Deutsche Bibelgesellschaft

Literaturgeschichte

(erstellt: März 2024)

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1. „Literaturgeschichte“ als Arbeitsbereich, Textcorpus und monographische Gattung der neutestamentlichen Wissenschaft

Im Fach „Neues Testament“ findet sich der Ausdruck „Literaturgeschichte“ in verschiedenen Verwendungszusammenhängen.

1. Als „Literaturgeschichte“ wird ein Teilgebiet der neutestamentlichen Wissenschaft bezeichnet. In diesem Arbeitsbereich werden sowohl die kanonisch als auch die apokryph gewordenen Schriften des sich formierenden Christentums in chronologischer Hinsicht und mit Blick auf ihre Gattungszugehörigkeit zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei lassen sich zwei Zugangsweisen unterscheiden: a) Die Literaturgeschichte ordnet die Schriften des entstehenden Christentums unter historischen Gesichtspunkten in die antike griechisch-römische Literaturgeschichte ein und stellt Bezüge her zwischen dem Schrifttum christusgläubiger Gruppierungen und ihren (sozial-)geschichtlichen Rahmenbedingungen im römischen Kaiserreich. b) Die Literaturgeschichte kategorisiert und katalogisiert Texte unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Wie in der allgemeinen Literaturwissenschaft, so ist auch in der neutestamentlichen Literaturgeschichte umstritten, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Text als „Literatur“ bezeichnet werden kann (vgl. Zymner, 117). Es zeichnet sich allerdings der Konsens ab, dass sich die „Literarizität“ eines Textes an seiner Gattungszugehörigkeit, seinem Sprachniveau und seinem Stil festmachen lässt.

2. Mit „Literaturgeschichte des frühen Christentums“ kann das Textcorpus bezeichnet werden, das die Schriften umfasst, die aus dem Frühchristentum heraus entstanden sind. Da in der neutestamentlichen und kirchengeschichtlichen Forschung kein Konsens darüber herrscht, wann die Epoche des frühen Christentums als beendet gelten soll, gibt es auch keinen fest umrissenen Katalog frühchristlicher Schriften.

3. Das Wort „Literaturgeschichte“ wird – wie in der allgemeinen Literaturwissenschaft – als Bezeichnung für die Fachmonographien verwendet, in denen die Ergebnisse literaturgeschichtlicher Forschungen dargestellt werden. Die wichtigsten Veröffentlichungen auf diesem Gebiet werden im Folgenden kurz vorgestellt.

2. Phasen der literaturgeschichtlichen Erforschung des frühen Christentums

2.1. Erste Ansätze frühchristlicher Literaturgeschichtsschreibung in der Antike 

In Bezug auf die später neutestamentlich gewordenen Texte lässt sich das Bemühen, diese Schriften literaturgeschichtlich zu kategorisieren und zu systematisieren, auf der Basis der erhaltenen Quellen erstmals im 2. Jahrhundert bei Justin dem Märtyrer feststellen. Dieser ist der erste, der im Sinne einer Gattungsbezeichnung mit dem Plural „Evangelien“ (εὐαγγέλια) auf neutestamentliche Schriften Bezug nimmt. 392 n. Chr. verfasst der Theologe Hieronymus, angelehnt an Suetons römische Literaturgeschichte De viris illustribus, in lateinischer Sprache einen gleichnamigen Schriftstellerkatalog, der sich als erste „frühchristliche Literaturgeschichte“ bezeichnen lässt. Eine – nach heutigem Verständnis – explizit literaturgeschichtliche Auseinandersetzung mit den frühchristlichen Schriften setzt dann aber erst in der Neuzeit unter den Vorzeichen der →historisch-kritischen Bibelwissenschaft ein.

2.2. Für die Literaturgeschichtsschreibung relevante Erkenntnisse der älteren Einleitungswissenschaft

Im Zusammenhang mit seiner Abkehr von der Inspirationslehre analysiert und interpretiert der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (1725–1791) die biblischen Schriften – auf der Basis einer „historisch-kritischen“ Herangehensweise an die „Heilige Schrift“ – nicht anders als „pagane“ antike Schriften: er unterzieht sie zunächst einer gründlichen Textkritik (Semler, 22) und hebt dann unter Verwendung philologischer Methoden auf die sprachlich-stilistischen Besonderheiten frühchristlicher Literatur ab, so dass die  Eigenheiten ihrer Verfasser, die verschiedenen Strömungen des →Frühchristentums angehören, deutlich werden.  Da Semler den neutestamentlichen Kanon für ein Phänomen hält, das sich sukzessive konstituiert, entwickelt er auch Vorschläge für die geschichtliche Reihenfolge, in der die einzelnen frühchristlichen Schriften entstanden sind (vgl. Alkier, 34–40).

