das sind im Hebräischen nur wenige schlichte Worte, in denen sich die ganze lebensgefährliche Härte dieses durch nichts gesicherten Aufbruchs ausspricht. Kaum im Land Kanaan angekommen, zwingt eine Hungersnot Abram und Sarai zur Flucht nach Ägypten:

Es kam aber eine Hungersnot über das Land. Da zog Abram nach Ägypten hinab, um dort als Fremder zu weilen, denn die Hungersnot lastete schwer auf dem Land (Gen 12,10).

Hier markiert der Hinweis auf eine doppelt erwähnte, schwere Hungersnot nur den situativen Rahmen, um die Flucht nach Ägypten zu plausibilisieren. Etwas ausführlicher wird das grausame Schicksal einer Hungermigration am Beginn des Rutbuches summarisch erfasst:

Und zu der Zeit, als die Richter für Recht sorgten und eine Hungersnot im Land war, zog ein Mann aus Betlehem in Juda mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen fort, um sich als Fremder auf dem Land von Moab niederzulassen. … Und sie kamen auf das Land von Moab und blieben dort. 3 Und Elimelech, der Mann der Noomi, starb, und sie blieb zurück mit ihren beiden Söhnen. 4 Und diese nahmen sich moabitische Frauen … Und sie blieben um die zehn Jahre dort. 5 Und auch die beiden (Söhne), Machlon und Kiljon, starben, und die Frau blieb zurück, ohne ihre beiden Kinder und ohne ihren Mann. … Und sie verließ den Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter waren bei ihr (Rut 1,1-5).

Was hinter den Sätzen steht, lässt sich leicht ausmalen: Der Regen bleibt über Jahre weitgehend aus, die Erde vertrocknet, die Ernteerträge fallen aus, das Vieh findet kein Futter und muss geschlachtet werden. Kinder magern ab und werden krank. Was tun? Sollen wir gehen oder lieber bleiben? Die Familie in Betlehem versucht irgendwie, das Überleben zu sichern, bis es nicht mehr geht und sie die schwere Entscheidung triff, das eigene Lebensumfeld, in dem die Familie seit Menschengedenken gelebt hat, hinter sich zu lassen. Jetzt kommen die Angst vor dem Aufbruch und den Gefahren des Weges hinzu, das Zurücklassen der Verwandten und Freunde, das Aufkündigen der Solidargemeinschaft eines Ortes, die Unsicherheit über die Zukunft, die Ankunft am neuen Ort … Aber wider Erwarten gelingt das Überleben am Ort der Zuflucht. Die Söhne heiraten, gründen Familien. Wenigstens für die Kinder hat sich die Flucht gelohnt, die Noomis Mann Abimelech nicht lange überlegt hat. Dann sterben auch beide Söhne. Was Noomi bleibt, ist die bittere Erfahrung, wie alles, wofür sie das Risiko und die Mühsal der Flucht auf sich genommen hat, ihr wieder aus der Hand gleitet. Dies und noch vielmehr ist hier in der knappen Handlungsschilderung eher angedeutet als ausgesprochen. Die katastrophalen Auswirkungen von Dürre und Hunger werden in prophetischen Texten und Dürreklagen deutlich detaillierter beschrieben als in den Erzähltexten (vgl. Jer 14; Joel 1-2; → Hunger/Hungersnot (AT)) und können von hier aus entfaltet und bearbeitet werden.

4.2. Drei Räume der Flucht

Fluchtgeschichten haben es tendenziell mit drei unterschiedlichen Räumen und Situationen zu tun. Da ist zum einen die Ausgangssituation am vertrauten Ort, die aber für die Betreffenden so überlebensschwer geworden ist, dass sie das Wagnis der Flucht einzugehen gezwungen sind. Da ist zum anderen der Weg mit seinen Gefahren und Unsicherheiten, auf dem man Nahrung, Schutz und Hilfe braucht, um auch nur den nächsten Tag zu überstehen. Und drittens geht es um den Raum des Ankommens, um die Problematik der Aufnahme, den eigenen Status als zugewanderter „Fremder“, um die Begegnung mit den Ortsansässigen, das Überleben am fremden Ort usw. Eine migrationssensible Bibellektüre hätte darauf zu achten, wie diese drei Räume/Situationen dargestellt und zueinander in Beziehung gesetzt, und wie sie durch die Protagonisten reflektiert werden.

4.3. Biblische Reflexionen von Fluchterfahrungen

Gelegentlich finden sich Wahrnehmungen und Deutung von Fluchterfahrungen der Betroffenen.

