Deutsche Bibelgesellschaft

Weisheitliche Gattungen

(erstellt: März 2013)

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Prinzipiell muss davon ausgegangen werden, dass sich die verschiedenen weisheitlichen Redeformen und Gattungen in der biblischen Weisheitsliteratur (wie in den Sammlungen aus der orientalischen Umwelt) nicht fein säuberlich voneinander getrennt finden, sondern sehr oft in ein und demselben Werk nebeneinander verwendet, oft sogar gezielt miteinander kombiniert werden. Belege weisheitlicher Redeformen sind außerdem nicht auf die Weisheitsliteratur im strengen Sinne begrenzt, sondern erscheinen mehrfach in einer Vielfalt anderer alttestamentlicher Texte.

1. Der Spruch

Die wichtigste und charakteristischste literarische Form der → Weisheit ist der Spruch. Er ist eine auf das Wesentlichste komprimierte Form menschlicher Erfahrung, die aus der langzeitigen Beobachtung von Abläufen und Kausalitäten im Kosmos, der belebten wie der unbelebten Natur und sozialer Gesetzmäßigkeiten gewonnen wurde. Die mesopotamische Listenwissenschaft gilt gemeinhin als Ursprung weisheitlicher Weltsicht, wie sie sich später vor allem in Spruchsammlungen ausbildete (z.B. → Sprüchebuch). Das Ziel eines Spruches besteht primär darin, die Wirklichkeit zu durchdringen und daraus leicht verständliche Maximen zur gelungenen Lebensgestaltung abzuleiten. Der Spruch verallgemeinert („es ist immer so …“), er vereinfacht (führt komplexe Wirklichkeiten auf klar durchschaubare Gesetzmäßigkeiten zurück) und bündelt die Wirklichkeit. Sprüche sind deshalb meist kurz gehalten und münden in einer leicht memorierbaren Pointe.

Im Hebräischen wird diese literarische Form oft mit dem Terminus מָשָׁל māšāl in Zusammenhang gebracht (so auch in Spr 1,1). Über die genaue Bedeutung dieses Lexems wird in der Forschung allerdings heftig diskutiert, und zwar deswegen, weil die Wurzel משׁל mšl zur Bezeichnung sehr unterschiedlicher literarischer Formen verwendet wird. Deshalb ist es schwierig, eine Grundbedeutung von מָשָׁל māšāl zu eruieren.

Die naheliegende Ableitung ist jene von der Wurzel משׁל mšl I: „gleich sein / gleichen“. Ein מָשָׁל māšāl wäre dann, ganz wörtlich übersetzt, ein „Gleichspruch“ (vgl. M. Buber), eine Form, in der zwei oder mehrere Größen auf unterschiedliche Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die andere Herleitung geht von der Wurzel משׁל mšl II aus: „herrschen / beherrschen / regieren“. Von dieser Wurzel abgeleitet würde מָשָׁל māšāl den Aspekt der Autorität eines Wortes hervorheben: Wort eines, der regiert; oder: ein Wort, das besonderes Gewicht hat.

Rein etymologisch gesehen sind beide Ableitungen möglich. Zu einer klaren Entscheidung für eine der beiden möglichen Bedeutungen lässt sich nicht kommen. So hat sich der Konsens herausgebildet, dass die Bedeutung von מָשָׁל māšāl nur im jeweiligen Kontext bestimmt werden kann. „Spruch“ und מָשָׁל māšāl können also nicht ohne weiteres miteinander identifiziert werden, der „Spruch“ ist nur eine der möglichen Formen eines מָשָׁל māšāl.

1.1. Das (Volks-)Sprichwort

Die einfachste Form eines Spruches ist das sog. „(Volks-)Sprichwort“. Es formuliert zumeist eine besonders auffällige Beobachtung oder eine Paradoxie in Form einer kurzen Aussage oder Frage und fordert keine bestimmte Handlungsweise ein, sondern verbalisiert eine paradoxe Einsicht oder Überzeugung. In seiner einfachsten Ausgestaltung ist das (Volks-)Sprichwort meist einzeilig erhalten. Allerdings bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass zur Zeit seiner Geläufigkeit keine Auflösung oder Antwort geläufig war; eine solche könnte auch im Prozess der Traditionsbildung einfach verloren gegangen oder ausgeschieden worden sein. (Volks-)Sprichwörter können sich außerdem ganz unterschiedlicher literarischer Formen bedienen (Aussage, Frage, Ausruf usw.).

