Deutsche Bibelgesellschaft

Gericht Gottes (NT)

(erstellt: Januar 2011)

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1. Allgemeines

Die neutestamentliche Rede vom Gericht Gottes (krisis tou theou) knüpft an alttestamentliche (→ true [AT]) bzw. antik-jüdische Vorstellungen an. Dies gilt zunächst für das mit dem Begriff verbundene Gottesbild. So, wie Gott in anderen Zusammenhängen als „König“, „Kultherr“ oder „Weiser“ beschrieben wird, erscheint er in diesem Vorstellungsbereich als „Richter“ (kritēs). Alle für das gedeihliche Leben der Gemeinschaft notwendigen Ordnungen (Herrschaft, Kult, Weisheit / Erziehung, Recht) werden auf Gott zurückgeführt, der sie den Menschen, seiner → Schöpfung, zueignet. Da die Menschen infolge ihrer Autonomie diese Ordnungen in gemeinschaftswidriger Weise verletzen können, gilt Gott zugleich als der, der über den Bestand der Ordnungen wacht, das Festhalten daran belohnt und Übertretungen bestraft.

Die Rede von Gott als „Richter“, „König“ usw. ist metaphorische Rede; sie meint nicht, dass Gott ein Amtsträger sei oder dass sich die göttliche Sphäre („der Himmel“) als Palast, Tempel, Gerichtshof usw. vorstellen ließe. Hintergrund dieser Redeweise ist, dass alle Menschen, die gesellschaftliche Verantwortung tragen, dies nicht eigenmächtig tun, sondern von Gott dazu befähigt und berufen werden. Da die menschlichen Ordnungen in Gott gründen und die menschliche Sprache durch diese Ordnungen geprägt ist, kann der Mensch von Gott nicht anders reden als in Analogie zu den ihn bestimmenden machtvollen Instanzen: dem → König, dem → Richter, dem → Priester oder dem Weisen. Die menschliche Redeweise vom „Richter“ und vom „Gericht“ wird allerdings dadurch unterlaufen, dass Gottes richtendes Handeln nicht nur Individuen oder einzelnen Kollektiven gilt, sondern der gesamten Völkerwelt, da Gott seinen Willen vor aller Schöpfung zur Geltung bringen will.

Auch die vielschichtigen antik-jüdischen Vorstellungen, wie sich Gottes richterliches Handeln vollzieht, finden ihren Niederschlag in den neutestamentlichen Schriften: Theoretisch ließe sich unterscheiden, ob dieses Handeln dem Einzelnen gilt oder Kollektiven (z.B. „Israel“ oder den „Heiden“, den „Gerechten“ oder den „Sündern“), ob es sich als geschichtliches Ereignis (in Aufnahme prophetischer bzw. weisheitlicher Tradition: → Tun-Ergehen-Zusammenhang) oder als einmaliger endzeitlicher Vorgang (universales Gericht über die Lebenden und die Toten im apokalyptischen Erwartungshorizont) vollzieht.

Tatsächlich gehen diese Aspekte oft ineinander über oder stehen sogar nebeneinander, da die Rede von Gottes Gericht im NT vor allem paränetische Funktion hat: Sie bringt in Erinnerung, dass das Handeln jedes Menschen verantwortungsvoll geschehen muss, weil es in die Rechte anderer eingreift. Die Verletzung des von Gott ermöglichten und geforderten Gerechtseins, d.h. der Einhaltung der Rechtsordnung und der zwischenmenschlichen Solidarität, ist ein Angriff auf die Würde des als → Ebenbild Gottes geschaffenen Mitmenschen. Dieser Angriff tangiert zugleich die Heiligkeit Gottes, den tiefsten Grund seiner Gerechtigkeitsforderung, die allem Unheiligen, also auch dem Rechtsbrecher, gefährlich werden kann. (Zur Heiligkeit Gottes als Voraussetzung der Paränese vgl. 1Petr 1,14-17 unter Aufnahme von Lev 19,2.) Alle Gerichtsaussagen sind daher im Kern Aussagen über den heilen oder heillosen Zustand der Gottesbeziehung des Menschen. Das Urteil, das ihm im Gottesgericht bevorsteht, wird deshalb in Form einer Alternative ohne Zwischentöne beschrieben: Dem von Schuld Freien (Gerechten oder Gerechtfertigten) widerfährt es als ewige Hineinnahme in die Heilssphäre Gottes, dem aufgrund seiner Unrechtstaten Verurteilten als Vertreibung in einen heillosen Raum der Gottesferne, der in volkstümlichen Farben als Ort bitterster Kälte oder qualvollster Hitze beschrieben werden kann.

