Deutsche Bibelgesellschaft

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD

Schlagworte: KMU; Church Membership Survey; Evangelische Kirche in Deutschland; Protestant Church in Germany

(erstellt: März 2024)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400038

1. Bildungspolitische und religionspädagogische Implikationen der KMU seit 1972

Seit dem Jahr 1972 bereichern die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das empirische Wissen über das Partizipationsverhalten an kirchlichen Angeboten und die damit verbundenen Erwartungen, Erfahrungen und Enttäuschungen. Die KMU sind daher „in ihrer Differenziertheit und als über mehrere Jahrzehnte fortgesetzte Zeitreihen-Untersuchung kirchensoziologisch weltweit einzigartig und haben mit ihren Ergebnissen die deutschsprachige Praktische Theologie maßgeblich beeinflusst“ (Hauschildt/Pohl-Patalong, 2013, 316). Kirchentheoretische und praktisch-theologische Fragestellungen standen im Zentrum des Erkenntnisinteresses der KMU I-IV (1972-2002). Erst in den beiden letzten Untersuchungen (2012 und 2022) haben bildungstheoretische (→ Bildungstheorie) und religionspädagogische (→ Religionspädagogik) Fragestellungen an Bedeutung gewonnen.

Die kirchen- und bildungspolitischen Aspekte der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD hat Johannes Wischmeyer (2023) in einem Artikel differenziert dargelegt. Bezogen auf notwendige Reformen sieht der Leiter der Abteilung Kirchliche Handlungsfelder im EKD-Kirchenamt und Geschäftsführer der KMU VI vor allem drei Dilemmata:

  1. 1.„Einerseits spricht mit Blick auf sich rasant verändernde Rahmenbedingungen viel dafür, dass Kirche neue Praxisformate erprobt – innovativ, fluide und agil. Demgegenüber ist sie angesichts schwindender Ressourcen darauf angewiesen, ihr Handeln zu professionalisieren, Strukturen zwecks Synergiegewinn zu konzentrieren und mit dem Ziel der Erkennbarkeit zu profilieren. Wie gelingt es, dieses organisationslogische Dilemma aufzulösen?
  2. 2.Die Mehrheit der Bevölkerung, gleich ob Kirchenmitglieder oder Konfessionslose, hat an die Kirchen in erster Linie gesellschaftsdiakonische Erwartungen. Demgegenüber steht der religiöse Auftrag der Kirche, auch wenn Angebote liturgischer oder ritueller Praxis und geistlich-theologische Sinndeutung empirisch weniger gefragt sind. Wie gelingt es, dieses strategische Dilemma aufzulösen?
  3. 3.Angesichts allseitiger Reformerwartungen tun Kirchen gut daran, kirchenentwicklerisch aktiv zu werden und mit hohem Einsatz innovative Formate zu erproben. Demgegenüber steht die Notwendigkeit, für die zwar im Gesamtmaßstab minderheitliche, zahlenmäßig jedoch nach wie vor relevante Gruppe der hochverbundenen Kirchlich-Religiösen verlässlich dazusein und auf ihre Ansprüche einzugehen. Wie gelingt es, dieses motivationale Dilemma aufzulösen?“ (Wischmeyer, 2023, 368f.)

Die Stärke der KMU besteht u.a. darin, in methodischer Anlehnung an die empirische (politische) Meinungsforschung und (ökonomische) Marktforschung Einstellungen, Erwartungen, Erfahrungen und Enttäuschungen gegenüber kirchlichen Institutionen und Angeboten zu messen. Inwieweit quantitative Verfahren und Zustimmungsquoten zu Einzelitems auch dazu geeignet sind, Glaube und Religiosität angemessen zu beschreiben, ist in der Forschung umstritten. Kristin Merle, Reiner Anselm und Uta Pohl-Patalong (2023) kritisieren zudem in der KMU VI eine unzureichende Differenzierung von Religiosität und Kirchlichkeit, die einseitig säkularisierungstheoretische Lesart der KMU-Daten, die Ignoranz gegenüber individuellen Transzendenzvorstellungen (und damit der Individualisierungsthese von Religion) und die problematischen Konsequenzen, die aus einer allein säkularisierungstheoretischen Lesart der Daten gegenüber der Öffentlichkeit entstehen.

