Jakobusbrief
(erstellt: Oktober 2019)
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1. Historische Rückfragen
1.1. Entstehungshypothesen
Die Beantwortung der Frage nach der Textentstehung muss nach derzeitiger Datenlage grundsätzlich offenbleiben. Hypothesen zur Entstehung des Textes sind wesentlich abhängig von anderen Parametern wie Autorschaft, Datierung und Entstehungsort des Jakobusbrief (Jak). Je nach Zuordnung dieser Aspekte wird entweder von einer Autorschaft durch den im Brief genannten Verfasser oder von einer pseudonymen Verfasserschaft auszugehen sein: Möglichkeit a) Eine Frühdatierung wäre in dem Zeitfenster von der Mitte des ersten Jh.s n.Chr. bis zum Jahr 62 anzusetzen. Möglichkeit b) datiert den Jak in den Zeitrahmen zwischen 62 n.Chr. bis zum Ende des zweiten Jh.s (vgl. 1.3 und 5.). Die Textentstehungshypothesen variieren entsprechend je nach Beantwortung der Datierungs- und Verfasserschaftsfragen.
Grundsätzlich wird die literarische Einheitlichkeit des Textes nicht bezweifelt, wenngleich vom handschriftlichen Befund die bislang frühesten Zeugen nur fragmentarischen Charakter haben. Als ständige Zeugen für den Jak gelten die vier ältesten erhaltenen griechischsprachigen Majuskelhandschriften der gesamten Bibel (Codices Sinaiticus [→ Codex Sinaiticus
1.2. Verfasserschaft und Adressaten
Das kurze Präskript des Textes beginnt mit einem klassischen hellenistischen Grußformular, in welchem der Autor sich als ‚Jakobus‘ sowie als ‚Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus‘ bezeichnet; als Adressaten werden ‚die zwölf Stämme in der Diaspora‘ genannt (Jak 1,1
Wichtig für die Frage nach der Verfasserschaft des Textes ist, ob es sich um ein Schreiben des genannten Autors handelt oder einen Verfasser, der diesen Eindruck erwecken möchte: Im letzteren Fall erledigt sich die Überlegung, um welche historische Person es sich beim genannten Autor genau handelt. Läge tatsächlich ein pseudepigraphischer Text vor (→ Pseudepigraphie
Aus dem Text selbst lässt sich über die Person des Autors nur wenig direkt schlussfolgern. Literarisch kommt dem Namen des Autors autorisierende Funktion zu (vgl. 2.1). Der Text des Jak bietet insgesamt vier charakteristische Anknüpfungspunkte für Überlegungen bzgl. seines Autors:
(a) Präskript: Nach der Darstellung dort ist der Text von ‚Jakobus‘ verfasst, der sich als ‚Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus‘ verstanden wissen will (vgl. Jak 1,1
(b) Mittelteil: Die Verwendung der ersten Person Plural in Jak 3,1
(c) Schriftrekurse: Durch seine verschiedenen Vernetzungen mit Septuaginta- und Jesustraditionen erweist der Autor sich als schriftkundiger frühchristlicher Theologe;
(d) Sprachkompetenz: Soziokulturelle Analysen plausibilisieren heute eine sprachliche und literarische Qualifikation des Herrenbruders Jakobus stärker als bisher.
Ein Konsens kann aktuell vielleicht darin bestehen, dass der Brief sich einer einfachen historischen Bewertung zu widersetzen scheint. Auffällig – und für die Verfasserfrage nicht irrelevant – ist der historisch gesicherte Befund, dass der Brief das erste Mal in einer Liste bei Origenes auftaucht. Mit diesem Befund verbinden sich weitreichende Fragen zur Verfasserschaft des Briefes, seiner Kanonisierung sowie der zeitlichen Verortung (vgl. 1.3 und 5.).