Für die antik-jüdische Religion ist der Gedanke leitend, dass diejenigen in Gottes Gericht bestehen können, die an dem von Gott mit Israel aus freier Gnade gestifteten → Bund festhalten, den Bundessatzungen (der Tora) folgen und Verfehlungen sühnen (E.P. Sanders). Im frühen Christentum verschiebt sich diese Vorstellung dahin, dass sich das Geschick des Menschen an seinem Verhältnis zu Jesus, dem von Gott zur Rettung aller Völker gesandten Christus, entscheidet. Wie der Mensch in dieses rettende Christusverhältnis eintreten und darin verbleiben kann, wird in den einzelnen Schriften unterschiedlich beschrieben (s.u. 4.). Im Zentrum steht jedoch überall der Gedanke, dass der Mensch durch den Glauben an den für ihn gestorbenen und auferstandenen Christus Orientierung für ein verantwortungsvolles Leben und folglich Hoffnung auf das Bestehen in Gottes Gericht erlangt. Dieser Christus-Zentrierung entspricht es, dass die neutestamentlichen Aussagen über das Gericht Gottes mit zunehmendem Abstand zur Wirksamkeit des historischen Jesus christologischen Charakter gewinnen. Dies kommt in der allgemeinen Erwartung zum Ausdruck, dass nicht Gott selbst das Gericht über die Menschheit halten werde, sondern in göttlicher Vollmacht der am Ende der Weltzeit wiederkehrende Christus. Dementsprechend wird der in apokalyptischen Kreisen erwartete endzeitliche Menschensohn-Richter (→ Christologische Hoheitstitel Teil 2) nun mit Jesus identifiziert.

2. Johannes der Täufer

Die frühchristliche Erwartung eines Gottesgerichts gründet unter anderem in der eschatologischen Predigt → Johannes des Täufers, der seinerseits alttestamentliche Endzeiterwartungen aktualisierte. Johannes verstand sich vermutlich im Sinne des Maleachibuches als der wiedergekehrte Prophet → Elia, dessen Auftreten nach Mal 3,23 dem Gerichtstag Gottes vorausgehen soll. Er kündigte den zu ihm an den Jordan kommenden Juden das nahe Zorngericht Gottes an, dem nur entfliehen könne, wer → Umkehr vollzieht und gute Frucht bringt, d.h. sich in seiner Lebenspraxis an der → Tora orientiert. An den Umkehrwilligen vollzog er eine einmalige Wassertaufe zur Vergebung früherer Sünden, die vielleicht mit der Verheißung verbunden war, bei einem toragemäßen Leben im kommenden Gericht bestehen zu können. Den Unbußfertigen drohte er die Feuertaufe durch einen „Stärkeren“ an, der sie, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu Israel, wie „Spreu“ verbrennen werde (Mt 3,7b-12 par. Lk 3,7-9.16f). Wen Johannes mit diesem „Stärkeren“ meinte, Gott selbst oder einen anderen, muss aufgrund der schmalen Überlieferung offenbleiben. Weil jener Stärkere „die Worfschaufel in seiner Hand hält“ (Mt 3,12 par.), mag an eine menschenartige Gestalt gedacht sein, vielleicht an den → Menschensohn-Richter der zeitgenössischen → Apokalyptik. – Weil sich Jesus von Johannes taufen ließ und Johannesschüler sich der Jesusbewegung anschlossen (Joh 1,35ff), wurden Taufe und Gerichtspredigt des Johannes, wenngleich in christologischer Deutung, fester Bestandteil der frühchristlichen Praxis und Verkündigung.