2. Kirchentheoretische und praktisch-theologische Fragestellungen der KMU I-IV (1972-2002)

Alle zehn Jahre erweiterten die von einem Beirat unterstützten Verantwortlichen der KMU den etablierten Fragenkatalog um neue Items, Themen (z.B. Milieuanalysen, → Milieu und Religion) Adressatinnen und Adressaten (z.B. Konfessionslose, → Konfessionslosigkeit) sowie Forschungsmethoden (z.B. Gruppendiskussionen, → Moderierte Gruppendiskussion; → Qualitative Sozialforschung in der Religionspädagogik; → Forschungsmethoden, religionspädagogische). Federführend bei der Durchführung der Studien ist das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD in Hannover (siehe www.siekd.de).

Einen sehr guten Überblick über die kirchentheoretischen und praktisch-theologischen Fragestellungen der KMU I-IV geben Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong (2013):

  1. 1.„Wie stabil ist die Kirche?“ (1972): Mit der KMU I „betrat die Evangelische Kirche in Deutschland Neuland: Erstmals erteilte sie den Auftrag, die Perspektive der Kirchenmitglieder auf die Kirche wissenschaftlich strukturiert zu untersuchen und damit ein schärferes Bild von der Einstellung der evangelischen Kirchenmitglieder zur Kirche und ihren Erwartungen an sie zu gewinnen“ (Hauschildt/Pohl-Patalong, 2013, 316).
  2. 2.„Was wird aus der Kirche?“ (1982): Die KMU II „wollte zunächst an die erste Befragung anschließen und sozusagen im Längsschnitt nach möglichen Veränderungen nach zehn Jahren forschen, daher wurden im Wesentlichen die gleichen Fragen wie in der ersten Erhebung gestellt, manche jedoch auch modifiziert und ergänzt. Stärker als in der ersten Erhebung wurde der Aspekt familiärer und kirchlicher Sozialisation berücksichtigt, um das komplexe Phänomen ‚Kirchenbindung‘ differenzierter zu erfassen. Zudem wurde der Theorierahmen um ein Interesse an Wissensbeständen von Kirchenmitgliedern und Vorstellungen von Kirche erweitert“ (Hauschildt/Pohl-Patalong, 2013, 318; → Sozialisation, religiöse).
  3. 3.„Fremde Heimat Kirche“ (1992): Fünf Innovationen prägen die KMU III: „a. Der quantitative Ansatz, der sich an der Zustimmung oder Ablehnung zu standardisierten Antwortmöglichkeiten orientiert, wurde um einen qualitativen Zugang erweitert […] b. Die Studie ist gesamtdeutsch angelegt und differenziert zwischen Kirchenmitgliedern in Ostdeutschland und Westdeutschland. c. Aufgrund der Minderheitensituation von Kirchenmitgliedern in Ostdeutschland wurden jetzt zusätzlich Konfessionslose befragt […] d. Aufgrund der gewachsenen religiösen Pluralität in Verbindung mit dem neuen Interesse am Thema Religion und ihren Erscheinungsformen außerhalb der verfassten Kirchen wurde die persönliche Religiosität jetzt stärker berücksichtigt […] e. Zudem wurde stärker genderdifferenziert ausgewertet, so dass Geschlechterdifferenzen in der persönlichen Religiosität und in der Einstellung zur Kirche noch deutlicher wurden“ (Hauschildt/Pohl-Patalong, 2013, 319f.).
  4. 4.„Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ (2002): Die KMU IV „steht in sachlicher Kontinuität zu den bisherigen Untersuchungen, vor allem zu der dritten Befragung: Der Ansatz, Kirche als Organisation zu denken, wird beibehalten, ebenso das Interesse für die ‚treuen Kirchenfernen‘ und (seit der dritten Erhebung) auch für die Einstellungen der Konfessionslosen. […] Methodisch wurde der aus der dritten Erhebung übernommene qualitative Ansatz weiterentwickelt zu themenzentrierten Gruppendiskussionen in insgesamt 15 außerhalb der Erhebung bestehenden Gruppen (aus dem kirchlichen Kontext, aber auch aus Sportvereinen oder Ausbildungsgruppen)“ (Hauschildt/Pohl-Patalong, 2013, 321).