Bei der Frage nach den Adressaten des Briefes ist erneut das Präskript ausschlaggebend: Dort werden als Empfänger ‚die zwölf Stämme in der Diaspora‘ gegrüßt (Jak 1,1
1.3. Datierung und Entstehungsort
Wird von einem Verfasser namens Jakobus ausgegangen und nicht eine vergleichsweise unbekannte Person der frühchristlichen Gemeinden vorausgesetzt, so kommen als späteste Abfassungszeitpunkte die Jahre 43 / 44, da dort der Apostel Jakobus das Martyrium erlitt (vgl. Apg 12,1-2
Die im Brief thematisierten wirtschaftlichen Beziehungen legen zumindest den Gedanken an eine Handelsstadt nahe. Neben Rom käme z.B. Alexandria in Frage, weil so Verbindungen zur jüdisch-hellenistischen Weisheitsliteratur und Philo erklärt werden könnten; des Weiteren bietet diese Stadt mit ihrem Hafen und den damit verbundenen Handelsbeziehungen eine Erklärung für spezifisches Wissen des Briefes über Handel, Meer und Schifffahrt (vgl. Jak 1,6
Sowohl die Frage nach dem Entstehungsort, als auch die Frage nach der Datierung des Textes können nach dem bisher Gesagten nicht ohne Weiteres beantwortet oder gelöst werden. Die Datierung des Briefes bewegt sich in einem weiten Spektrum der 40er Jahre des ersten Jh.s (vgl. Deines) und dem Ende des 2. Jh. (vgl. Nienhuis). Anhand einer Aufstellung verschiedener Jakobusbrief-Kommentare wird die Disparatheit der Datierungsversuche deutlich, in der sich Früh- und Spätdatierungshypothesen über die Jahrzehnte in etwa die Waage halten (vgl. Allison, 28-29).
1.4. Textsorte
In der Erforschung des Jak wurden diesem diverse Gattungsbezeichnungen zugewiesen, von denen jedoch nur Brief, Paränese und Weisheitsschrift nachhaltigeren Einfluss zeitigten. Die Textsortenbestimmung wird durch den Aufbau des Briefes (→ Brief / Briefformular (NT)
Midraschähnliche Anteile weisen den Brief als einen Text gelehrter Schriftauslegung aus. Andere Bezeichnungen wie Paränese oder Protreptik (= Kunst für ein erstrebenswertes Ziel zu werben) tragen nicht für eine Textsortenanalyse, da sie der Komplexität des Textes nicht gerecht werden. Als Textsorte hat sich angesichts der dynamischen dialogorientierten und appellativen Strukturen die Bezeichnung Brief etabliert. Dieser Brief zielt auf soziale Kommunikation und wird in der aktuellen Debatte entweder als christlicher Diasporabrief oder als paränetischer Brief klassifiziert (vgl. vor allem bei Burchard; Broer / Weidemann; Metzner).
2. Argumentations- und Kompositionsstruktur des Textes
Die Vorstellung eines fehlenden Zusammenhangs des Jak hat in der Textanalyse eine Zeitlang weite Zustimmung gefunden: Dem Brief liege keine logische Anordnung oder gedankliche Einheit zugrunde; seinem paränetischen Charakter entsprechend sei es sogar gattungstypisch zu erwarten, dass er sich durch eine gewisse Zusammenhangslosigkeit auszeichne.
Anhand des Jak wird allerdings die Charakteristik eines Textes besonders deutlich, denn nicht nur sind Briefeingang und -schluss eng miteinander verwoben, sondern auch die verschiedenen mikrotextuellen Zusammenhänge bilden ein Gewebe von unterschiedlichen Fäden, Linien und Vernetzungen (vgl. Frankemölle 1994).