4.3.1. „Du bist mein Gott, der mich rettend angesehen hat …“

So dankt die von einem Gottesboten (Engel) in der Wüste gefundene schwangere Hagar, indem sie Gott einen neuen Namen gibt, der ihre Errettung festhält: Du bist El Roi (der Gott, der mich rettend angesehen hat). So wird der Brunnen Beer-Lachai-Roi in Israel zum Denkmal ihrer Rettung auf der Flucht aus Abrahams Haus (Gen 16,13).

4.3.2. „Wären wir doch in Ägypten geblieben …“

Eine weitere Selbstreflexion von Flüchtenden wird in den Episoden vom „Murren in der Wüste“ (Ex 15,24;16,2 und öfter, → Wüstenwanderung) eingefangen, wo das Volk Israel zurück will nach Ägypten, zum Ort seiner Knechtschaft. „Wären wir doch durch die Hand Jhwhs im Land Ägypten gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen, als wir uns satt essen konnten an Brot“ (Ex 16,3). Angesichts von Wasser- und Nahrungsmangel, den Gefahren des Weges, und der ungesicherten Freiheit wird die Sehnsucht nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“ und der Sicherheit der Sklaverei riesengroß. Eine nachvollziehbare Reaktion, aber natürlich ist es eine nostalgische Projektion, denn welche Sklavinnen und Sklaven hätten je vor Fleischtöpfen gesessen? Diese Sehnsucht spiegelt die Schwierigkeiten des Weges und kann vielleicht als geradezu klassische Migrationsreflexion gelten: Die Verhältnisse, die zur Flucht geführt haben, werden angesichts der gegenwärtigen Überlebensnot des Weges verdrängt und nostalgisch durch ein Idealbild ersetzt, das als Gegenbild der aktuellen Notlage konstruiert wird.

4.3.3. Noomi: „mit leeren Händen …“

Während die Israeliten in der Wüste eine Rückkehr zu „Ägyptens Fleischtöpfen“ erträumen, wird in der Ruterzählung von einer letztlich gescheiterten Migration und einer Rückkehr in Armut und Bitternis erzählt. Zwar gelingt es Noomi und ihrer Familie, in Moab dem Hunger zu entgehen. Aber der Tod des Ehemannes und später auch der Söhne zwingt Noomi nach mehr als 10 Jahren zur Rückkehr. Was sie dazu drängt, wird nicht gesagt. Vielleicht ist es auch die Heimkehrsehnsucht des Alters. Aber es ist eine Rückkehr in Armut und gewiss auch in Schande, weil die Hungerflucht nach Moab nicht in einem dauerhaften Erfolg mündete. Als Noomi nach Betlehem zurückkehrt, wird sie von den Frauen von Betlehem dennoch wiedererkannt: „Ist das nicht Noomi?“ Darauf erwidert sie:

Nennt mich nicht Noomi (die Liebliche), nennt mich Mara (die Bittere), denn Schaddai hat mich sehr bitter gemacht. Reich bin ich (einst aus-) gegangen, und mit leeren Händen hat Jhwh mich zurückkehren lassen. Warum nennt ihr mich Noomi, da doch Jhwh gegen mich gesprochen, Schaddai mir Schlimmes angetan hat (Rut 1,20f.).

In diesen Worten gewinnen der ganze Schmerz, die traumatischen Erfahrungen und die tiefe Lebensverbitterung Noomis Gestalt. Auch in dieser Migrationsreflexion dominiert die gegenwärtige Erfahrung über ein realistisches Bild ihrer Migration: Denn sie sagt: „Reich, d.h. in Fülle bin ich (einst aus-) gegangen.“ Dabei haben wir nicht vergessen, dass es eine schwere Hungersnot war, die Noomis Familie zur Flucht nach Moab getrieben hatte. Aber in der Rückschau wird auch diese Hungersnot zu einer Situation der Fülle verklärt. Denkbar ist allerdings auch, dass Noomi bei ihrer Einschätzung vor allem an ihre in der Fremde Verstorbenen denkt, die alle drei noch lebten, als sie aus Betlehem ausgewanderten. Eine gleichfalls depremierte Einschätzung seiner Migrationserfahrungen gibt der greise Jakob, nachdem er mit seiner Familie ins reiche Kornland Ägypten übersiedeln durfte und sogar vom Pharao begrüßt wird (Gen 47,8).