Zahlreiche Innovationen haben auch in die KMU V („Vernetzte Vielfalt“) und KMU VI (Arbeitstitel: „Wie hältst Du‘s mit der Kirche?“) Eingang gefunden: 2012 u.a. die überproportionale Berücksichtigung der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen und umfangreiche Netzwerkanalysen, um Jugendliche und junge Erwachsene als religiöse Akteure in ihren sozialen Beziehungen beschreiben zu können (Weyel/Hermelink, 2017), 2022 schließlich die erstmalige Beteiligung der römisch-katholischen Kirchen an der Repräsentativbefragung und weitere Innovationen (siehe unten).

3. Jugendliche und junge Erwachsene als Thema der KMU V (2012)

In der KMU V ist in religionspädagogischer Perspektive relevant, dass die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen überproportional berücksichtigt wurde. Über 2.000 Kirchenmitglieder und gut 1.000 Konfessionslose (→ Konfessionslosigkeit) beantworteten ca. 70 standardisierte Fragen, davon ca. 1.100 Jugendliche und junge Erwachsene im oben genannten Alter. Die biographisch bewegende Phase vor und nach der beruflichen Qualifikation konnte daher differenzierter als bisher analysiert werden. Da junge Erwachsene häufig mit Beginn einer Ausbildung den Kontakt zur Kirche verlieren und beim ersten eigenen Gehalt aus der Kirche austreten, stellt sich u.a. die Frage, welchen Religionsunterricht diese in ihrer Schulzeit besucht haben.

Auch wenn die umfangreiche Berücksichtigung junger Menschen in der Religionspädagogik durchweg begrüßt wurde, überwogen die kritischen Stimmen am Design der KMU V. Die Kritik bezog sich u.a. auf den impliziten Kirchenbegriff im Auswertungsband, der das Pfarramt und den Gottesdienst ins Zentrum stellt (Ilg, 2017, 322). Pfarrerinnen und Pfarrer wurden hier an 175 Stellen explizit thematisiert, und der Gottesdienst kam an 568 Stellen zur Sprache. Die pädagogischen Arbeitsfelder sind im Auswertungsband hingegen nicht oder nur am Rand im Blick.

Die unsachgemäße Schieflage zwischen den pädagogischen und nicht-pädagogischen Handlungsfeldern war bereits im Fragebogen der Untersuchung angelegt. Allein sieben Fragen beschäftigten sich ausschließlich mit der Pfarrperson, z.B.: „Kennen Sie die Pfarrerin bzw. den Pfarrer der Kirchgemeinde, in der Sie wohnen?“ (KMU V, 2015, 476). Darüber hinaus kommt die Pfarrperson als Antwortmöglichkeit in weiteren sechs Fragen in den Blick, z.B.: „An welchen Stellen kommen Sie oder sind bereits mit der evangelischen Kirche in Berührung gekommen?“ (KMU V, 2015, 519) Alle anderen kirchlichen Mitarbeitenden wurden in einem Item zusammengefasst und nicht ausdifferenziert. Erzieherinnen und Erzieher in evangelischen Kindertagesstätten und die Mitarbeitenden in der pädagogisch grundierten Jugend-, Familien-, Senioren- und kirchenmusikalischen Arbeit waren im Fragebogen unterrepräsentiert. Chronisch unterbelichtet waren insbesondere die Konfirmandenarbeit (→ Konfirmandenunterricht/Konfirmandinnenarbeit), der schulische Religionsunterricht und evangelische Kindertagesstätten (→ Kindertagesstätte) (dazu ausführlich Ilg, 2017).