Eine nicht unmittelbar erkennbare formale Architektur oder argumentative Gesamtstruktur hat vereinzelt zum Verzicht auf einen ausgewogenen Bauplan des Briefes geführt (vgl. Mußner; Popkes). Textlinguistische und literaturwissenschaftliche Zugänge jedoch setzten neue Impulse und ermöglichten eine Neubewertung der argumentativen und kompositorischen Struktur des Briefes. Dabei herrscht ein weitreichender Konsens bzgl. der Rahmenteile des Briefes: Neben dem Präskript (Jak 1,1
Diesem Artikel wird eine Gliederung zugrunde gelegt, die sich am Anredecharakter des Brieftextes mit seiner Geschwistermetaphorik orientiert. Klassische Gliederungen, die Jak 1,2-18
2.1. Präskript (Jak 1,1)
Das zweigliedrige Präskript richtet seinen Gruß an die zwölf Stämme in der Diaspora und trägt den Namen des Jakobus. Dieser wird als Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus ausgewiesen, womit eine doppelte Verhältnisbestimmung formuliert wird: Als Knecht Gottes steht der Briefsender nicht nur in einem Abhängigkeitsverhältnis Gott gegenüber, sondern auch in einem Autoritätsverhältnis den Adressaten gegenüber. Was folgt, soll als Wort göttlicher Sendung und Willenskundgebung gelesen werden.
Als Adressaten dieser Willenskundgebung nennt der Brief die zwölf Stämme in der Diaspora. Hier werden das Gottesvolk Israel und ein christlicher Adressatenkreis integriert, indem textpragmatisch die „bleibende Herkunft des Gottesvolks aus dem Haus Israel“ markiert wird und „die Angesprochenen ihre Identität als Christusanhänger von der Geschichte der Verheißungen an Israel her konstruieren“ (Nicklas). Christus-Gläubige werden so in das schon vor ihnen bestehende Gottesvolk mit seiner Berufung, seinen Pflichten und seinen Verheißungen integriert.
2.2. Briefeingang (Jak 1,2-18)
An diese Christus-Gläubigen richtet sich der Jak in der Autorität Gottes sowie des Kyrios und Messias Jesus (vgl. Jak 1,1
Damit wird Jak 1,2-4
Dieser dreifachen Bestimmung (vgl. Jak 1,13-15
2.3. Briefkorpus (Jak 1,19-5,6)
2.3.1. Eröffnung des Briefkorpus (Jak 1,19-27)
Als Einleitung in den Hauptteil des Briefkorpus bildet Jak 1,19-27
Die innere Vernetzung des Makrotextes reicht bis ins Briefkorpus: Das ‚Schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn‘ (vgl. Jak 1,19
2.3.2. Hauptteil des Briefkorpus (Jak 2,1-4,10)
Im Hauptteil erfolgt ein thematischer Neueinsatz, der mit ‚Meine Geschwister‘ (Jak 2,1
Im Anschluss geht es um die Verhältnisbestimmung von Glauben und Taten, veranschaulicht anhand der materiellen Bedürftigkeit von Gemeindegliedern (vgl. Jak 2,15-16
In Jak 3,1-11
Die anschließende rhetorische Frage verdeutlicht die Brückenfunktion von Jak 3,12
2.3.3. Abschluss des Briefkorpus (Jak 4,11-5,6)
Obwohl Jak 4,11-12
Die Macht zu verderben oder zu erretten kommt ausschließlich Gott zu und nicht dem Menschen. Kein Christus-Gläubiger dürfe sich über seine Geschwister oder Gott selbst erheben. Genau das aber geschehe mit der Verurteilung der Geschwister (vgl. Jak 4,11-12
Als eine weitere Sequenz beginnt Jak 5,1
2.4. Epilog (Jak 5,7-20)
Sollten sich andere auch zu Richtern erheben und sich durch Verurteilungen schuldig machen, so setzt der Briefschluss gerade gegenläufige Akzente: Mühen und Leiden sollen bis zur Ankunft des Herrn geduldig ertragen werden; die nahe Ankunft des Herrn wird als Trostpunkt illustriert und über feindseliges Klagen gegen Geschwister wird die Warnung des Gerichtetwerdens durch Gott verhängt (vgl. Jak 5,7-11
Wie das feindselige Klagen übereinander wird auch und ‚vor allem‘ (Jak 5,12
In den finalen Versen Jak 5,19f
3. Theologische Akzente
Im Jak kommt ein vielfältiges theologisches Themenspektrum zur Sprache. Im Folgenden werden fünf zentrale Akzente herausgegriffen und anhand des Textes näher erläutert: Theologie (3.1), Anthropologie (3.2), in die Tat umgesetzter Glaube (3.3), Reichtumsproblematik (3.4) und Gebet (3.5).