Aus heutiger wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, zählt Semler weniger zur „Literaturgeschichte“ als vielmehr zu der im 18. Jahrhundert aufkommenden „Einleitungswissenschaft“. Eher der „Literaturgeschichte“ zuzuordnen ist dann aber der im 19. Jahrhundert in Marburg und Halle lehrende Alttestamentler Hermann Hupfeld (1796–1866), der fordert, die schwerpunktmäßig auf die Einzelschriften fokussierte „Einleitungswissenschaft“ durch eine auf die „geschichtliche[…] Aufeinanderfolge und Entwickelung“ (Hupfeld, 10) der einzelnen Schriften fokussierte „biblische Literaturgeschichte“ (Hupfeld, 8) zu ersetzen. Von diesem Ansatz, der ihm nicht (Kanon-)kritisch genug erscheint, distanziert sich wiederum der Tübinger Theologe Ferdinand Christian Baur (1792–1860) in seinem programmatischen Aufsatz „Die Einleitung in das Neue Testament als theologische Wissenschaft“ und fordert, die „kanonischen Schriften […] nicht, wie sie an sich sind, sondern mit jenen Vorstellungen und Voraussetzungen, die sie zu kanonischen machen“ (Baur, 478), zu untersuchen, sie also in den größeren Kontext des frühen Christentums einzubetten, was wiederum Konsequenzen für die neutestamentliche Literaturgeschichtsschreibung hat.

2.3. Franz Overbecks Programm für patristische Literaturgeschichtsschreibung als „Formengeschichte“ (1882)

Einen entscheidenden Impuls für die Etablierung einer Literaturgeschichtsschreibung, die auch tatsächlich „literaturhistorische Gesichtspunkte auf die Literatur“ (Overbeck, 417) anwendet, gibt 1882 Franz Overbeck, Baseler Professor für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte, mit seinem Aufsatz: „Über die Anfänge der patristischen Literatur“.  In diesem Beitrag unterscheidet Overbeck zwischen der altchristlichen Literatur, die etwa ab 150 n. Chr. entsteht, und dem neutestamentlichen Textcorpus, das er als „Urliteratur“ (Overbeck, 426) bezeichnet. Dieser Terminus wird von Overbeck in einem positiven Sinne verwendet, weil er das Neue, Unverfälschte des christlichen Glaubens zum Ausdruck bringen kann. Mit der Kanonbildung hält Overbeck den „Katalog der christlichen Urliteratur“ (Overbeck, 442), zu dem er neben dem Neuen Testament auch die apostolischen Väter, Hegesipp und Papias zählt, für weitgehend abgeschlossen. Seiner Einschätzung nach beginnt anschließend mit den patristischen Schriften innerhalb des frühen Christentums eine neue literaturgeschichtliche Phase, in der sich die Literaturproduktion der griechisch-römischen Literarizität anpasst. Overbeck konzediert zwar, dass man mit den Evangelien, der Apostelgeschichte und der Johannes-Apokalypse „die ersten Versuche des Christenthums sich in literarischer Form darzustellen“ (Overbeck, 432), vorfindet. Diese Formen „verschwinden“ (ebd.) in der sich anschließenden patristischen Periode jedoch wieder. Die „sogenannte apokryphe Literatur“ (ebd.), die durchaus Formen des neutestamentlich gewordenen Schrifttums aufgreift, diskreditiert er als „Abnormität“ (Overbeck, Anm. 1, 433) Als einen wesentlichen Grund dafür, warum die christliche Urliteratur keine Literarizität im eigentlichen Sinne aufweise, nennt Overbeck den Umstand, dass sie nur „an Formen der religiösen Literatur früherer Zeiten anknüpft“ (Overbeck, 443) oder ihr Schrifttum „so zu sagen aus eigenen Mitteln schafft“ (ebd.) und dabei den „Anschluß an die vorhandene [profane] Weltliteratur“ (Overbeck, 444) nicht erreicht.

Bedeutend ist Overbecks – eigentlich auf die patristische Literaturgeschichte bezogene – programmatische Aussage, die in der Folgezeit dann auch die frühchristliche Literaturgeschichtsschreibung beeinflussen wird: „Ihre Geschichte hat eine Literatur in ihren Formen, eine Formengeschichte wird also jede wirkliche Literaturgeschichte sein“ (Overbeck, 423).

2.4. Frühchristliche Literaturgeschichtsschreibung als Geschichte ihrer Formen

Der erste Neutestamentler, der Overbecks Forderung, „Literaturgeschichte“ habe „Formengeschichte“ zu sein, erfüllt, ist Johannes Weiß. In seinem 1912 erschienenen Lexikonartikel „Literaturgeschichte des NT“ wird „das nt.liche Schrifttum wesentlich unter literarischem Gesichtspunkt, d.h. vor allem hinsichtlich der Formen, im Zusammenhang dargestellt“ (Weiß, 2175). Im Unterschied zu Overbeck kann Weiß allerdings Teilen des Neuen Testaments aufgrund der in ihnen verwirklichten „Formen“ durchaus eine besondere literarische Qualität zuschreiben, wenn er z.B. den „Worte[n] Jesu“ einen „Rang unter den edelsten Erzeugnissen der Weltliteratur“ attestiert (Weiß, 2176) oder den Apostel Paulus als „Schriftsteller“ (Weiß, 2205) bezeichnet.

Der ungefähr zeitgleich mit Weiß forschende Neutestamentler Adolf Deißmann und sein Schüler Karl Ludwig Schmidt kommen in zwei literaturgeschichtlichen Untersuchungen, die nicht das gesamte frühchristliche Schrifttum betreffen, sondern sich zum einen mit der neutestamentlichen Brief- und zum anderen mit der Evangelienliteratur beschäftigen, zu einer anderen Beurteilung der literarischen Qualität dieser Texte. Deißmann grenzt die Briefe als „Volksliteratur“ (Deißmann, 174f.), Schmidt die Evangelien als „Kleinliteratur“ (Schmidt, 68) von der antiken Hochliteratur ab. Beide stellen sich damit in die Tradition Overbecks, der von „Urliteratur“ gesprochen hatte.

