Deutsche Bibelgesellschaft

Apokalypse des Jakobus, Erste

(erstellt: Mai 2024)

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1. Überlieferung und literarische Gestalt

In Codex V aus dem Handschriftenfund von → Nag Hammadi in Oberägypten, dem sogenannten Apokalypsencodex, finden sich an dritter und vierter Stelle zwei Schriften, die beide den Titel Apokalypse des Jakobus tragen. Zur besseren Unterscheidung werden sie in der Forschung als erste bzw. zweite Jakobusapokalypse bezeichnet. Die beiden gleichnamigen Texte sind nicht miteinander verwandt, entstammen verschiedenen Traditionen und bauen nicht aufeinander auf. Berührungen zwischen den beiden Jakobusapokalypsen gibt es bei der Darstellung des Martyriums des → Jakobus jeweils am Ende der Schrift. Die beiden koptischen Jakobusapokalypsen aus Nag Hammadi sind nicht zu verwechseln mit dem sogenannten → Protevangelium des Jakobus, das in mehreren Handschriften ebenfalls den (Zusatz-)Titel Apokalypse des Jakobus trägt.

In Nag-Hammadi-Codex V folgt die erste Jakobusapokalypse auf die → Apokalypse des Paulus. Ihr Titel findet sich sowohl am Anfang der Schrift (dort nachträglich unter der Subscriptio der Paulusapokalypse eingefügt) als auch am Ende, wo auf die Subscriptio Apokalypse des Jakobus unmittelbar die gleichlautende Präscriptio der zweiten Apokalypse des Jakobus folgt. Wie alle Texte in Nag-Hammadi-Codex V ist auch die erste Apokalypse des Jakobus im nördlichen koptischen Dialekt Bohairisch geschrieben, der nachträglich oberflächlich sahidisiert wurde (→ Koptisch). Die Ursprache der Schrift war sicher Griechisch (s. u.). Die spezifische Sprachform in Codex V deutet darauf hin, dass die Übersetzungen der Texte in diesem Codex zunächst in Unterägypten entstanden und dann allmählich nach Süden wanderten. Aufgrund datierter Urkunden in der Kartonage von Nag-Hammadi-Codex V wird der Codex etwa in die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. datiert. Die erste Apokalypse des Jakobus war bis zu ihrer Entdeckung im Rahmen des Handschriftenfundes von Nag Hammadi im Dezember 1945 unbekannt.

Durch die Veröffentlichung des sogenannten Codex Tchacos im Jahre 2007, der vor allem durch das darin enthaltene → Evangelium des Judas große Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde eine weitere koptische Version der ersten Jakobusapokalypse zugänglich. Das Koptisch des Codex Tchacos ist der sahidische Dialekt mit einigen mittelägyptischen Dialekteinflüssen. Beide Versionen stellen voneinander unabhängige Übersetzungen dar. Im Codex Tchacos steht die erste Jakobusapokalypse an zweiter Stelle, unmittelbar vor dem Judasevangelium. Ihr Titel findet sich dort nur einmal als Subscriptio in der verkürzten Form IAKKOBOS. Der Erhaltungszustand der Version im Codex Tchacos ist deutlich besser als der der Version in Nag-Hammadi-Codex V. Daher lassen sich Lücken im Text von Codex V häufig mit Hilfe der Version des Codex Tchacos ergänzen (gelegentlich auch umgekehrt). Gleichzeitig gibt es zwischen beiden Versionen aber auch erhebliche Unterschiede, die sich teils durch unterschiedliche Übersetzungspraxis, teils durch Unterschiede in den griechischen Vorlagen erklären lassen. Der Codex Tchacos dürfte wie die Nag-Hammadi-Codizes etwa aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts stammen.