4.3.4. Namengebung

Sehr persönliche Migrationsreflexionen finden sich auch in den Namen, die biblische Migranten ihren Kindern geben. So nennt Mose seine Söhne Gerschom, denn er hatte gesagt: Als Fremder bin ich aufgenommen in fremdem Land. Der andere aber hieß Elieser, denn er hatte gesagt: Der Gott meines Vaters ist meine Hilfe, er hat mich (auf der Flucht) vor dem Schwert des Pharao gerettet (Ex 18,3f.). Auch der in Ägypten aufgestiegene Josef deutet in den Namen seiner Söhne Efraim und Manasse sein Migrantendasein in höchst ambivalenter Weise (Gen 41,50-53, Naumann, 2017).

5. Gott als Fluchthelfer und als Fremder

Wir hatten gesehen, dass Gott die Flüchtlinge unterstützt, nicht immer so grandios und wunderbar errettet wie das Volk Israel in der Wüste oder Hagar und Ismael, aber doch notleidende Migranten begleitet, versorgt und stützt. Diese Happy-End-Geschichten werden erzählt, um angesichts mannigfacher Erfahrungen von Gewaltmigration in Israel Hoffnung zu stiften oder an der Hoffnung festzuhalten, dass Gott die Sache der Flüchtige zu seiner Sache macht. Zweifellos stehen hinter einer solchen Hoffnungstheologie die Reflexion historischer Migrationserfahrungen (Flucht, Deportation, Exil u. Diaspora) in den politischen Wechselspielen der Jahrhunderte sowie Erfahrungen von zugewanderten Migranten in den judäischen Ortsgemeinden. Diese Reflexion führt in Israel zu einer Theologie, die Gott als befreienden und in die Wüste der Flucht mit seinem Volk mitgehenden Gott denken und davon erzählen kann. Denn wo Gefahr ist, da kann man sich an Gott wenden, zu ihm schreien, dann ist der rettende Gott nah. Dieser Gott kann dann auch von seinem Bundesvolk verlangen, dass es mit Migranten im eigenen Land rechtlich fair umgeht (Kessler, 2016; Ebach, 2016. → Fremder (AT)). Dieser theologische Zusammenhang kann dann auch noch weiter gesteigert werden, indem erzählt wird, dass sich Gott selbst im schutzsuchenden Fremden zeigt und zeigen kann. Das führt zum Motivkomplex der Theoxenie, der sich nicht nur in der Bibel, sondern auch in der griechisch-römischen Überlieferung vielfach findet (z.B. Philemon und Baukis). Wir begegnen ihm in Abrahams Zelt von Mamre (Gen 18) wie im Haus der Jünger von Emmaus (Luk 24) oder in Jesu Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25). Das Theoxenie-Motiv zeigt: Im schutzbedürftigen Fremden begegnet Gott selbst und wer ihn aufnimmt, nimmt Gott auf (Naumann, 2018, 64-68).

6. Impulse für Bibeldidaktik und Theologie

Vor allem möchte ich auf den Reichtum an biblischen Fluchtgeschichten verweisen. Neben den beiden Klassikern im Religionsunterricht gibt es noch eine Vielzahl weiterer auch religionsdidaktisch interessanter Texte, von denen ich nur wenige erwähnt und die ich erweitert im Anhang aufgelistet habe. So bietet etwa die (protestantisch) weitgehend unbekannte Tobit-Erzählung, die unter den von Assyrern nach Ninive deportierten Nordisraeliten spielt, eindrucksvolle Migrationsliteratur. Auch bekannte Erzählungen erscheinen in einem anderen Licht, wenn man sie unter der Perspektive von Migrationserfahrungen studiert.

Von biblischen und von modernen Migrationserfahrungen her kann der Erfahrungsgehalt reduzierter biblischer Narrative empathisch wieder gewonnen werden, wie dies exemplarisch Tamez (2016) und Vorholt (2016) versuchen und wie dies in den zahlreichen religionspädagogischen Themenheften zur Fluchtthematik auch bereits geschieht. Wir sollten auch unsere verharmlosende Sprache überdenken, wenn wir vom „Auszug“ Israels aus Ägypten reden, als sei es eine Prozession zum Feiertag und kein Ausbruch aus dem Sklavenhaus in höchster Not, oder von Israels Wüstenwanderung, als sei es eine Rucksack-Tour in die Berge des Sinai.