Trotz dieser Defizite erlaubten die Daten der KMU V weiterführende Analysen in religionspädagogischer Perspektive, darunter zum sozialen Vertrauen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Bücher, 2017), zur Kommunikation von Sinnfragen unter jugendlichen Kirchenmitgliedern (Hohensee, 2017), zu den Einstellungen von Jugendlichen zu politischen und ethischen Gegenwartsfragen (Leonhard, 2017), zur religiösen Indifferenz, Nicht-Religiosität und religiösen Unentschiedenheit dieser Altersgruppe (Lorenzen, 2017), dem differenziert zu betrachtenden Phänomen der Konfessionslosigkeit (Lütze, 2017), zur Frage nach mediatisierten religiösen Kommunikationen unter Jugendlichen (Nord, 2017) und zum Verhältnis von Schülerinnen und Schülern zur (christlichen) Religion (Schröder, 2017a).

Neben dem impliziten Kirchenbild und der unzureichenden Berücksichtigung pädagogischer Handlungsfelder (Konfirmanden- und Jugendarbeit etc.) stieß u.a. der Umgang mit medialer bzw. digitaler Kommunikation auf Kritik. Insbesondere zur „Bedeutung computergestützter oder auch internetbasierter religiöser Kommunikationen ist keine empirische Forschung angestrebt worden“, was die beteiligten Forscherinnen und Forscher selbst als Desiderat benannt haben (Nord, 2017, 186). Weitere Desiderate und Diskussionspunkte zur KMU V hat Bernd Schröder zusammengefasst:

  • „Die Deutung der Befunde [im KMU-Auswertungsband, D.K.] folge einem Muster, das Entkirchlichung, Verfall von Religionskultur, Rückgang sozialer Bedeutung von Religion als Leittheoreme pflege (und damit dem Säkularisierungsparadigma folge) und darüber Transformationsprozesse von Religiosität übersehe bzw. vernachlässige.
  • Die Fokussierung evangelischer und konfessionsloser Jugendlicher blende Personenkreise aus, in denen andere, z.T. gegenläufige Phänomene festzustellen seien (etwa römisch-katholische, orthodoxe, muslimische Jugendliche), und verzerre so das Bild vom Verhältnis zwischen Jugend und Religion(en).
  • Die Konzentration auf Jugend und Religion bzw. Kirche lasse außer Acht, dass auch in anderen Bereichen, etwa in politischen Parteien, Vereinen und NGOs, der Organisationsgrad Jugendlicher rückläufig sei; dadurch erscheine als besonderes Problem von Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften, was eigentlich in wesentlichen Teilen ein Problem von Organisationen überhaupt sei“ (Schröder, 2017b, 287).

In religionspädagogischer Perspektive bietet die KMU V daher ein gemischtes Bild: Auf der einen Seite stellt sie durch die überproportionale Berücksichtigung der 14- bis 29-Jährigen einen Datenschatz dar, der in der religionspädagogischen Forschung genutzt wurde; auf der anderen Seite machte sich bei vielen Themen bemerkbar, dass religionspädagogische Expertise bei der Planung und Konstruktion des Fragebogens fehlte.