Das Alte Testament überliefert nur sehr wenige „echte“ (Volks-)Sprichworte. Die meisten finden sich außerhalb der Weisheitsliteratur im Kontext narrativer Texte. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass diese (Volks-)Sprichwörter auch in diesem Kontext entstanden sind. Im Gegenteil: Man nimmt oft an, dass die meisten älter sind und erst sekundär in die Erzählkontexte integriert wurden:

„Ein tüchtiger Jäger vor JHWH wie Nimrod.“ (Gen 10,9)

„Ist auch Saul unter den Propheten?“ (1Sam 10,11)

„Von den Frevlern geht Frevel aus.“ (1Sam 24,14)

„Ein Blinder und ein Lahmer kommen nicht ins Haus“ (2Sam 5,8)

„Wer den Gürtel anlegt, soll sich nicht rühmen, wie einer, der ihn bereits ablegt.“ (2Kön 20,11)

„Kann ein Äthiopier seine Hautfarbe ändern oder ein Leopard seine Flecken?“ (Jer 13,23)

„Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“ (Jer 31,29; Ez 18,2)

„Wie die Mutter, so die Tochter.“ (Ez 16,44)

Oft werden diese (Volks-)Sprichworte auch explizit als solche gekennzeichnet, wenn sich damit etwa die Einleitung „man sagt …“ verbindet. Früher war man in der Forschung der Meinung, dass diese einfachen (Volks-)Sprichworte auch gleichzeitig die ältesten im Alten Testament überlieferten Formen von Sprüchen sind. Diese Meinung wurde allerdings in den letzten Jahren mehrfachen Modifikationen unterzogen: Es zeigte sich erstens, dass die sogenannten (Volks-)Sprichworte gleichzeitig mit wesentlich komplexeren Formen des Spruches existierten, aber möglicherweise einen anderen sozialgeschichtlichen Haftpunkt hatten: Sie liefen „im Volk“ um, während die anderen Formen auf eine Schicht literarisch gebildeter Menschen zurückgehen dürften. Zweitens zeigte sich, dass selbst diese soziale Zuordnung zum „Volk“ zunehmend problematisch wird – dass Sprichworte in diesem Kontext verwendet wurden, bedeutet noch nicht, dass sie auch ursprünglich dort entstanden waren. Die dazu vor allem von O. → Eißfeldt entwickelten Thesen werden deshalb in der Forschung heute sehr kritisch beurteilt. Auf die Annahmen Eißfeldts geht letztlich auch die Differenzierung von „(Volks-)Sprichwort“ und literarischem „(Kunst / Weisheits-) Spruch“ zurück.

1.2. Der (Weisheits-)Spruch, die Sentenz, das Aussagewort

Ein großer Teil der Weisheitsliteratur des Alten Testaments ist in der Form von (Weisheits-) Sprüchen, Sentenzen und Aussageworten überliefert. Dies entspricht dem generellen Ziel der Weisheitsliteratur – und der Sprüche im Besonderen –, nämlich der Durchdringung der Wirklichkeit, die Ordnung der komplexen Weltzusammenhänge aufgrund menschlicher Erfahrung und die Orientierung des Handelns auf das Glücken menschlichen Lebens hin. Sprüche erfüllen diese Aufgabe, indem sie oft ganz unterschiedliche Phänomene zusammenordnen, deren Bezüge zueinander meist nicht offen auf der Hand liegen. Der Spruch soll dem Menschen als Orientierungshilfe in der verwirrenden Vielgestaltigkeit und Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit dienen.

Der „Spruch“ hat gewisse formale Charakteristika.

1.2.1. Prägnanz. Er ist kurz und prägnant formuliert (selten mehr als sieben, acht Wörter) und immer zweizeilig (siehe unten). Die Subjekte sind sehr häufig durch syntaktisch extrapolierte Abstraktbegriffe oder partizipial gefasste, typisierende Verhaltensweisen ausgedrückt:

„… Gerechtigkeit – sie errettet vom Tode …“ (Spr 11,4)

„Torheit – Freude dem Unverständigen …“ (Spr 15,21)

„… Erkenntnis – für den Verständigen leicht …“ (Spr 14,6)

„Faulheit: Sie versenkt in Tiefschlaf …“ (Spr 19,15)

Begriffe wie Gerechtigkeit, JHWH-Furcht, Faulheit usw. stehen stellvertretend für ein menschliches Handeln oder Verhalten, nicht für Eigenschaften des Menschen („Gerechtigkeit – sie errettet vom Tode“, aufgelöst: „einer, der gerecht handelt, wird vom Tode errettet.“).