Das biblische Bekenntnis zu einem Gott, der den Flüchtenden beisteht, sie rettet und als mitgehender Gott auf diesem Weg begleitet, verdankt sich der theologischen Reflexion altisraelitischer Migrationserfahrungen. Diese führten dazu, dass sich im frühen Judentum trotz der Bedeutung Jerusalems und seines Tempels ortsunabhängige und golaorientierte Identitätsmuster ausgebildet haben, an welche die frühchristliche Mission unter den Bedingungen der römischen Globalisierung anknüpfen konnte. Auch die Kirche versteht sich als durch die Zeiten wanderndes Gottesvolk, dessen Heimat im Himmel ist. Allerdings werden in Migrationstheologien der Gegenwart gelegentlich biblische Erfahrungen von Zwangsmigration in bester Absicht, aber meines Erachtens doch vorschnell heilsgeschichtlich geadelt und als „Erfahrungen der Gnade“ oder „Lernchancen des Glaubens“ apostrophiert. Hier würde ich sehr zur Vorsicht raten: Flucht und Vertreibung sind auch in der Bibel vor allem (ungeheure) Erfahrungen der Krise, die nicht nivelliert werden dürfen. Eine solche erzwungene Migration als Flucht, Vertreibung, Deportation sollte auch nicht mit anderen etablierten theologisch bestimmten Bewegungsmetaphern verbunden werden. Zu solchen Metaphern der Bewegung gehören die Rede vom „wandernden Gottesvolk“, von der „irdischen Pilgerschaft der Kirche“, aber auch die sogenannte „Vertreibung aus dem Paradies“, die jedes menschliche Leben als „jenseits von Eden“ bestimmt. All dies hat mit biblischen Fluchterfahrungen nichts zu tun. Denn in den kirchlich etablierten Bewegungsmetaphern wird das Unterwegssein als (vorbildhafte oder urbildhafte) Existenzweise unterschiedslos für alle Menschen gesehen. Darum geht es in den biblischen Fluchtgeschichten gerade nicht. Flucht und Vertreibung sind immer leidvolles Schicksal Einzelner oder von Gruppen und solche Zwangsmigrationen stehen im Hoffnungshorizont neuer Bleibe. Angesichts solcher Leiderfahrungen, die häufig als Fluch und Gottesferne erlebt werden, stellt sich (mit Noomi) eher die Theodizeefrage, als dass sich die Gewissheit einstellt, in einer „Lernschule des Glaubens“ unterwegs zu sein. Theologie und Religionspädagogik tun gut daran, bei ihrer Reflexion und Deutung von Migrationserfahrungen vor allem auf die Betroffenen zu hören.

Literaturverzeichnis

  • Bieberstein, Klaus, Art. Jerusalem, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2016 (Zugriffsdatum: 09.10.2018).
  • Claussen, Johann H., Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München 2018.
  • Ebach, Jürgen, Flucht und Migration in der Bibel, Vortrag in der Evangelischen Kirche im Rheinland am 10. Januar 2016. Online unter: http://jugend.ekir.de/Bilderintern/20160310_Flucht_VortragEbach.pdf, abgerufen am 09.10.2018.
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Anhang: Fluchtgeschichten der Bibel – eine Übersicht in kanonischer Reihenfolge