4. Religionspädagogische Fragestellungen und Begleitprojekte der KMU VI (2022)

Die im Herbst 2022 durchgeführte Datenerhebung mit mehr als 5.000 repräsentativ ausgewählten Probanden bietet wie die Vorgängerstudien eine Reihe an konzeptionellen und methodischen Innovationen (dazu Wunder, 2024). Erstmals beteiligte sich die römisch-katholische Kirche an der Datenerhebung und -auswertung. Außerdem wurden staatliche Melde- und Kirchensteuerdaten einbezogen, um mehr über die sozioökonomischen Umstände und demographischen Faktoren für Kirchenein- und -austritte zu erfahren (Peters/Ilg/Gutmann, 2019; Gutmann/Peters, 2021). Zudem wurde ein gemeinsamer Datensatz aller KMU seit 1972 angelegt, um Zeitreihenvergleiche zu erleichtern. Weitere Innovationen beziehen sich u.a. auf die Form der Wertemessung mit der Wertetheorie von Shalom H. Schwartz (Gennerich/Käbisch, 2023), die Öffentlichkeitsarbeit, die Wege der Wissenschaftskommunikation, die Anregung von flankierenden Drittmittelprojekten (Wunder, 2022a; 2022b) sowie die Einrichtung einer Projekthomepage (www.kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.de). Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die akademische Religionspädagogik dazu eingeladen, nicht nur bei der Analyse der jugendbezogenen Daten (Schröder/Hermelink/Leonhard, 2017), sondern bereits bei der Planung dazu beizutragen, die KMU VI religionspädagogisch zu profilieren. Für die religionspädagogische Expertise stehen im wissenschaftlichen Beirat der aktuellen KMU u.a. Wolfgang Ilg (2017 und 2023), Klaus Kießling (2023), Uta Pohl-Patalong (2023) und David Käbisch (2022).

Vor allem drei Ergebnisse der im Herbst 2022 durchgeführten Datenerhebung sind für die kirchen- und bildungspolitische Diskussion relevant:

  • „Der Religionsunterricht in seiner konfessionell getrennten Organisationsform hat nur noch einen geringen Rückhalt in der Bevölkerung.
  • Die Arbeit der kirchlichen Kindertagesstätten führt bei den meisten Eltern nicht zu einer Einstellungsänderung gegenüber der Kirche.
  • Bei der religiösen Sozialisation spielen die erstmals abgefragten religionspädagogischen Angebote, insbesondere die Konfi-Arbeit, eine wichtige Rolle“ (Ilg, 2023, 370).

Neben den genannten Orten der religiösen Sekundärsozialisation (Kindertagesstätten, Religionsunterricht, Konfirmandenarbeit, Firmunterricht etc.) erlaubt die KMU VI auch Aussagen über die Familie als primäre Sozialisationsinstanz, differenziert nach Geschwisterzahl, Geschlecht und Konfessionszugehörigkeit der Eltern und ggf. Großeltern (Ilg/Ahrens/Hock/Jacobi/Käbisch/Kießling/Pollack/Wunder, 2024).

Im Fokus des von Hagen Findeis geleiteten, qualitativen Begleitprojektes zur KMU steht ebenfalls die → Familie als primäre Sozialisationsinstanz. Die Fähigkeit von Familien, Glaubensüberzeugungen und Religiosität an nachfolgende Generationen weiterzugeben, erhält in dem von der DFG geförderten Projekt besondere Aufmerksamkeit. Hier zeigt sich, dass Kasualien „nach wie vor die wichtigste Verbindung zwischen Familien und kirchlich vermittelter Religiosität“ darstellen: „Insbesondere durch Taufe und Konfirmation wird Religiosität in den Familien verankert und weitergegeben. Ihre sozialisierende Wirkung ist allerdings zunehmend lebensweltlich und weniger religiös ausgerichtet“ (Findeis, 2023, 430).

Das von Uta Pohl-Patalong geleitete Begleitprojekt zur KMU VI hat ebenfalls religionspädagogische Implikationen. Sie fragt u.a. danach, wie die → Kommunikation des Evangeliums in Bildungskontexten und anderen kirchlichen Handlungsfeldern wahrgenommen und in ihrer Wirkung eingeschätzt wird. Die dazu geführten Gruppendiskussionen dokumentieren, dass kirchliche Bildungsangebote „zu einer Stärkung des Subjekts, einem veränderten Verhältnis zur Welt, einem Zuwachs an Eigenständigkeit sowie zu einer kritischen Reflexion persönlicher Überzeugungen“ führen (Pohl-Patalong, 2023, 402).