Diese Einschätzung, dass den ins Neue Testament eingegangenen Schriften nur eine mindere literarische Qualität zukomme, übernimmt auch Martin Dibelius, der 1926 die erste monographische „Geschichte der urchristlichen Literatur“ vorlegt. Beeinflusst von Deißmanns soziologischer Kategorisierung des frühen Christentums als Unterschichtsphänomen charakterisiert Dibelius die christlichen Schriften, die in den Kanon des Neuen Testaments eingegangen sind, als nur für „die zum größten Teil ungelehrten Männer und Frauen der ersten christlichen Gemeinden […] bestimmte ‚Kleinliteratur‘“, verfasst von „Männer[n] ohne besondere Bildung im Sinn des griechischen Literatentums“ (Dibelius, 16). Christliche Schriften, die im Laufe des 2. Jahrhunderts verfasst worden sind, gliedert Dibelius dann aber „der gleichzeitigen griechischen und lateinischen Literatur“ ein, da seiner Vorstellung nach zu dieser Zeit „das Christentum in begüterte und gebildete Kreise ein[dringt]“ (ebd.). Bei der literaturhistorischen Untersuchung der frühchristlichen Schriften unter „form- und gattungsgeschichtlichem Gesichtspunkt“ (Dibelius, 21) nimmt Dibelius nicht nur Ganzschriften, sondern auch die in diesen enthaltenen kleineren Formen in den Blick. Dibelius ist es darüber hinaus wichtig, in seiner „Literaturgeschichte“ auch „apokryphe“ Texte zu berücksichtigen und mündliche Überlieferungen mit in die literaturgeschichtlichen Überlegungen einzubeziehen.

Die 1975 veröffentlichte „Geschichte der urchristlichen Literatur“ von Philipp Vielhauer gilt bis heute als das Standardwerk der frühchristlichen Literaturgeschichtsschreibung. Vielhauer stellt sich in Bezug auf das Anforderungsprofil an einen Literaturhistoriker und mit Blick auf den Umfang des zu behandelnden Textcorpus – die „Apostolischen Väter“, Papias und Hegesipp sowie die so genannten →„Apokryphen“ werden mitberücksichtigt – explizit in die Tradition Overbecks und Dibelius’ (vgl. Vielhauer, 1f.). Anders als Dibelius kategorisiert Vielhauer die literaturgeschichtlich zu untersuchenden Schriften jedoch nicht „streng formgeschichtlich […] nach Gattungen“ (Vielhauer, 6f.), sondern berücksichtigt im Aufriss seiner Untersuchung, „daß einerseits geschichtlich zusammengehörige Schriften auch in der literargeschichtlichen Darstellung beisammen bleiben und daß andererseits der Unsicherheit in der Gattungsbestimmung mancher Schriften Rechnung getragen wird“ (Vielhauer, 7). Somit werden z.B. „Lk/Apg als Doppelwerk behandelt“ (ebd.) und die Besprechung der echten und der fingierten →Paulusbriefe wird nicht auseinandergezogen. Darüber hinaus geht Vielhauer nach der „chronologischen Reihenfolge der Gattungen [vor]: Brief, Evangelium, Apokalypse“ (Vielhauer, 8), und behandelt auch die übrigen Schriften in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Nur hypothetisch zu erschließende, zunächst mündlich überlieferte „vorliterarische Formen“ (vgl. Vielhauer, 9-14), die später in die schriftlich tradierten Großformen eingegangen sind, werden ebenfalls literaturhistorisch untersucht.

1992 legt Georg Strecker eine „Literaturgeschichte des Neuen Testaments“ vor, in der er u.a. die Impulse aufgreift, die Klaus Berger, David E. Aune und Henning Paulsen zwischenzeitlich in der frühchristlichen Literaturgeschichtsschreibung gesetzt haben. Strecker ordnet, grundsätzlich dem Programm Overbecks folgend, „die verschiedenen Literaturformen [des Neuen Testaments] einander zu“ und fügt sie „nach Möglichkeit in den Rahmen einer geschichtlichen Entwicklung ein […]“ (Strecker, 42). Mit Streckers Buch liegt eine neutestamentliche Literaturgeschichte im engeren Sinne vor, da er Schriften, die nicht in den neutestamentlichen Kanon eingegangen sind, allenfalls am Rande berücksichtigt.

Gerd Theißen folgt in seiner 2007 erschienenen Monographie „Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem“ einem biographisch ausgerichteten Ansatz, den er mit einem vier-phasigen chronologischen Aufriss kombiniert:  erstens Jesus und Paulus, zweitens die unechten Paulusbriefe und die Evangelien („kanonisch“ und „apokryph“), drittens die „funktionalen“ Schriften →Apostelgeschichte, →Johannes-Apokalypse und Hebräerbrief sowie viertens die Kanonbildung.