3.1. Theologie
Die Theologie des Jak wahrzunehmen bedeutet nicht, dass der Text christliche Lehren systematisiert bzw. ein theologisches Kompendium darstellt. Er bietet jedoch Theo-Logie im eigentlichen Sinne, indem er qualifizierte Rede von Gott darlegt und diese Perspektiven in einer theozentrischen Grundstruktur anordnet (vgl. Frankemölle 1994).
Der Jak skizziert ein monotheistisches Gottesbild (vgl. Jak 2,19
Die Wort-Theologie des Jak spiegelt die Dialektik des Gottesbildes wider, indem Logos (→ Logos
Entsprechend stehen neben soteriologischen Impulsen (vgl. Jak 1,21
„Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.“ (Jak 2,13
Dieser wesenhaft gute Kyrios (vgl. Wenger) wird als eifersüchtiger Gott geschildert, der den Heiligen Geist gibt, auf Demut achtet und Hochmut verachtet (vgl. Jak 4,5-6
Vergleichsweise spärlich erscheinen die christologischen Titel und Aussagen des Briefes (neben Jak 2,1
3.2. Anthropologie
Im Jak sind Menschenbild und Ethik miteinander verwoben. Grundsätzlich wird der Mensch in seinem Selbst-, Sozial- und Weltbezug sowie in seinem Verhältnis zu Gott betrachtet.
Zentral ist die theologische Aussage, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist. Diese Spitzenaussage biblischer Anthropologie (→ Anthropologie (NT)
Ambivalenz charakterisiert nicht nur das christliche Reden, sondern auch den Christus-Gläubigen insgesamt, der einerseits als Gottes Ebenbild (→ Ebenbildlichkeit (AT)
Die Christus-Gläubigen werden im Jak als Teil des Gottesvolks aufgefasst, deren Verbundenheit sich in der Geschwistermetaphorik manifestiert (vgl. 2.). Zur strukturellen Verfasstheit der christlichen Gemeinde, wie der Jakokusbrief sie zeichnet, sind nur wenige Hinweise vorhanden: Jak 2,2
3.3. In die Tat umgesetzter Glaube
Die enge Verknüpfung von Glauben und Taten im Jak kann zu Spitzensätzen führen wie in Jak 2,26
Demütiger Glaube unterwirft sich Gott und sucht die Reinigung von einem gottfernen Lebenswandel (vgl. Jak 4,6-10
Der tätige Glaube kann auch darin bestehen, dass vom christlichen Weg der Wahrheit (→ Wahrheit (NT)
Christliches Reden wiederum soll durch Bedachtsamkeit geprägt sein, da das Zügeln der Zunge laut Jak 1,26f
3.4. Reichtumsproblematik
Nicht Reichtum an sich wird im Jak problematisiert, stattdessen wird die Vergänglichkeit des Reichtums schon im Briefeingang angesprochen (vgl. Jak 1,10-11
Ähnlich klingt bereits Jak 2
Eine andere Spielart des gottlosen Verhaltens von Reichen, genauer: reichen Handels- und Kaufleuten, wird in Jak 4,13-17