3. Jesus

Während Johannes am → Jordan wirkte und die zu ihm kommenden Menschen auf ihre Verfehlungen und den dadurch hervorgerufenen Gerichtszorn Gottes ansprach, suchte Jesus die Bevölkerung von Galiläa (und Umgebung?) als Wanderprediger auf, um ihr die Frohbotschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft auszurichten. Sosehr diese Botschaft rettende Botschaft ist, als sie den gesellschaftlich Unterprivilegierten Gottes unbedingte Zuwendung verheißt und den Unrechttätern Gottes → Barmherzigkeit, sosehr ist sie auch Gerichtspredigt, als sie die Bürgerschaft im → Reich Gottes für alle Entscheidungsfähigen abhängig macht von einer ethischen Neuorientierung, die der autoritäts- und reichtumskritischen Toraauslegung Jesu entspricht (vgl. die sogenannten Einlassworte Jesu Mk 10,15.23 u.ö.). Wer den durch Jesu vollmächtige Predigt eröffneten Eintritt in den Herrschaftsraum Gottes verweigert, wird dem endzeitlichen Gotteszorn anheimfallen. Zur Reich-Gottes-Verkündigung Jesu gehören daher Gerichtsworte, die an die Klugheit der Hörer appellieren und sie eindrücklich zur Umkehr auffordern (z.B. Mt 7,1f.; Mk 9,43-48; Lk 13,2-5; Lk 16,19-31). Der Maßstab, um im nahen Gericht bestehen zu können, ist folglich das Einverständnis der Hörer mit Jesu herausfordernder Botschaft (Mt 7,21.24-27; Lk 12,9).

Konkretionen, wie sich das Gerichtshandeln Gottes vollziehen wird, fehlen bei Jesus weitgehend, da im Zentrum seiner Botschaft die Rettung des Menschen steht. Anzunehmen ist, dass Jesus die Vernichtung des und der Bösen als Teil des bereits im Gange befindlichen, etwa die Zeit einer Generation währenden Prozesses (Mk 9,1) auffasste, in dem Gottes Herrschaft die Welt vollständig durchdringt. Zu diesem gegenwärtigen richterlichen Handeln Gottes gehören der Sturz des → Satans (Lk 10,18) und die Vertreibung der → Dämonen (Mk 3,22-27; Lk 11,20), womit Gott gleichzeitig seiner gequälten Schöpfung aufhilft. Obwohl in einigen Gerichtsworten Jesu traditionelle apokalyptische Gerichtsszenarien anklingen (Mt 11,21-24; Mt 12,41f) und er womöglich dem Zwölfer-Kreis seiner Schüler eine Richterfunktion im endzeitlichen Gericht über Israel verheißt (Mt 19,28), ist „Gericht“ bei Jesus vor allem ein Synonym für den drohenden Ausschluss vom Reich Gottes, auf dem er die Umkehrungswilligen anspricht. Wie sich dieser Ausschluss in ein heilloses Abseits vollzieht, ist gegenüber der Hoffnung, dass niemand verlorengehe, nebensächlich. Von daher ist es unwahrscheinlich, dass Jesus Spekulationen über das Auftreten der endzeitlichen Richtergestalt des Menschensohns teilte (ein Zusammenhang zwischen seiner Reich-Gottes-Predigt und Menschensohnworten wie Mk 8,38; Mk 13,26f besteht nicht) oder gar in verhüllender Weise sich selbst als diesen Richter ankündigte. Vorstellbar, wenngleich nicht beweisbar, ist hingegen, dass Jesus am Ende seiner nur begrenzt erfolgreichen Verkündigung, seinen gewaltsamen Tod in Kauf nehmend, nach → Jerusalem zog, um sich im Sinne des jüdischen Sühnopfergedankens für die Unbußfertigen in Israel als „Lösegeld“ hinzugeben, um Gottes Gericht über sie abzuwenden (vgl. Mk 10,45).