In der jüngeren englischsprachigen Forschung sind zwei bedeutende literaturgeschichtliche Untersuchungen zu verzeichnen: Aus dem Jahr 1942 stammt „A History of Early Christian Literature“ von Edgar J. Goodspeed – ein bemerkenswerter Überblick über die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorliegenden „kanonischen“ und „apokryphen“ frühchristlichen Schriften des ersten bis frühen vierten Jahrhunderts. Goodspeed lässt auf einen ersten Teil, in dem er die literarischen types vorstellt (in der Reihenfolge: Letters, Revelations, Gospels, Acts, Apologies, Manuals, Memoirs, Hymns und Homilies) einen zweiten folgen, der Werke verschiedener frühchristlicher Verfasser in chronologischer Folge präsentiert. Diese Untersuchung ist 1966 in einer stark revidierten Fassung von Robert M. Grant neu veröffentlicht worden. In seiner Neubearbeitung unterzieht Grant insbesondere Goodspeeds Ausführungen über die Schriften des zweiten Jahrhunderts einer gründlichen Revision und fügt ein Kapitel über Euseb hinzu.

Im Jahr 1995 legt Harry Y. Gamble mit seiner Monographie „Books and Readers in the Early Church. A history of Early Christian Texts“ eine weitere englischsprachige Untersuchung vor, die ebenfalls auf die Unterscheidung zwischen kanonischer und nicht-kanonischer frühchristlicher Literatur verzichtet. Gamble wählt darüber hinaus in seiner Untersuchung des frühchristlichen Schrifttums einen innovativen Zugang, indem er vor allem die materialen, sozial-geschichtlichen, institutionellen und publizistischen Aspekte des frühchristlichen Literaturbetriebs beleuchtet.

3. Forschungsdiskurse der neutestamentlichen Literaturgeschichte in Bezug auf die Groß-Gattungen

In der neutestamentlichen Wissenschaft werden derzeit keine überblicksartigen „Literaturgeschichten“ verfasst, die das gesamte Schriftcorpus der frühchristlichen Zeit untersuchten. Die Forschung hat allerdings weiterhin im Blick, dass der frühchristliche „Literaturbetrieb“ – dabei in editorischer Hinsicht materialiter den Kodex gegenüber der Schriftrolle bevorzugend – einzelne Schriften zu Sammlungen vereinigte. Diese liegen  z.B. als Zusammenstellungen der Paulusbriefe, der vier Evangelien, der „katholischen“ Briefe oder der Ignatius-Briefe vor. Sowohl die Sammlungen als auch die in diesen enthaltenen einzelnen Schriften werden miteinander in Beziehung gesetzt, gleichzeitig aber auch vergleichbaren Texten aus der griechisch-römischen sowie der israelitischen bzw. frühjüdischen antiken Literatur gegenübergestellt und gewinnen so ihr je besonderes Profil.

Darüber hinaus wird die frühchristliche Literaturgeschichtsschreibung dadurch beeinflusst, dass sich die neutestamentliche Wissenschaft kognitivistischen Ansätzen geöffnet hat. So werden Erkenntnisse der kognitiven Semantik beim Übersetzen aus dem Griechischen, Erkenntnisse der kognitiven Narratologie beim Interpretieren neutestamentlicher Erzähltexte angewandt. Gattungen werden als kognitive Schemata verstanden, die im Kopf der Rezipierenden als Wissenseinheiten gespeichert sind: „Aus der Perspektive des Lese- und Verstehensprozesses betrachtet[,] sind ‚Gattungen’ [...] kognitive Abstraktionen, die aufgrund einer bottom up-Verarbeitung von textuellen Daten und Signalen durch einen ständigen Vergleich mit bereits vorliegenden Kategorien (top down) gebildet werden“ (Hallet, 56). Gleichzeitig werden Gattungen nicht als ontologische Gegebenheiten, sondern als konventionalisierte Formen konzeptualisiert, denen ein je unterschiedlicher Zugang zur außertextuellen Realität eignet. Will man überliefertes frühchristliches Gedankengut verstehen, dann macht es einen Unterschied, ob dieses in Form eines Briefes, in dem ein briefliches Ich „die Realität“ deutet, oder als Apokalypse vorliegt, die – vereinfacht formuliert – (vermeintlich) künftige „Wirklichkeit“ offenbart. Somit stellt es keinen Selbstzweck dar, wenn – initiiert durch Overbeck im 19. Jahrhundert – in der neutestamentlichen Textauslegung immer noch die Frage nach der Gattungszugehörigkeit frühchristlicher Schriften gestellt wird. Geht es darum, einem Text im Rezeptionsvorgang Bedeutung zuzuschreiben, so ist die Beantwortung dieser Frage unverzichtbar. Auch bei der Erforschung der so genannten „Apokryphen“ spielt stets auch die Frage nach ihrer Gattungszugehörigkeit (wie z. B. Apologie oder Martyriumsbericht) eine Rolle, zumal die einzelnen Texten traditionell zugewiesenen Titel, wie z.B. im Falle des Thomas-Evangeliums, nicht immer Aufschluss darüber geben, um welche Gattung es sich bei der vorliegenden Schrift tatsächlich handelt.