3.5. Gebet
Das Thema Gebet im Jak begegnet zum ersten Mal prominent im Briefeingang. Wem Weisheit mangelt, wird Mut gemacht, sich im Bittgebet an Gott zu wenden, da dieser gerne gibt und diesbzgl. keine Vorwürfe mache; zugleich wird die Verheißung formuliert, dass dem Bittenden diese Weisheit gegeben wird (vgl. Jak 1,5
Erst später wendet der Text des Briefes sich wieder dem Bittgebet zu und nennt zwei weitere Gründe für eine ausbleibende Gebetserhörung: Ein Grund ist, dass überhaupt keine Bitte formuliert worden ist (vgl. Jak 4,2
Setzt das Bitten um Weisheit von Gott das gläubige Gebet (→ Gebet / Beten (NT)
Leicht zu übersehen ist die Gebetsthematisierung in Jak 5,4
Zuletzt spielt das Gebet innerhalb der Gruppe der Christus-Gläubigen eine Rolle: Als Erstes wird den Leidenden in der Gemeinde das Gebet zu Gott empfohlen (vgl. Jak 5,13a
Der Jak entfaltet in seinen wenigen Kapiteln eine ausgeprägte Gebetstheologie, die wiederum mit der differenzierten Theologie (vgl. 3.1) des Briefes korrespondiert: „Zur Erfassung christlicher Existenz nach Jak ist die Berücksichtigung des Gebets unverzichtbar. Zentrale theologische, paränetische und seelsorgerliche Ziele lassen sich gerade an der nachhaltigen Betonung der Gebetspraxis im individuellen wie ekklesialen Leben festmachen. Christliche Existenz ist […] Glaubensexistenz und als solche Gebetsexistenz.“ (Wypadlo).
4. Intertextuelle Verbindungen des Jakobusbriefes
Der Text des Jak wurde bisher intratextuell unter syntagmatischer, semantischer und pragmatischer Perspektive wahrgenommen. In Listen, Katalogen und Codices (→ Codices
4.1. Der Jakobusbrief als Teil des Corpus Apostolicum
Die Corpus Apostolicum genannte Briefsammlung umfasst neben dem Jak noch die beiden Petrusbriefe (→ Petrusbriefe
Wird der Text des Jak als Teil dieses Schriftenkorpus betrachtet, so lassen sich (a) jeweils zwischen den Briefen in ihrer Reihenfolge Verknüpfungen entdecken wie auch (b) zwischen dem Jak und den einzelnen Briefen des Corpus Apostolicum (vgl. vorrangig Niebuhr / Wall und Nienhuis / Wall):
4.2. Der Jakobusbrief im Verhältnis zum Corpus Paulinum
Das Corpus Paulinum (→ Corpus Paulinum
Mögen gerade die Glaubensverständnisse zwischen Jak und Corpus Paulinum differieren oder – abhängig von der jeweiligen Datierung – aufeinander reagieren, so haben sachgemäße Interpretationen sich zuerst am jeweiligen Makrotext der Briefe zu orientieren.