4. Das frühe Christentum

Wie im antiken Judentum ist Gottes Gericht auch im frühen Christentum ein beherrschendes Thema. Es werden jedoch neue Akzente gesetzt: Eröffnete bei Johannes dem Täufer und bei Jesus die bußfertige Orientierung an ihrer Predigt die Möglichkeit, im endzeitlichen Gericht bestehen zu können, so verschiebt sich im Christentum der soteriologische Grundgedanke dahin, dass das Bekenntnis zu Jesus, dem von Gott durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen beglaubigten Christus, die Menschen – nunmehr, über Israel hinaus, alle Völker – vom Gerichtszorn Gottes errettet. Begründet aber die heilvolle Christusbeziehung des Menschen die Hoffnung, in Gottes Gericht bestehen zu können, wächst auch die Erwartung, dass Christus selbst in diesem Gericht auftreten werde, sei es als Gerichtsherr, sei es als Anwalt der auf ihn Vertrauenden. Dass sich dieses Gericht über die gottfeindlichen Mächte demnächst vollzieht, gehört zum Kern frühchristlicher Hoffnung. Der Gebetsruf der Gemeinde: „Unser Herr, komm!“ (1Kor 16,21; Apk 22,20b), ist Antwort auf die prophetische Verheißung: „Siehe, ich komme bald!“ (Apk 22,7.12.20a) Trotz des allmählichen Nachlassens der Erwartung, dass der erhöhte Christus in naher Zukunft wiederkehren und das Gericht über die Welt vollziehen werde, schwächt das frühe Christentum den Gerichtsgedanken weder ab noch gibt es ihn auf. Er steht im Hintergrund aller christlichen Verkündigung, die nicht Angst und Schrecken verbreiten, sondern den Menschen zu seinem Glück herausfordern will, sich existentiell nur auf das zu verlassen, was vor Gott Bestand hat.

4.1. Die Paulusbriefe

Die frühchristliche Erwartung des Gottesgerichts am „Tag des Herrn“ (1Kor 5,5; 2Kor 1,14), an dem alle Menschen, auch die Christen (Röm 14,10-13; 1Kor 3,12-17; vgl. Kol 3,25), sich zu verantworten haben, wird von Paulus geteilt und gehört zu den Denkvoraussetzungen seiner Rechtfertigungslehre. Die durch eigene Lebenserfahrungen (Verfolgung der christlichen Gemeinden) geprägte pessimistische Anthropologie des Paulus führt ihn zu dem Urteil, dass vor Gott kein Mensch, sei er Jude oder Nichtjude, gerecht ist und dass niemand aufgrund eigener Leistung vor dem „Richterstuhl Christi“ (2Kor 5,10) bestehen kann (Röm 3,9-20; Röm 2,1-16). Retten kann den todverfallenen Menschen nur, dass er die in → Kreuz und → Auferstehung Christi geschehene todüberwindende Rettungstat Gottes sich im Vertrauen darauf aneignet, dass sie aus → Gnade zu seinen eigenen Gunsten geschehen ist.

Solcher rettender Glaube, der durch das Hören der Predigt von Christus ermöglicht wird, ist für Paulus kein intellektueller, sondern ein die gesamte Existenz verändernder Vorgang: Sie führt den Glaubenden in die → Taufe, in der er das Todesgeschick Christi symbolisch teilt und die Zuversicht gewinnt, einst auch mit Christus aufzuerstehen (Röm 6). Durch die ihn von Schuld reinigende und zugleich heiligende Taufe (1Kor 6,11) erhält der Christ Anteil an Christus bzw. am göttlichen → Geist (Gal 2,20; Röm 8,11), der von nun an sein Gewissen lenkt (oder lenken soll), sodass er die Taten tut (oder tun kann), die Gottes Willen entsprechen (Gal 5,16-25). So können die von Schuld Befreiten („Gerechtfertigten“) in der Hoffnung leben, dass sie im Gottesgericht kein „Verdammungsurteil“ (katakrima) treffen wird (Röm 8,1). Angesichts dieser Hoffnung ist das Handeln der Christen keinesfalls beliebig, sondern es soll ihrer neuen Existenz „in Christus“ entsprechen und im Geist der Nächstenliebe geschehen. Solange die Christen in der Welt leben, leben sie jedoch als von den Verlockungen der → Sünde Angefochtene. Deshalb bedürfen sie der gegenseitigen geschwisterlichen Ermahnung und Ermutigung, damit sie nicht in eine Lebensweise zurückfallen, die sie vor dem Gericht Gottes nicht verantworten können (Gal 6,1-10; vgl. Kol 3,5f).