Das religionspädagogische Begleitprojekt von Carsten Gennerich und David Käbisch knüpft an die in der KMU erstmals verwendete Wertemessung nach dem Modell von Shalom H. Schwartz an (Gennerich/Käbisch, 2023). Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht die Frage, in welchem Verhältnis die Werteorientierungen der Probanden zu den jeweils eingenommenen Welterschließungsperspektiven in Entscheidungssituationen stehen. Erstmals wurden dafür zehn Fall-Vignetten konstruiert. Die Evangelische Kirche in Deutschland kommt dabei als eine Bildungsinstitution in den Blick, die heute stärker als in früheren Dekaden plausibilisieren muss, inwiefern religiöse Welterschließungsperspektiven einen Eigen- oder Mehrwert gegenüber anderen, z.B. politischen, ökonomischen und ästhetischen Perspektiven in der pluralistischen Gesellschaft haben.

5. Der Religionsunterricht im Spiegel der KMU VI

Die KMU VI hat erstmals umfassend Daten erhoben, die sich auf den schulischen Religionsunterricht beziehen (alle Daten im Überblick bei Hock, 2023). Durch diese innovative Entscheidung ist es möglich, rückblickende Wahrnehmungen und Erinnerungen an das Fach, dessen wahrgenommene Wirkungen und tatsächlichen Effekte sowie damit verbundene Wunschvorstellungen und Erwartungen differenziert zu beschreiben (Hock/Käbisch/Kießling/Wunder, 2024). Auch die Erwartungshaltungen konfessionsloser Eltern und Fragen der → Bildungsgerechtigkeit (Hock/Käbisch, 2023b) können im Spiegel der Daten präziser als bisher analysiert werden. Da sich auch die katholische Kirche an der KMU beteiligt hat, sind erstmals konfessionsvergleichende Aussagen zur Wahrnehmung des Religionsunterrichts und seiner Wirkungen möglich (Kießling, 2023).

Da nahezu alle Items zum Religionsunterricht neu in den Fragebogen aufgenommen wurden, ist ein Zeitreihenvergleich nur bei dem Item möglich, das sich bereits in der KMU IV auf die kirchliche Mitverantwortung am Religionsunterricht bezog. Im Jahr 2002 waren 11% der befragten evangelischen Kirchenmitglieder gegen eine kirchliche Mitverantwortung, 2022 waren es 41 %. Unter den ostdeutschen evangelischen Kirchenmitgliedern waren 2002 ca. 23 % dagegen, 2022 ca. 36 %. Konfessionslose in Westdeutschland waren 2002 zu 35 % dagegen, 2022 zu 73 %. Die befragten Konfessionslosen in Ostdeutschland waren zur Jahrtausendwende zu 56 % dagegen, 20 Jahre später zu 68 %.

Auch wenn Zustimmungsquoten zu Einzelitems wenig aussagekräftig sind, können sie als ein Indiz dafür gelesen werden, dass es den Ländern und Landeskirchen nicht hinreichend gelingt, das res-mixta-Modell des Grundgesetztes (Art. 7 Abs. 3), d.h. die gemeinsame Verantwortung für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (→ Religionsunterricht, Recht), in der Bevölkerung zu plausibilisieren. Wolfgang Ilg sieht daher auf der Basis der KMU VI zwei kirchen- und bildungspolitische Konsequenzen: Es muss entweder „gelingen, den Sinn des konfessionellen Religionsunterrichts einer breiten Mehrheit neu zu verdeutlichen – oder die Organisation des Religionsunterrichts wird so verändert, dass sie weiterhin grundgesetzkonform bleibt, zugleich aber auch eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz erfährt als das jetzige Modell“ (Ilg, 2023, 383).