Die gegenwärtige Zurückhaltung des Faches im Hinblick auf das Verfassen von literaturgeschichtlichen Gesamtdarstellungen ist somit zum einen darauf zurückzuführen, dass der Methodenkanon der klassischen historisch-kritischen Exegese erweitert worden ist. Zum anderen ist festzustellen, dass die Untersuchung derjenigen frühchristlichen Schriften, die nicht in den Kanon eingegangen sind, eine Vielzahl neuer Forschungsergebnisse hervorbringt, für deren Systematisierung es noch zu früh ist. Somit beschränkt sich im Folgenden die Darstellung aktuellen literaturgeschichtlichen Arbeitens auf die Kontroversen, die in Bezug auf die literarischen Groß-Gattungen ausgetragen werden, die mehrfach oder als Einzelexemplare ins Neue Testament eingegangen sind; der Bereich der „apokryphen“ Schriften wird überwiegend ausgeblendet.

3.1. Die Evangelien: Eine christliche Gattung sui generis, Biographien, Historiographie oder dramatische Dichtung?

Die drei Evangelien, die traditionell als die synoptischen bezeichnet werden, weisen in ihren Eingangsversen jeweils einen klassifizierenden Begriff auf, der als auf den Gesamttext bezogene Gattungsbezeichnung (miss-)verstanden werden kann: Wenn das →Markusevangelium als die Schrift, die als erste Vertreterin der Gattung „Evangelium“ gilt, mit den Anfangsworten Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ (Anfang der guten Nachricht von Jesus Christus; Mk 1,1) einsetzt, so ist zur Zeit der Entstehung des zweiten Evangeliums der hier verwendete griechische Ausdruck εὐαγγέλιον nicht als Hinweis auf die Gattung „Evangelium“ verstanden worden; die Verwendung des Begriffes als Gattungsbezeichnung ist erstmalig bei Justin belegt (s.o.). Das Wort εὐαγγέλιον gibt der Erstleserschaft des Markusevangeliums keinen Hinweis auf die Gattung, sondern auf den Inhalt des vorliegenden Textes: es handelt sich um eine „gute Nachricht“. Im Matthäusevangelium liegt in Mt 1,1 eine Selbst-Klassifizierung des vorliegenden Textes als βίβλος γενέσεως (Buch des Ursprungs) vor, was sich allerdings nicht unbedingt auf die Schrift als Ganze, sondern wohl eher nur auf den Prolog oder auf den Stammbaum Jesu bezieht und keine Gattungsbezeichnung im eigentlichen Sinne darstellt. Der Verfasser des Lukasevangeliums reiht sich im Eingangsvers seiner Schrift in eine Riege ein mit vielen vor ihm, die es unternommen haben, eine διήγησις (Bericht) zu verfassen (Lk 1,1). Dieser Ausdruck bezeichnet keine bestimmte literarische Gattung, lässt sich im antiken griechischen Sprachgebrauch aber durchaus als Bezeichnung von Fachmonographien unterschiedlicher Wissenschaften, wozu auch die Historiographie zählt, finden. Sucht man sowohl bei den Synoptikern, die in engerer literarischer Verwandtschaft zueinander stehen, als auch im Johannesevangelium, das lockerer an seine Vorgänger anschließt, nach einem quellsprachlichen Fachbegriff, der die Gattung des jeweils vorliegenden Evangeliums bezeichnet, so wird man nicht fündig. Diese vier ins Neue Testament eingegangenen Schriften weisen allerdings in inhaltlicher Hinsicht viele Übereinstimmungen auf, außerdem lassen sie sich – aus narratologischer Perspektive betrachtet – als „Erzählungen“ klassifizieren. Somit ist es nachvollziehbar, dass sie im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte ein und dieselbe Gattungsbezeichnung: „Evangelium“, erhalten haben.

Hinsichtlich der Frage, mit welcher antiken Gattung diese Erzähltexte in Verbindung gebracht werden sollten, kursieren in der Forschung drei Hypothesen: Dem Vorschlag, nach welchem die Evangelien von den Erstrezipierenden als etwas völlig Neues, als eine Gattung sui generis, konzeptualisiert worden sind – wie es ganz zu Beginn der literaturgeschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments Overbeck und Dibelius propagiert haben –, wird mit folgendem Argument widersprochen: Vor allem unter Berücksichtigung von Ergebnissen der Intertextualitätsforschung sei auszuschließen, dass neue Gattungen entstehen, die keinerlei Bezüge zu schon bekannten Gattungen aufweisen. Demzufolge werden die kanonisch gewordenen Evangelien, soweit man sie unter gattungstheoretischer Perspektive betrachtet, im Diskurs über die Gattungszuordnung auch auf antike Biographien, dramatische Dichtung oder in einem etwas umfassenderen Sinne auf die antike Historiographie zurückgeführt.