Im Zuge der nun schon über 100 Jahre währenden kontinuierlichen Erschließung des Handschriftenfundes von Oxyrhynchus in Mittelägypten wurden im Jahr 2021 auch griechische Fragmente der ersten Jakobusapokalypse bekannt und veröffentlicht. Es handelt sich dabei um die Reste eines Doppelblattes und eines Einzelblattes. Diese enthalten immerhin genug Text, um die Fragmente sicher zu identifizieren und mithilfe des griechischen Textes schwierige Passagen der koptischen Überlieferung besser zu verstehen. Die Herausgeber datieren die griechischen Fragmente in das 4. oder 5. Jahrhundert; sie sind also etwa so alt wie ihre koptischen Parallelen, aber jedenfalls nicht älter.

In Nag-Hammadi-Codex V reicht die erste Jakobusapokalypse von p. 24,10 bis p. 44,10, im Codex Tchacos umfasst die erste Jakobusapokalypse die Seiten 10 bis 30. Die erhaltenen griechischen Fragmente entsprechen in NHC V Textpassagen auf den Seiten 29-31 und 47-49 parallel zu den Seiten 16-17 und 24-26 im Codex Tchacos. Im Falle der ersten Apokalypse des Jakobus haben wir also den doppelt glücklichen Umstand, dass ein gnostischer Originaltext nicht nur doppelt in koptischer Übersetzung überliefert, sondern auch durch Fragmente in der griechischen Originalsprache bezeugt ist.

Deutliche Parallelen zur ersten Jakobusapokalypse finden sich außerdem im Referat des Irenäus von Lyon über gnostische Riten und Formeln zur Erlösung (haer 1,21,5 par NHC V p. 33,11-35,25; vgl. auch Epiphanius, haer 36,2f.).

2. Entstehungszeit und Herkunft

Mit der Herstellung der Nag-Hammadi-Codizes um die Mitte des 4. Jahrhunderts ist zunächst der Terminus post quem non für die Entstehung der ersten Apokalypse des Jakobus gegeben. Zugleich muss wohl einige Zeit für die Übersetzung der Schrift aus dem Griechischen ins Koptische in Unterägypten und ihre allmähliche Wanderung nach Süden vorausgesetzt werden. Da die Schrift ein entwickeltes valentinianisches System (→ Gnosis) voraussetzt (s. u.), kann sie kaum vor Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. verfasst worden sein. Die Ablehnung einer leiblichen Verwandtschaft zwischen Jesus und dem Herrenbruder Jakobus, der gleichwohl der Offenbarungsempfänger ist, setzt eine fortgeschrittene theologische Reflexion über Jesu Verwandtschaftsverhältnisse voraus. Dies schließt nicht aus, dass in der ersten Jakobusapokalypse auch älteres, womöglich judenchristliches Material aus der Jakobustradition verarbeitet wurde. Der gegen Ende der Schrift (NHC V p. 36) als fiktiver Verfasser eingeführte Addai weist nach Syrien als möglichem Entstehungsort der ersten Jakobusapokalypse. Nach der Kirchengeschichte des Euseb (h.e. 1,13) und der syrischen Doctrina Addai spielt Addai (bei Euseb: Thaddaios; vgl. Mk 3,18) eine wichtige Rolle bei der Christianisierung Syriens und ist mit der im ostsyrischen Edessa angesiedelten Abgarlegende verknüpft.

3. Literarische Gattung und Inhalt

In Nag-Hammadi-Codex V trägt die erste Apokalypse des Jakobus zwar die Bezeichnung Apokalypse im Titel, sie ist jedoch keine Apokalypse im Sinne einer modernen Gattungsdefinition, etwa nach John J. Collins. Vielmehr ist sie Offenbarung im Wortsinne, insofern der Erlöser in ihr Jakobus geheime und exklusive Offenbarungen zuteilwerden lässt. In der modernen Forschung hat sich für die Art gnostischer Dialoge, wie sie auch die erste Jakobusapokalypse repräsentiert, die Bezeichnung Dialogevangelium (auch Erscheinungs- bzw. Offenbarungsdialog) etabliert. Die Dialogform ist in der ersten Jakobusapokalypse bemerkenswert konsequent und kunstvoll durchgeführt.