Jak und Corpus Paulinum können in ihrer intertextuellen Lektüre komplementär zur Geltung gebracht werden, wenn jeder von ihnen als Teil des Kanons aufgefasst wird (vgl. 4.3). Bevor jedoch die syntagmatische Dimension der Position des Jak im Kanon analysiert wird, sollen exemplarisch einige Verbindungen vom Corpus Paulinum zum Jak demonstriert werden (vgl. Nienhuis, der sogar direkte literarische Abhängigkeit annimmt und somit den Text des Jak als bewusste Einleitungskomposition für das Corpus Apostolicum sowie als Reaktion auf das Corpus Paulinum ansieht):
Wie in Jak 1,2-4
4.3. Der Jakobusbrief im Kanon
Wie bedeutsam innerhalb des Kanons die Reihenfolge der enthaltenen Schriften ist, zeigt sich am Beispiel des Jak besonders deutlich: Steht er traditionell – so nicht nur in römisch-katholischen und protestantischen, sondern auch in griechisch- und russisch-orthodoxen sowie in äthiopischen Bibelausgaben – an der Spitze des Corpus Apostolicum im hinteren Teil des neutestamentlichen Kanons, so ergibt ein Blick auf spätantike Codices des 4. und 5. Jh.s ein anderes Bild: Dort zeigt sich, dass die traditionelle Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften größtenteils zwar mit dem sehr wichtigen Codex Sinaiticus übereinstimmt; doch Peschitta, Codex Alexandrinus und Codex Vaticanus stimmen davon abweichend darin überein, dass das Corpus Apostolicum mit dem Jak an seiner Spitze direkt auf die vier Evangelien und die Apostelgeschichte folgt. Damit wird die Zurücksetzung der Katholischen Briefe, die sich verglichen mit der Wertschätzung für das Corpus Paulinum insbesondere im protestantischen Kontext nachweisen lässt, relativiert. Mehr noch: Durch die Vorordnung des Corpus Apostolicum gewinnen die darin enthaltenen Schriften – und mit ihnen der Jak – deutlich an Gewicht und können unter dieser erneuerten Perspektive wahrgenommen werden.
5. Rezeptionsgeschichte und neuere Jakobusbriefforschung
Mit dem Jak steht ein frühchristlicher Text zur Verfügung, der in seiner Rezeptionsgeschichte oft abschätzig behandelt wurde (M. Luther: ‚stroherne Epistel ohne evangelischen Charakter‘); in der Perspektive anderer ‚stehen doch ganz rasante Sachen darin‘ (K. Barth). Die Ambivalenz der Jakobusbriefrezeption bedingt eine Polarisierung, die dem Text teilweise das spezifisch Christliche bestreitet, während ihm andererseits ein undogmatisches, praktisches Christentum attestiert wird. Die theologische Leistungsfähigkeit des Jak stand längere Zeit durch einflussreiche formgeschichtliche Positionen in Frage, da die Beurteilung des Textes sich an Prämissen festmachte, welche methodisch zu einem Kontext- sowie Situationsverbot führten: Der Brief sei nur Paränese, daher sei Zusammenhangslosigkeit geradezu charakteristisch und die Textsegmente dürften nicht auf konkrete Situationen oder literarisch aufeinander bezogen werden. Das hatte zur Folge, dass auf dieser Grundlage keine Theologie des Textes erhoben wurde (vgl. z.B. Konradt 1998 in kritischer Aufarbeitung dieser Verbote).
In der Rezeptionsgeschichte des Textes steht für die frühchristliche Zeit nach bisheriger Datenbasis fest, dass eine Liste des Origenes zu Beginn des 3. Jh.s das erste Mal den Jak enthält (vgl. Bemmerl); der Mangel an weiterem Datenmaterial für die vorhergehende Zeit wird von manchen als Anlass aufgegriffen, für eine Spätdatierung Ende des 2. Jh.s zu argumentieren (vgl. 1.1; 1.3 und 4.2).
Bedeutsam erscheint das Fehlen von Datenmaterial aus frühchristlichen Kontexten, das die theologischen Schwierigkeiten oder Konflikte zwischen dem Jak und paulinischer Theologie belegen würde (vgl. Nienhuis, 106, Anm. 21). Analog dazu erklärt noch in der Reformationszeit der vierte Artikel der Apologie der Confessio Augustana, es bestehe ‚zwischen Jakobus und Paulus‘ kein Widerspruch, da der eine die Werke des zum Glauben gekommenen Menschen im Auge habe, während der andere solche Werke behandele, bevor der Mensch zum Glauben kommt (vgl. Deines, 35). Anders fiel freilich das Verständnis und die kanonische Degradierung des Jak durch Luther aus, dessen kritischer Sicht auf diesen Text Calvin und Zwingli nicht zustimmten; dass dennoch eine Reduzierung von Luthers Jakobus-Interpretation auf das Diktum von der ‚strohernen Epistel‘ weder Jak noch Luther gerecht würde, hat neuere Forschung zeigen können (vgl. Wick). Täuferische Interpretationen des Jak divergieren, wenngleich martyrologische Untersuchungen verdeutlichen, von welcher Relevanz der Text für den Glauben inhaftierter, gefolterter und getöteter Täufer war (vgl. Batten).