4.2. Die synoptischen Evangelien

Aufgrund ihrer Entstehung im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts und ihres umfangreichen gemeinsamen Textbestandes finden sich in Markus, Matthäus und Lukas ähnliche Gerichtsvorstellungen. Jesu Erwartung, dass sich das Gottesgericht prozesshaft im Laufe weniger Jahrzehnte vollziehen werde, wird angesichts der sich dehnenden Zeit abgelöst von apokalyptischen Spekulationen über den weiteren Verlauf der Geschichte und deren plötzlichen Abbruch durch das vom wiederkehrenden Christus, dem Menschensohn, vollzogene universale Gericht. Die sogenannte synoptische Apokalypse (Mk 13; Mt 24; Lk 21; vgl. Lk 17,20-37) kündigt eine dramatische Verschlechterung der gegenwärtigen Situation durch Irrlehrer, Kriege und Verfolgungen an, die als Zeichen des baldigen, mit kosmischen Katastrophen einhergehenden Gerichts gedeutet werden. In diesem Gericht, dessen „Tag und Stunde“ nur Gott selbst kennt (Mk 13,32; Mt 24,36; Apg 1,7), wird der Menschensohn seine „Auserwählten“ versammeln (Mk 13,27) bzw. der königliche Christus die Gesegneten von den Verfluchten trennen (Mt 25,31-45). Das kommende Gericht bestimmt daher die Gegenwart der Christen als Zeit der Wachsamkeit, Bewährung und Mission, damit möglichst viele Menschen aus allen Völkern gerettet werden. Was es in dieser vorletzten Zeit, in der sich die Menschen noch auf die Seite des Heils schlagen können, zu tun gilt, wird von den Evangelisten unterschiedlich akzentuiert:

Markus stellt Jesus von Anfang bis Ende seines Wirkens in Begleitung seiner Jüngerinnen und → Jünger dar. Sie sollen auf dem gemeinsamen Weg, der in die Passion und zur Auferstehung führt, lernen, was es bedeutet, Jesus als den Christus Gottes zu bekennen. Das Bekenntnis zu Christus ist dann richtig verstanden, wenn die Christen ihren Weg durch die Welt in der → Nachfolge des leidenden und sterbenden Christus gehen und selber Verfolgung und Tod in Kauf nehmen – so werden sie am Ende der Zeit, wie Christus vor ihnen, ewiges Leben empfangen (Mk 8,34-38; Mk 13,9-13).

Für Matthäus ist nicht das Lippenbekenntnis der Christen zu Christus als ihrem göttlichen „Herrn“ (kyrios) heilsbedeutsam, sondern das genaue Befolgen der von Christus gelehrten und gelebten → Gerechtigkeit, die dem göttlichen Willen entspricht (Mt 7,21-27). Weil der Mensch, so die optimistische Anthropologie des Matthäus, hinsichtlich der Gerechtigkeit so vollkommen sein kann wie Gott (Mt 5,44), müssen „kleingläubige“, d.h. in ihrer Praxis nachlässige Christen mit → Gottes Zorn rechnen, denn sein Gericht wird an der Gemeinde nicht vorbeigehen (Mt 13,24-30.36-43).

Den Grund, warum Gott das Gericht über die Welt noch hinausschiebt, erkennt Lukas in der Ermöglichung einer weltweiten → Mission. Deren vom heiligen Geist bewirkten Erfolge stellt er in der Apostelgeschichte, der Fortsetzung seines Evangeliums, am Beispiel der → Apostel und des Paulus dar. Entscheidend für den veränderungsbedürftigen, zur Sünde geneigten Menschen, sei er Jude oder Nichtjude, ist, dass er sich von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, die ihm in Jesus und dessen geisterfüllten Zeugen begegnet, anrühren lässt und zu einer neuen Lebensorientierung (metanoia) findet. Die sozialen Beziehungen des durch solche Gottesbegegnung veränderten Menschen, speziell die des → Reichen, sollen fortan von der Barmherzigkeit geprägt sein, die er selbst erfahren hat (Lk 19,1-10). Den Ernst solcher Umkehr schärft Lukas dadurch ein, dass er neben dem allgemeinen endzeitlichen Gericht ein individuelles Gericht kennt, bei dem der Mensch unmittelbar nach seinem Tod Lohn oder Strafe empfängt (Lk 16,19-31; Lk 23,39-43).