3.2. Die Briefe: Kommunikationsmedien oder Literatur?

In Bezug auf die ins Neue Testament eingegangenen Briefe ist die frühchristliche quellsprachliche Selbstbezeichnung, die sich in den Texten findet: ἐπιστολή (Brief, z.B. Röm 16,22, 1Kor 5,9; 1Thess 5,27), identisch mit der Gattungsbezeichnung. Diese Zuordnung ist in erster Linie aufgrund der formalen Merkmale evident, die diese Schriften in der Regel aufweisen. Sie bestehen überwiegend aus den drei Teilen: Briefeingang mit Präskript und Proömium (z.B. 1Thess 1,1 und 1Thess 1,2-10, Ausnahmen: Hebr, 1Joh), Briefcorpus (z.B. 1Thess 2,1-3,13) und Briefschluss (z.B. 1Thess 5,25-28, Ausnahme: Jak, 1Joh; vgl. Arzt-Grabner, 67-187). In den Anfängen der „modernen“ neutestamentlichen Literaturgeschichtsschreibung war allerdings umstritten, ob es sich bei diesen Briefen, insbesondere bei den authentischen Paulusbriefen (in „kanonischer Reihenfolge“: Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm), um eine „literarische“ Gattung handelt. So attestiert Overbeck den echten Paulinen den Status „literarischer Unform“ (Overbeck, 431), denn es „betheiligt sich aber[,] wer einen Brief schreibt[,] gar nicht an der Literatur“ (Overbeck, 429). Deißmann nimmt diesen Gedanken Overbecks wenig später insofern auf, als er zwischen dem echten „Brief“, der als Gebrauchstext und damit als Kommunikationsmedium fungiert, und der „Epistel“ als „literarische[r] Kunstform“, also einem „Literaturbrief“ (Deißmann, 159), unterscheidet. Zu den wirklichen Briefen des Neuen Testaments zählt Deißmann die authentischen Paulusbriefe sowie den 2 und 3Joh, alle übrigen Briefe sind seiner Meinung nach „Episteln“.

Die jüngere literaturgeschichtliche Forschung hat bei ihren Bemühungen darum, zwischen den verschiedenen neutestamentlichen Briefen zu differenzieren, die Kategorien Deißmanns aufgegeben. Diese waren vornehmlich auf der Basis antiken Vergleichsmaterials gewonnen worden, das aus Alltagsbriefen besteht, die auf Ostraka (Tonscherben) oder Papyrus geschrieben worden waren. Wenn man die Vergleichsbasis ausweitet, lassen sich für die authentischen Paulusbriefe vielfältige andere literaturgeschichtliche Bezüge aufzeigen. Berücksichtigt man (die überwiegend in nachpaulinischer Zeit verfassten, vgl. Arzt-Grabner, 27-30) Handbücher für das Briefeschreiben, in denen sich Musterbriefe für unterschiedliche Situationen finden, in der die Abfassung eines Briefes notwendig wird, so lässt sich z.B. der Phlm als „Empfehlungsbrief“ charakterisieren. Parallelen ziehen lassen sich aber auch zwischen den Briefen, die Paulus als Apostel an die von ihm gegründeten Gemeinden (Ausnahme: Röm) schreibt, und hellenistischen Königsbriefen resp. römischen Kaiserbriefen bzw. jüdischen gemeindeleitenden Briefen. Die Vergleichbarkeit ist in diesen Fällen deshalb gegeben, weil die Briefe des Paulus an seine Gemeinden auch Anordnungen enthalten (vgl. 1Kor 5,3-5; 1Kor 6,4; 1Kor 7,10-17 u.ö.). Aufgrund ihres theologischen Niveaus (vgl. z.B. 1Kor 15 zur Eschatologie oder Röm 3,21-31 zum Verhältnis von Gesetz, Gerechtigkeit und Glauben), das in intellektueller Hinsicht weit über das hinausgeht, was sich in privaten oder administrativen Briefen findet, lässt sich die paulinische Korrespondenz aber durchaus auch mit dem aus der antiken Philosophie hervorgegangenen literarischen Brief vergleichen. Derartige Briefe liegen von Epikur, Cicero oder Seneca vor. Um das argumentative Niveau, welches Paulus in seinen Briefen erreicht (vgl. z.B. 2Kor 8 und 2Kor 9), angemessen würdigen zu können, bietet sich auch ein Vergleich mit der antiken Rhetorik an.

Die in literaturgeschichtlicher Hinsicht gegebenen vielfältigen Anknüpfungspunkte der Paulusbriefe an andere antike Ausprägungen des Briefeschreibens lassen sich als ein Grund dafür anführen, warum in späteren Phasen des Frühchristentums weiterhin „echte“ gemeindeleitende Briefe (2Joh und 3Joh), aber auch pseudepigraphe Paulusbriefe (in der „kanonischen Reihenfolge“: Eph, Kol, 2Thess, 1Tim, 2Tim, Tit, Hebr) verfasst werden. Dabei sind die etablierten formalen Gattungskonventionen der authentischen Paulusbriefe nicht immer gleich streng berücksichtigt. Der Hebräerbrief, dem ja ein brieftypischer Anfang fehlt, charakterisiert sich selbst in Hebr 13,22 als λόγος τῆς παρακλήσεως (Wort des Zuspruchs/der Ermahnung). Auch unter dem Namen anderer Apostel bzw. führender Männer des frühen Christentums, von denen gar keine orthonymen Briefe belegt sind, werden Briefe (Jak, 1Petr, 2Petr, Jud) verfasst, deren formale Abweichungen vom „paulinischen Typ“ sich dadurch erklären lassen, dass sie sich – wie auch das in Briefform gefasste Aposteldekret in Apg 15,23b-29 – an den frühjüdischen Diasporabriefen (vgl. Doering) orientieren. Eine Besonderheit stellt der 1. Johannesbrief dar. In diesem Schreiben fehlen die etablierten brieftypischen Formalien. Wenn aber dennoch der Eindruck einer vom Verfasser initiierten brieflichen Kommunikation entsteht, beruht das darauf, dass die Lesenden mehrfach direkt angeredet werden (vgl. 1Joh 2,1; 1Joh 2,12 u.ö.) und dass der Akt des Schreibens wiederholt thematisiert wird (vgl. 1Joh 1,4; 1Joh 2,1; 1Joh 2,12-14 u.ö.).