Die neuere Jakobusbriefforschung hat diesen Brief aus dem paulinischen Schattendasein gelöst: Ausgehend von grundlegenden theologischen Arbeiten zum Jak im englischsprachigen Bereich (z.B. durch Laws) bzw. im deutschsprachigen Bereich (z.B. durch Mußner) gelang einer ‚New Perspective on James‘ die Rehabilitierung und erneuerte Wertschätzung dieses Textes (vgl. von Gemünden / Konradt / Theißen; Niebuhr 2004). Im Zuge dessen wurden Ähnlichkeiten und Unterschiede zur paulinischen Tradition neu profiliert und so der Jak als eine der Stimmen im christlichen Kanon herausgearbeitet, die als entscheidender Teil des Corpus Apostolicum zur Ausbalancierung des Corpus Paulinum im Kanon beitragen (vgl. Davids; Hockey/Pierce/Watson).
Das ausbalancierende Potenzial des Jak eröffnet Perspektiven einer neuen Wertschätzung nicht nur dieses Textes, sondern auch des Kanonprinzips. Als gegenwärtiger Beitrag des Jak für die Theologie kann neben seinen spezifischen Akzenten sein biblisch fundiertes Sozialethos dienen, das Gottes Maßstab der Barmherzigkeit an das Leben der Gemeinde anlegt.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel und Überblicksliteratur
- Broer, Ingo/Weidemann, Hans-Ulrich: § 27 Der Jakobusbrief, in: dies., Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 32010, 596-616
- Frankemölle, Hubert: Art. Jakobusbrief, in: LThK3 Bd. 5 (1996), 734-736
- Hartin, Patrick u.a.: Art. Epistle of James, in: EBR 13 (2016), 721-734
- Konradt, Matthias: XV. Der Jakobusbrief, in: Martin Ebner/Stefan Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, KStTh 6, Stuttgart 22013, 502-516
- Laws, Sophie: Art. Epistle of James, in: ABD 3 (1992), 621-628
- Pokorný, Petr/Heckel, Ulrich: 8.8 Der Jakobusbrief, in: dies., Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 715-728
- Schnelle, Udo: Der Jakobusbrief, in: ders., Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 92017, 461-477
2. Kommentare
- Allison, Dale C.: A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle of James, ICC, London/New York 2013
- Bauckham, Richard: James. Wisdom of James, disciple of Jesus the sage, NTR, London/New York 1999
- Burchard, Christoph: Der Jakobusbrief, HNT 15/1, Tübingen 2000
- Frankemölle, Hubert: Der Brief des Jakobus. Kapitel 1, ÖTK 17/1, Gütersloh/Würzburg 1994; ders.: Der Brief des Jakobus. Kapitel 2-5, ÖTK 17/2, Gütersloh/Würzburg 1994
- Johnson, Luke: The Letter of James, AYBC, Yale 2005
- McKnight, Scot: The Letter of James, NICNT, Grand Rapids/Cambridge 2011
- Metzner, Rainer: Der Brief des Jakobus, ThHK 14, Leipzig 2017
- Mußner, Franz: Der Jakobusbrief, HThKNT XIII, Freiburg/Basel/Wien 41981
- Popkes, Wiard: Der Brief des Jakobus, ThHK 14, Leipzig 2001
3. Monographien und Sammelbände
- Davids, Peter H.: A Theology of James, Peter, and Jude. Biblical Theology of the New Testament, Grand Rapids 2014
- Deines, Roland: Jakobus. Im Schatten des Größeren, Biblische Gestalten 30, Leipzig 2017
- Foster, Robert J.: The Significance of Exemplars for the Interpretation of the Letter of James, WUNT II/376, Tübingen 2014