Gegenüber dem deskriptiven Nebeneinanderstellen von Zustimmungsquoten zu Einzelitems erlauben inferenzstatistische Methoden wie Varianzanalysen Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung und damit aussagekräftigere Beobachtungen. Bei diesen werden die Mittelwerte des Antwortverhaltens der evangelischen, katholischen und konfessionslosen Probanden, des Antwortverhaltens unterschiedlicher Alterskohorten oder des Antwortverhaltens von Menschen in unterschiedlichen sozialen Lagen miteinander verglichen. Unter dieser methodischen Voraussetzung ist zu konstatieren, dass der Religionsunterricht von der repräsentativen Mehrheit der Befragten der KMU VI positiv bewertet und gerne besucht wurde. Bezogen auf die subjektiv wahrgenommene Lebensdienlichkeit, Orientierungsleistung und Interessensförderung stellen sich die Ergebnisse zum Religionsunterricht dagegen disparat dar. Hier zeigt sich eine hohe Abhängigkeit von sozialisationsbezogenen Gesichtspunkten, aber auch zu den wahrgenommenen Inhalten und Diskussionskulturen im Unterricht. Wenn (in der subjektiven Erinnerung) andere Weltanschauungen und Religionen im Unterricht thematisiert wurden und/oder unterschiedliche Meinungen zu religiösen Fragen frei diskutiert werden konnten, dann wird die Lebensdienlichkeit, Orientierungsleistung und Interessensförderung des Religionsunterrichts höher eingeschätzt als bei den Menschen, bei denen dies nicht der Fall ist (dazu ausführlich Hock/Käbisch/Kießling/Wunder, 2024). Die Akzeptanz und Plausibilität des Religionsunterrichts in der Bevölkerung steht und fällt auf der Basis der KMU-Daten mit der Pluralitätsfähigkeit seiner wahrgenommenen Inhalte und Diskussionskultur. Die Sozialformen und die Positionalität der Lehrkraft nehmen demgegenüber eine vergleichsweise untergeordnete Rolle ein.

Bemerkenswert ist, dass eine zunehmende Pluralitätsfähigkeit des Religionsunterrichts in allen Bundesländern beobachtet werden kann, unabhängig von seinen teilweise sehr unterschiedlichen Organisationsformen zum Beispiel in Hamburg, Niedersachsen, Hessen und Brandenburg (Hock/Käbisch 2023a). Da die Zahl der Konfessionslosen kontinuierlich steigt und konfessionelle Unterschiede zwischen evangelischen und katholischen Befragten nahezu verschwunden sind, muss zudem der „religiös-säkularen Konkurrenz“ als Kontext und Thema des Religionsunterrichts mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden (Hock/Käbisch, 2023c).

6. Die Kirche als Bildungsinstitution

Seit 1972 eröffnen die KMU die Möglichkeit, die Kirche (verstanden als Zusammenschluss von 20 Landeskirchen in der EKD) als facettenreiche Bildungsinstitution zu beschreiben und zu profilieren. Erst in der letzten KMU hat sich allerdings die Überzeugung durchgesetzt, dass das Partizipationsverhalten an kirchlichen Angeboten nur dann angemessen erfasst werden kann, wenn alle Bildungsangebote und die dafür verantwortlichen Akteurinnen und Akteure in Kindertagesstätten, Kirchgemeinden, der offenen Kinder- und Jugendarbeit (→ Jugendarbeit, evangelisch; → Jugendarbeit, katholisch) sowie der Schulen in die Untersuchung einbezogen werden. Insbesondere die einseitige Fokussierung auf die Pfarrperson und den Gottesdienst in den ersten KMU haben dazu geführt, dass die Vielfalt kirchlicher Angebote nur unzureichend erfasst wurde (Ilg, 2017).