Der Kurztitel der Schrift im Codex Tchacos, IAKKOBOS, lässt sich gedanklich verschieden auffüllen, etwa auch zu dem hypothetischen Titel „Evangelium nach Jakobus“. Ein vergleichbarer Kurztitel (MARKOS) ist z. B. im Papyrus Palau Rib. 182 für das → Evangelium nach Markus als Inscriptio belegt. Die in Nag-Hammadi-Codex VIII mit dem Kurztitel Zostrianus bezeichnete Schrift wiederum ist vermutlich mit der bei Porphyrius erwähnten Apokalypse des Zostrianus identisch. Schwankende Titulaturen zeigt auch die Überlieferung des oben erwähnten Protevangelium des Jakobus.

Die Schrift ist im Wesentlichen dreigeteilt. Den ersten Teil bildet ein seelsorgerlich geprägtes, vorösterliches Gespräch in der Karwoche mit Ankündigung des Leidens sowohl Jesu als auch des Jakobus sowie einer Überleitung zum nachösterlichen Teil. Den Kern des mittleren Teils bildet die große Offenbarungsrede über die Erlösung, gerahmt von einem Ostergespräch mit Deutung des Leidens und Anweisungen Jesu, wie die empfangene Lehre weiterzugeben sei. Den Schlussteil bilden Gespräche über die Rolle der (sieben) Frauen, der Abschied Jesu sowie die Festnahme und das Martyrium des Jakobus.

4. Theologische Eigenart

Das Hauptthema der ersten Apokalypse des Jakobus ist das Leiden sowie die Erlösung des Gnostikers aus dem Verhaftetsein an die irdische Sphäre, die Heimkehr in die himmlische Heimat samt der Wiedervereinigung mit dem Seienden (koptisch petšoop) bis hin zur vollständigen Identifikation des Jakobus mit dem Seienden. Jakobus wird zwar ausdrücklich als „der Gerechte“ bezeichnet, was ihn als den Herrenbruder Jakobus ausweist (vgl. Euseb, h.e. 2,23,4.7), aber die Beziehung zwischen Jesus und seinem Bruder wird ausschließlich als eine geistliche verstanden. Das Gegenstück zur Wertschätzung des Jakobus ist die Herabsetzung der (männlichen) Jünger Jesu. Obwohl die Kreuzigung und der Tod Jesu nicht ausdrücklich erwähnt, sondern als „Leiden“ und „Pflicht“ umschrieben werden, kann nicht bezweifelt werden, dass sie als real verstanden sind. Das Leiden erscheint so – zunächst für Jakobus, dann auch für alle Gnostiker – als natürliche Durchgangsstation zur Erlösung. Die für den Aufstieg ins Pleroma notwendigen Passformeln zur Überwindung der archontischen Mächte erscheinen in den Kirchenväterreferaten bei Irenäus und Epiphanius (s. o.) als Bestandteil eines valentinianischen Sterbesakraments, während sie in der ersten Jakobusapokalypse organisch eingebettet sind in die Vorbereitung des Jakobus auf sein Martyrium durch den Erlöser. Die Einordnung der ersten Apokalypse des Jakobus in die valentinianische Gnosis ergibt sich auch aus der typisch valentinianischen Unterscheidung zwischen einer oberen Sophia und einer unteren (genannt Achamoth, von hebräisch chǻkhmāh für Weisheit; → Weisheit (Personifikation) (AT)), wie überhaupt die theologischen Zahlenspekulationen insbesondere zu Anfang der Schrift ein entwickeltes valentinianisches System voraussetzen. Die Leidens- und Erlösungstheologie der ersten Jakobusapokalypse lässt sich gut in einer Verfolgungssituation verorten, ohne dass sich diese historisch näher eingrenzen ließe.

→ Gnosis

Literaturverzeichnis

Textausgaben und Übersetzungen

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Untersuchungen

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