- Gemünden, Petra von/Konradt, Matthias/Theißen, Gerd: Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung einer „strohernen Epistel“, Beiträge zum Verstehen der Bibel 3, Münster 2003
- Gowler, David B.: James Through the Centuries, BBC, Wiley-Blackwell 2014
- Hockey, Katherine M./Pierce, Madison N./Watson, Francis (eds.): Muted Voices of the New Testament. Readings in the Catholic Epistles and Hebrews, LNTS 587, London/New York 2017
- Kaiser, Sigurd: Krankenheilung. Untersuchungen zu Form, Sprache, traditionsgeschichtlichem Hintergrund und Aussage von Jak 5,13-18, WMANT 112, Neukirchen-Vluyn 2006
- Konradt, Matthias: Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, SUNT 22, Göttingen 1998
- Nicklas, Tobias (ed.): The Epistle of James. Theology, Ethics and Reception, in: ASEs 34/2 (2017), 339-551
- Niebuhr, Karl-Wilhelm/Wall, Robert W. (eds.): The Catholic Epistles and Apostolic Tradition. A New Perspective on James to Jude, Waco 2009
- Nienhuis, David R.: Not By Paul Alone. The Formation of the Catholic Epistle Collection and the Christian Canon, Waco 2007
- Nienhuis, David R./Wall, Robert W.: Reading the Epistles of James, Peter, John and Jude as Scripture. The Shaping and Shape of a Canonical Collection, Grand Rapids 2013
- Webb, Robert L./Kloppenborg, John S. (eds.): Reading James with New Eyes. Methodological Reassessments of the Letter of James, LDuNTS 342, New York 2007
- Wenger, Stefan: Der wesenhaft gute Kyrios. Eine exegetische Studie über das Gottesbild im Jakobusbrief, AThANT 100, Zürich 2011
- Wypadlo, Adrian: Viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten (Jak 5,16). Die Weisung zum Gebet im Jakobusbrief, fzb 110, Würzburg 2006
4. Aufsätze
- Batten, Alicia J.: Early Anabaptist Interpretation of the Letter of James, in: ASEs 34/2 (2017), 537-551
- Bemmerl, Christian: Die frühe Rezeption des Jakobusbriefs und die Geschichte des neutestamentlichen Kanons, in: ASEs 34/2 (2017), 513-535
- Luther, Susanne: Von Feigenbäumen und Oliven. Die Rezeption, Transformation und Kreation sprachethischer Traditionen im Jakobusbrief, in: ASEs 34/2 (2017), 381-401
- Nicklas, Tobias: Großfamilie aus zwölf Stämmen. Die „Kirche“ im Jak, in: ASEs 34/2 (2017), 363-380
- Niebuhr, Karl-Wilhelm: „A New Perspective on James?“ Neuere Forschungen zum Jakobusbrief, in: ThLZ 129 (10/2004), 1019-1044
- Niebuhr, Karl-Wilhelm: Jakobus und Paulus über das Innere des Menschen und den Ursprung seiner ethischen Entscheidungen, in: NTS 62 (2016), 1-30
- Pflock, Andreas: Klare Kante in existentieller Gebrochenheit. Exegetische Perspektiven zu einer anthropologischen Brechung im Jakobusbrief, in: Christoph Barnbrock/Christian Neddens (Hg.), Simul-Existenz. Spuren reformatorischer Anthropologie, Lutherische Theologie im Gespräch (LThG), Band 1, Leipzig 2019, 102-121
- Wick, Peter: Martin Luther und der Jakobusbrief, in: EvTh 77 (6/2017), 417-426
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