Somit zeigt gerade auch der 1. Johannesbrief, dass bei all den Bemühungen um die literaturgeschichtliche Einordnung frühchristlicher Briefe Folgendes nicht übersehen werden darf: Briefe werden seit der Antike nicht nur als „Schriften“, sondern in besonderer Weise als verschriftlichter Ersatz der einen Hälfte eines über eine räumliche und zeitliche Entfernung hinweg erfolgenden Gespräches konzeptualisiert (vgl. Demetrius, De elocutione 223). Unter der lange Zeit als anerkannte Tatsache geltenden Voraussetzung, dass man im Altertum nie leise gelesen habe, sondern das Lesen in der Antike insbesondere aufgrund der Schwierigkeit, die damals übliche lectio continua zu entziffern, grundsätzlich laut erfolgt sei, hat sich im Kontext des performanzkritischen Ansatzes (vgl. Oestreich) die Vorstellung entwickelt, ein Paulusbrief müsse als Phänomen einer „sekundären Mündlichkeit“ (Breytenbach, 396) imaginiert werden, bei dem im Rahmen einer Gemeindeversammlung ein Briefvorleser die „Botschaft“ des Paulus – mündlich vermittelt – zu Gehör brachte. Da für das Altertum aber durchaus auch das leise Lesen belegt ist (vgl. Heilmann), sind auch andere Szenarien für die Rezeption von Paulusbriefen vorstellbar.

3.3. Die Apostelgeschichte: Historiographie, Biographie oder Roman?

Auch die zweite Schrift des lukanischen Doppelwerkes weist in ihrem Textcorpus keinen Terminus auf, der ihrer späteren Gattungsbezeichnung als „Apostelgeschichte“ entspricht. Im Eingangsvers dieses Werkes rekurriert sein Verfasser auf seine erste Veröffentlichung, das Lukasevangelium, indem er dieses als πρῶτος λόγος (erstes Buch, Apg 1,1) bezeichnet, was impliziert, dass die Apostelgeschichte als sein δεύτερος λόγος (zweites Buch) eingestuft werden soll. Der mehrdeutige Begriff λόγος, für den es im Deutschen kein ähnlich vieldeutiges Wort gibt – die Übersetzung mit „Buch“ in Apg 1,1 entspricht eher der Konvention als einer philologischen Notwendigkeit –, enthält keinen Hinweis auf die Gattung des im Folgenden Ausgeführten. Der Ende des 2. Jahrhunderts etablierte (nachträglich hinzugefügte) Buchtitel πράξεις ἀπόστολων (Taten der Apostel) verweist darauf, dass die frühchristliche Lesegemeinschaft das zweite Buch des Lukas „in die Nähe der griechisch-römischen Schriften gerückt [hat], die der verherrlichenden Schilderung der Taten (πράξεις, acta) berühmter Männer dienen“ (Marguerat, 31). Diskutiert wird in der Forschung, ob die Apostelgeschichte somit im Hinblick auf ihre Gattung eher als historiographische oder mehr als biographische Schrift anzusehen sei. Die These, dass die Apostelgeschichte sich der „tragisch-pathetischen“ oder „mimetischen“ Geschichtsschreibung zuordnen lasse (Plümacher), hat große Zustimmung gefunden. Aus dieser Sparte der Historiographie bieten sich als Vergleichstexte dann die entweder verloren gegangenen oder nur fragmentarisch überlieferten Schriften des Duris von Samos oder des Phylarchos an, ferner Livius’  Ab urbe condita, aber auch das 2. Makkabäerbuch und Josephus’  Antiquitates. Ähnlichkeiten bestehen aber auch zwischen Lukas’  „zweitem Buch“ und Plutarchs Parallelbiographien oder Diogenes Laertius’  Philosophenviten.

Nicht durchgesetzt hat sich mit Blick auf die Gattung der Apostelgeschichte der Vorschlag, die hellenistisch-kaiserzeitliche Romanliteratur (z.B. Charitons „Kallirhoe“ oder Xenophon von Ephesos’ Ἐφεσιακά) sei als Vergleichsgröße heranzuziehen. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive steht zwar grundsätzlich außer Frage, dass für die Verortung der frühchristlichen Literaturproduktion auch die „paganen“ Romane als Bezugsgrößen mitberücksichtigt werden müssen. Es herrscht allerdings der Konsens, dieses Textcorpus nicht für die Apostelgeschichte, sondern für die seit dem Ende des 2. Jahrhunderts entstandenen und als „apokryph“ geltenden „Apostelakten“ (z.B. →Andreasakten, Johannesakten, Petrusakten, Paulusakten und Thomasakten) heranzuziehen. Diese tragen zwar – wie die ins Neue Testament eingegangene Apostelgeschichte – in ihrem Titel ebenfalls die Bezeichnung πράξεις oder acta, sind von der Gattung her aber eher romanhaft als historiographisch angelegt.