4.3. Das Johannesevangelium

Wie bei Jesus vollzieht sich nach Johannes das Gericht über die Menschen bereits in der Gegenwart. Das Kriterium ist jedoch nun christologischer Art: Wer an Jesus als den von Gott gesandten Sohn des himmlischen Vaters glaubt, gehört zu den Geretteten und wird nicht gerichtet; „wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes glaubt“ (Joh 3,18; vgl. Joh 3,36; Joh 5,24). So führt Christus die Menschen durch die Konfrontation mit ihm ins Gericht (Joh 5,22; Joh 9,39), ohne dass er, der zur Rettung der Welt gekommen ist, über sie richtet (Joh 3,17), denn der nicht glaubende Mensch verbleibt ohne weiteres in der Todessphäre der unerlösten Welt (Joh 3,19; Joh 12,46f). Dass der Mensch durch seine Öffnung oder sein Verschlossen-Bleiben gegenüber dem göttlichen Sohn sich selbst das Urteil spricht, schließt für Johannes den Gedanken eines künftigen Gerichts nicht aus (Joh 5,27-29; Joh 12,48). Denn das Bekenntnis des Menschen zu Christus kann ohne Frucht bleiben – nämlich ohne eine dem Glauben entsprechende Lebenspraxis, die von gegenseitiger Zuwendung (agapē) bestimmt sein soll (Joh 15,9-17) –, sodass seine rettende Christusbeziehung verdorrt (Joh 15,6). Andererseits bleibt Hoffnung für die, die ohne Glauben sind. Denn der von Christus nach seiner Erhöhung am Kreuz gesandte → „Paraklet“ (eine johanneische Bezeichnung für den heiligen Geist) wird die Menschen weiterhin über das Gericht belehren (Joh 16,8). Die Rettung jedes einzelnen ist möglich, weil der zu Gott erhöhte Christus „alle“ zu sich ziehen will (Joh 12,32).

4.4. Hebräerbrief, katholische Briefe, Offenbarung des Johannes

Der die Metapher vom Gericht prägende Grundgedanke, dass der Mensch aufgrund seiner Autonomie Verantwortung für sein Handeln und sein daraus resultierendes Gottesverhältnis übernehmen muss, bestimmt auch die jüngeren Schriften des NT. Die Rede vom Gericht findet sich dort einerseits in präsentisch-ermahnenden Zusammenhängen, andererseits in apokalyptisch-eschatologischen Ausblicken, die mittelbar ebenfalls paränetische Funktion besitzen. So schärft der → Hebräerbrief ein verantwortliches Leben, das von gegenseitiger Zuwendung und guten Werken geprägt sein soll, mit der Warnung ein, dass es für die Getauften keine zweite Bußmöglichkeit gibt. Den erneut vorsätzlich Sündigenden bleibt nur „ein schreckliches Warten auf das Gericht“ (Hebr 10,24-27). Ähnlich wirbt der → Jakobusbrief für eine von Barmherzigkeit bestimmte Praxis namentlich der reichen Christen, da ihnen sonst ein „unbarmherziges Gericht“ droht (Jak 2,13). Dass die Gottlosen in dem, wann auch immer sich ereignenden, endzeitlichen Gericht scheitern (2Petr 3,7), die Frommen aber darin bestehen werden, ist eine derart geläufige Vorstellung, dass sie auch in formelhaften Wendungen zum Ausdruck gebracht werden kann: Vom „Tag des Gerichts“, dem die an der geschwisterlichen Liebe festhaltenden Christen zuversichtlich entgegensehen können, spricht 1Joh 4,17; den Christus, der „die Lebenden und die Toten richtet“, stellt 1Petr 4,5 vor Augen angesichts von Verfolgungen der Gemeinde, die als Beginn des universalen Gerichts gedeutet werden (1Petr 4,17f).

Die → Johannesoffenbarung schöpft ihre gewaltigen Visionen von den als nah bevorstehend gedachten Endzeitereignissen aus der Bilderwelt der apokalyptischen Tradition. Die Schilderungen konzentrieren sich daher auf Gottes weltweites Zorn- und Strafgericht, in dem alle satanischen Mächte besiegt werden (z.B. Apk 14,6-16,21). Doch klingt auch in diesen Abschnitten an, dass das Gerichtshandeln Gottes bzw. seines Christus vor allem zugunsten der bedrängten Christen und ihrer → Märtyrer seinen Lauf nehmen soll (Apk 14,12f; vgl. Apk 6,9f; Apk 18,20). Das Urteil über die Menschen, auch über die rettungsbedürftigen Christen, wird aufgrund ihrer Werke gesprochen, die in himmlischen Büchern aufgeschrieben sind. Wer im „Buch des Lebens“ verzeichnet ist, gehört zur Schar der Geretteten (Apk 20,11-15; vgl. Apk 14,1-5) und zu den Erben der unvergänglichen neuen Welt Gottes (Apk 21,1-7), während die Frevler einen wohl endgültigen „zweiten Tod“ erleiden werden (Apk 21,18). Mit diesem Ausblick auf die eschatologischen Konsequenzen menschlichen Handelns wird die Paränese der Sendschreiben an die sieben Gemeinden Kleinasiens, in der es um die besondere Verantwortung der Christen für ihre Werke geht (Apk 2f), in drastischen Sprachbildern verstärkt.