Altes Testament

  • Abraham und Sara fliehen in einer Hungersnot nach Ägypten (Gen 12,10-20).
  • Isaak und Rebekka fliehen in einer Hungersnot ins Philisterland (Gen 26).
  • Die ägyptische Sklavin Hagar flieht vor den Drangsalierungen Saras in die Wüste, wo sie von einem Boten Jhwhs gefunden und gerettet, aber auch zurück geschickt wird (Gen 16).
  • Lot und seine Familie fliehen aus Sodom, Lots Frau sieht zurück und erstarrt zur Salzsäule (Gen 19).
  • Hagar und Ismael werden auf Saras und Gottes Geheiß von Abraham in die Wüste vertrieben und von Gott gerettet und versorgt (Gen 21).
  • Jakob flieht vor seinem Bruder Esau nach Mesopotamien und bleibt dort viele Jahre (Gen 27ff.).
  • Josef wird von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft (Gen 27-50) – seine Brüder ziehen wegen einer Hungersnot nach Ägypten (Gen 42), später folgt die ganze Familie Jakobs dem Weg der Hungermigration.
  • Mose flieht als Totschläger aus Ägypten nach Midian, wo er Aufnahme, seine Frau Zippora und einen klugen Schwiegervater findet (Ex 2;18).
  • Das Volk Israel flieht aus der ägyptischen Knechtschaft (Ex 12-15) und wird von Gott gerettet und in der Wüste versorgt.
  • Das Volk Israel murrt und wünscht sich zurück nach Ägypten (z.B. Ex 15,24;16,2.7-11;17,3; Num 14,2.27.29.36;17,6; Dtn 1,27; Ps 106,25).
  • Noomi und Elimelech fliehen in einer Hungersnot aus Betlehem nach Moab, von wo Noomi und Rut nach 10 Jahren nach Betlehem zurückkehren (Rut 1).
  • Rut verlässt ihre Heimat und lässt sich auf ein fremdes Lebensumfeld ein, um Noomi beizustehen.
  • Der Prophet Elija flieht in einer Dürre und Hungersnot ins Ostjordanland, wo er am Bach Kerit von Raben ernährt wird, danach nach Zarepta in Phönizien, wo er eine Witwe und ihren Sohn vor dem Hungertod bewahrt (1 Kön 17).
  • Ein weiteres Mal flieht Elia aus politischen Gründen vor König Ahab und Königin Isebel in die südliche Wüste, wo er in großer Erschöpfung von einem Gottesboten wunderbar ernährt wird, so dass er den Gottesberg erreichen kann (1Kön 19).
  • Die Frau von Schunem flieht wegen einer Hungersnot ins Land der Philister und bleibt dort sieben Jahre, bis sie zurückkehrt (2 Kön 8,1-6).
  • David flieht vor den Nachstellungen Sauls in die judäische Wüste (1 Sam 19f.), später zu den Philistern.
  • Abschalom flieht ins Königreich von Geschur, weil er die Vergewaltigung seiner Schwester Tamar an seinenHalbbruder Amnon durch heimtückischen Mord gerächt hatte (2 Sam 13).
  • David flieht vor seinem Sohn Abschalom, der ihn als König entmachtet hatte, aus Jerusalem (2 Sam 15).
  • Jerobeam flieht vor dem Frondienst Salomos nach Ägypten und wird nach seiner Rückkehr der erste König des Nordreichs Israel (1 Kön 11-12).
  • Der judäische König Zidkija flieht während der Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar durch eine Bresche in der Mauer an den Jordan, wird aber gefangen, in Ribla geblendet und zusammen mit der Jerusalemer Oberschicht nach Babylon deportiert (2 Kön 24,1-25,21).
  • Judäerinnen und Judäer fliehen vor dem Krieg um Jerusalem ins Ostjordanland (Moab, Ammon, Jes 15-16).
  • Der königskritische Prophet Urija flieht nach Ägypten, wird von dort zurückgeholt und in Jerusalem getötet (Jer 26,20-23).
  • Der Prophet Jona flieht vor dem Auftrag Gottes ans andere Ende der Welt (Jona 1).
  • Der nach Assyrien (Ninive) deportierte und dort zu Einfluss gekommene Tobit muss aus Ninive fliehen, weil der neue assyrische Herrscher ihm nach dem Leben trachtete (Tobit 1). Insgesamt bietet die Tobiterzählung, die unter den nach Ninive Deportierten Nordisraeliten spielt, eine der facettenreichsten biblischen Migrationserzählungen.
  • Die biblischen Diasporaerzählungen (Josef, Daniel, Ester, Tobit) setzen die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Deportation voraus.

Neues Testament

  • Die Familie Jesu flieht vor politischer Verfolgung von Betlehem nach Ägypten (Mt 2,13-15).
  • Die Jerusalemer Urgemeinde wird verfolgt und viele fliehen nach Judäa und Samaria (Apg 8,1f.).
  • Paulus muss aus Damaskus um sein Leben fliehen und wird mit einem Korb die Stadtmauer herunter gelassen (Apg 9,23-25; 2 Kor 11,32-33).
  • Der von Herodes inhaftierte Petrus kann mit Gottes Hilfe aus dem Gefängnis fliehen (Apg 12,16).

Abbildungsverzeichnis

  • Flüchtende judäische Frauen verlassen die von den Assyrern 701 v. Chr. belagerte judäische Stadt Lachisch (Südwestpalast in Ninive), in: Ussishkin, David, The Conquest of Lachish by Sennacherib, Tel Aviv 1982.
  • Deportation judäischer Frauen, Kinder und Männer aus der durch die Assyrer 701 v. Chr. eroberten Stadt Lachisch (Südwestpalast in Ninive), in: Ussishkin, David, The Conquest of Lachish by Sennacherib, Tel Aviv 1982.

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