Aus literaturgeschichtlicher Sicht ist darüber hinaus bemerkenswert, dass sich der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes „erzählerischer u.[nd] rhetorischer Mittel [bedient], die anschlussfähig für eine gehobenere Stillage von Literatur werden u.[nd] damit den Bildungsansprüchen eines städtischen Lesepublikums“ genügen können, so dass ein „stilistischer Standard erreicht [wird], der als potentiell ambitioniert für den antiken Buchmarkt gelten kann“ (von Bendemann, 662). Nicht zuletzt belegen die beiden Proömien mit ihrer Widmung an Theophilos, die sowohl dem Lukasevangelium als auch der Apostelgeschichte vorangestellt sind, dass die beiden λόγοι (Bücher) des Lukas kompatibel mit dem zeitgenössischen Literaturbetrieb waren.

3.4. Die Johannes-Apokalypse: Brief, Prophetenbuch oder Apokalypse?

Die ersten sechs Verse der Johannes-Apokalypse enthalten drei Indizien, die in der literaturgeschichtlichen Betrachtung dieser Schrift als Hinweise auf ihre Gattungszugehörigkeit verstanden werden.

Einen ersten Hinweis auf seine Gattungszugehörigkeit scheint der Text mit seinem ersten Wort zu geben: Ἀποκάλυψις (Offenbarung), das als Terminus technicus für die Gattung „Apokalypse“ gedeutet worden ist. Diese literaturgeschichtliche Kategorisierung ist problematisch: „Apokalypse“ ist eine moderne Gattungsbezeichnung; der Ausdruck ἀποκάλυψις wird im Frühchristentum gar nicht in diesem Sinne verwendet, sondern charakterisiert Inhalte, nicht Formen von Texten als „Enthüllung“. Retrospektiv wird dann aber die Johannes-Apokalypse auf der Basis des Vergleichs mit anderen frühchristlichen und frühjüdischen Texten, die ähnliche Merkmale aufweisen, der Gattung „Apokalypse“ zugewiesen. Gleichzeitig ist aber in der Forschung umstritten, welche Merkmale denn konstitutiv für „Apokalypsen“ seien. Der literaturgeschichtliche Diskurs orientiert sich nach wie vor an einer 1979 von John J. Collins im Rahmen einer wissenschaftlichen Apokalypse-Tagung entwickelte Gattungs-Definition, welche sowohl auf die Form als auch auf den Inhalt bezogene Elemente einer „Apokalypse“ auflistet: „narrative framework“, „otherwordly mediator“, „human recipient“, „eschatological salvation“, „reference to personal afterlife“, „cosmic transformation“, „otherworldy, angelic or demonic beings“ (Collins, 9). Collins’ Definition ist wissenschaftsgeschichtlich als Impuls für weitere Untersuchungen zu betrachten, die sich unter Berücksichtigung textlicher Indizien von der „Suche nach der ‚reinen‘ Form“ (Karrer, 90) verabschieden.

So gibt nämlich ein zweiter Hinweis in der Texteingangspassage: der Verweis auf τοὺς λόγους τῆς προφητείας (die Worte der Prophetie) in Apk 1,3, Anlass, die Schrift als „Prophetenbuch“ zu kategorisieren. Eine Vielzahl von intertextuellen Anspielungen auf die Bücher der Propheten Ezechiel, Daniel, Jesaja und Sacharja bestätigt im Durchgang durch die Schrift, dass auch diese Gattungszuordnung Anhalt am Text hat.

Ein dritter Hinweis, der sich auch am Anfang der Schrift findet, legt die Spur zu einer weiteren Gattungshypothese: Durch das in Apk 1,4.5 vorfindliche Briefpräskript, das in Apk 22,21 seine Ergänzung mit dem für einen Brief typischen Schlussgruß findet, wird das Textcorpus mit Briefformalia gerahmt. Somit legt sich aus formalen Gründen eine Zuordnung des gesamten Textes zur Gattung „Brief“ nahe. Schließlich beschränkt sich der Briefcharakter der Johannes-Apokalypse ja nicht bloß auf ihre formale Rahmung (zu der ja noch die in den Text integrierten „Sendschreiben“ hinzukommen), sondern schlägt sich auch in der diesem Text zugrunde liegenden Kommunikationssituation nieder.

In der Forschung zeichnet sich der Konsens ab, die Johannes-Apokalypse im Hinblick auf ihre Gattungszugehörigkeit als einen hybriden Text anzusehen, dessen besonderer Reiz eben darin besteht, auf unkonventionelle Art Merkmale unterschiedlicher konventionalisierter Gattungen miteinander zu kombinieren.

Abschließend ist festzuhalten: Bei der frühchristlichen Literaturgeschichte handelt es sich um einen veritablen Forschungszweig der neutestamentlichen Wissenschaft. Die Ergebnisse des genauen Vergleichens frühchristlicher Schriften mit entsprechenden Parallelen aus ihrem „paganen“ und ihrem „jüdischen“ Umfeld falsifizieren Overbecks These, es handele sich bei diesen Texten um „Urliteratur“ ohne literarischen Anspruch. Im in der Tat nicht einheitlichen literarischen Niveau der verschiedenartigen frühchristlichen Schriften manifestiert sich vielmehr die Vielfalt der theologischen Entwürfe, die das Erscheinungsbild der ersten Christenheit prägt.

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Abbildungen

Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz) und ihrem Präsidenten Othmar Keel.

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