5. Gottes Gericht und Allversöhnung

Dass diejenigen, die trotz des Versöhnungshandelns in Jesus Christus sich Gottes gnädiger Gerechtigkeit und einer ihr analogen Lebenspraxis verschließen, in ein heilloses, vom Tod überschattetes Abseits geraten, ist die gemeinsame Mitte der negativen Gerichtsaussagen des Neuen Testaments. Sie reflektieren die Einsicht, dass das Tun des Menschen nicht beliebig sein kann, sondern, trotz aller Fehlbarkeit, nur als ein seinen Schöpfer und seine Mitgeschöpfe achtendes, verantwortungsvolles Handeln erträglich ist. Die Gerichtsaussagen werfen jedoch das theologische Problem auf, dass der Heilsstatus des Menschen darin wesentlich durch seine Werke, also letztlich von ihm selbst, bestimmt wird und nicht allein von Gott, der den Menschen als sein Ebenbild erschuf. Wenn aber der Mensch seine Würde als Geschöpf Gottes nicht verlieren kann, also zwischen ihm und seinen nichtswürdigen Taten zu unterscheiden bleibt, bricht die Frage auf, ob die Verurteilung des Sünders im Gericht das letzte Wort des liebenden Gottes über ihn sein kann. Die frühe Kirche (seit → Origenes) hat daher das – dogmatisch bis heute strittige – Theologumenon einer „Allversöhnung“ (apokatastasis pantōn, der Begriff im Neuen Testament nur einmal unspezifisch in Apg 3,21) entwickelt, wonach den Gottlosen eine zeitlich befristete Strafe widerfährt und sie anschließend von Gott durch völlige „Wiederherstellung“ in ihren schöpfungsgemäßen Zustand zurückversetzt werden. Diese Lehre knüpft vor allem an paulinische und nachpaulinische Aussagen an, unter anderem an Röm 8,18-25 (Befreiung der Schöpfung von der Vergänglichkeit); Röm 11,32 (Gott will sich aller erbarmen); 1Kor 15,20-28.54-57 („Gott ist alles in allem“, „verschlungen ist der Tod vom Sieg“); Eph 1,10; Kol 1,20 (durch Christus soll alles versöhnt werden mit Gott), in denen das Christusgeschehen als universales, nichts und niemanden aussparendes Rettungsgeschehen beschrieben wird. Die genannten Belege suspendieren jedoch die deutlichen Gerichtsaussagen ihrer Kontexte nicht, noch erörtern sie die Möglichkeit einer Versöhnung mit Gott an Christus vorbei. Im Neuen Testament tritt also keine Lehre von der Allversöhnung neben die von der eschatologischen Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten. Trotzdem bleibt zu bedenken, ob und wie sich die dualistische Vorstellung eines solchen Gerichts mit den schon die Jesustradition prägenden schöpfungstheologischen Hoffnungen verbinden lässt, in denen die Allversöhnungs-Lehre letztlich wurzelt. Vielleicht ließe sich eine Verbindung des Gerichts- mit dem Allversöhnungs-Gedanken mit Hilfe des jüdischen Grundsatzes anbahnen, wonach das Maß von Gottes Güte größer ist als das seiner strengen Gerechtigkeit (vgl. Tosefta, Sota 4,1). Gott ist nicht willkürlich, sondern gerecht, aber er ist nicht gerecht um der Bestrafung willen, sondern um die Würde und Verantwortung seiner Geschöpfe zur Geltung zu bringen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 1998-2007, 4. Aufl., Tübingen, (Art. Gericht Gottes IV)
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  • Yinger, K.I., 1999, Paul, Judaism, and Judgment According to Deeds (MSSNTS 105), Cambridge u.a.
  • Zager, W., 1996, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen (BZNW 82), Berlin / New York

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