Darüber hinaus ist der in der KMU V vollzogene Schritt, der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, auch in Zukunft plausibel. Angesichts der Tatsache, dass Kirchenmitglieder vor allem in dieser Lebensphase den Kontakt zur Kirche verlieren und häufig beim ersten Gehalt aus der Kirche austreten (Gutmann/Peters, 2021), verdient der Zusammenhang zwischen kirchenbezogenem Wissen, kirchenbezogenen Einstellungen und dem Kirchenmitgliedschaftsverhalten mehr Aufmerksamkeit. Hier stellt sich u.a. die Frage, welchen Religions- und Firmunterricht junge Menschen erlebt haben und was sie dort beispielsweise über die Finanzen und Ausgaben der Landeskirchen gelernt haben. Ökonomische Transparenz ist eine Bildungsaufgabe u.a. der Landeskirchen und wird in Zukunft noch wichtiger als in vergangenen Jahrzehnten sein.

Versteht man die Kirche in diesem Sinn als eine Bildungsinstitution, dann sollten auch in Zukunft kirchliche Angebote nicht nur kirchentheoretisch, sondern auch bildungstheoretisch analysiert und profiliert werden. Dafür ist nicht nur (praktisch-)theologische und (kirchen-)soziologische, sondern auch (religions-)pädagogische Expertise notwendig.

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  • Peters, Fabian/Ilg, Wolfgang/Gutmann, David, Demografischer Wandel und nachlassende Kirchenzugehörigkeit. Ergebnisse aus der Mitgliederprojektion der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland und ihre Folgen für die Religionspädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 71 (2019) 2, 196-207.
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  • Rebenstorf, Hilke, Die Generation U30 – wie hält sie’s mit der Religion? Signifikante empirische Befunde in der V. KMU, in: Schröder, Bernd/Hermelink, Jan/Leonhard, Silke (Hg.), Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017, 45-74.
  • Riegel, Ulrich/Hallwaß, Anne Elise, Zur Reichweite konfessioneller Positionen im individuellen Glauben Jugendlicher und junger Erwachsener. Eine clusteranalytische Auswertung der Daten der V. KMU auf dem Teilsample U 30, in: Schröder, Bernd/Hermelink, Jan/Leonhard, Silke (Hg.), Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017, 75-94.
  • Schröder, Bernd, Schülerinnen und Schüler und ihr Verhältnis zur (christlichen) Religion. Die einschlägigen Ergebnisse der V. KMU im Vergleich zu Resultaten anderer schulbezogener empirischer Studien der Jahre 2006-2016, in: Schröder, Bernd/Hermelink, Jan/Leonhard, Silke (Hg.), Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017a, 203-234.
  • Schröder, Bernd, Religionspädagogische Ansatzpunkte und Konsequenzen, in: Schröder, Bernd/Hermelink, Jan/Leonhard, Silke (Hg.), Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017b, 282-297.
  • Schröder, Bernd/Hermelink, Jan/Leonhard, Silke (Hg.), Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017.
  • Weyel, Birgit/Hermelink, Jan, Jugendliche und junge Erwachsene als religiöse Akteure. Wahrnehmungen zum Austausch über den Sinn des Lebens im Rahmen der Netzwerkerhebung einer Kirchengemeinde, in: Schröder, Bernd/Hermelink, Jan/Leonhard, Silke (Hg.), Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Stuttgart 2017, 147-166.
  • Wischmeyer, Johannes, Kirchen- und bildungspolitische Aspekte der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen 1972 bis 2022, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 75 (2023) 4, 361-369. DOI: https://doi.org/10.1515/zpt-2023-2039.
  • Wunder, Edgar, Methodische Grundlagen der VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: Jung, Volker u.a. (Hg.), Die sechste EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, (Ort folgt) 2024, (Seitenzahlen folgen).
  • Wunder, Edgar, Selbsterkundung für die Zukunft. Die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat begonnen, in: Zeitzeichen 23 (2022a) 12.
  • Wunder, Edgar, Ausblick auf die VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD im Herbst 2022, in: Lämmlin, Georg (Hg.), Zukunftsaussichten für die Kirchen. Beiträge zum 90. Geburtstag von Karl-Fritz Daiber, Baden-Baden 2022b, 275-280.

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