1.2.2. Indikativische Formulierung. Ein Spruch ist ferner immer indikativisch formuliert, d.h.: Er drückt eine erkannte Wahrheit aus. Der Leser / die Leserin muss daraus selbst eine Handlungsmaxime gewinnen. Der Spruch selbst fordert kein bestimmtes Verhalten, obwohl die Aufforderung zum sachlich entsprechenden Handeln natürlich implizit mitschwingt. Der Spruch ist daher nicht Mahnung oder Aufforderung, sondern eher eine Art „Ratschlag“. Daran schließt sich die unter Expertinnen und Experten vieldiskutierte Frage an, ob sich Sprüche, die rein beobachtenden Charakter haben und keinerlei Handlungsanweisung implizieren, überhaupt isolieren lassen. Falls ja, dann muss nochmals zwischen bloß konstatierenden und didaktisch orientierten Sprüchen unterschieden werden.

Der Spruch kommt in den meisten Fällen außerdem ohne eine Motivierung oder Begründung aus: Diese ist nicht notwendig, weil er aus einer allgemein menschlichen Erfahrung heraus formuliert ist, die jede und jeder selbst nachvollziehen kann, ohne dass es dazu zusätzlich sachlich überzeugende Argumente brauchte. Der Spruch deckt sozusagen etwas allgemein Gültiges auf, das für sich selbst spricht. Jede und jeder kann sich von der Gültigkeit der Aussage selbst überzeugen.

1.2.3. Parallelismus membrorum. Sprüche sind außerdem in der überwiegenden Zahl der Fälle zweizeilig. Die beiden Glieder des Spruches werden dabei sehr oft in der Form eines Parallelismus membrorum angeordnet (→ Poesie). Solche Parallelismen lassen sich meist sowohl auf der syntaktischen (Anordnung der Satzglieder) als auch auf der semantischen Ebene (Bedeutung) identifizieren, sodass sich die Aussage des Spruches oft erst durch die Bezogenheit der beiden Glieder aufeinander auf verschiedenen Ebenen ergibt – diese Entsprechung kann sowohl positiv verstärkend wie auch negativ kontrastierend gestaltet sein.

Diese Bezogenheit führt in den meisten Fällen zu einer (positiven oder negativen) Dopplung der Aussage, durch die eine Fülle von Variationen und Präzisierungen möglich wird. Diese Sprachform entspricht der Eigenheit orientalischen Denkens: Die Bedeutung von Wörtern oder Aussagen wird nicht in scharfen Grenzen durch Definitionen festgelegt, sondern durch die Verbindung mit anderen, ähnlichen Wörtern oder Aussagen erreicht.

In der Weisheitsliteratur begegnen – wie in allen übrigen poetischen Texten des Alten Testaments – drei unterschiedliche Formen des Parallelismus, wobei hier nochmals auf eine saubere analytische Differenzierung zwischen der syntaktischen und der semantischen Ebene zu drängen ist. Als die Grundform erscheint der synonyme Parallelismus: Beide Glieder benennen in verschiedenen Worten denselben Sachverhalt (hier auch bei identischer Anordnung der Satzglieder):

„Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein,

wer einen Stein hochwälzt, auf den rollt er zurück.“ (Spr 26,27)

Am häufigsten begegnet jedoch der antithetische Parallelismus: In dieser Form sagt jedes Glied (auf der einen oder anderen Ebene oder auf beiden) von gegenteiligen Begriffen Entsprechendes aus:

„Wer seine Lippen hütet, bewahrt sein Leben,

wer seinen Mund aufreißt, den trifft Verderben.“ (Spr 13,3)

Die dritte und gleichzeitig auch diffuseste Form des Parallelismus bezeichnet man als synthetischen Parallelismus, bei dem das zweite Glied das erste fortsetzt und ergänzt, und zwar so, dass das zweite Glied nicht ohne das erste Glied existieren könnte:

„Ein fester Turm ist der Name JHWHS,

dorthin eilt der Gerechte und ist geborgen.

Für den Reichen ist sein Vermögen wie eine feste Stadt,

wie eine hohe Mauer – in seiner Einbildung.“ (Spr 18,10-11)

Diese Form des Parallelismus zeigt allerdings schon die Tendenz zur Auflösung der Form hin zu größeren Texteinheiten, eine Tendenz, die vor allem in den Spätschriften der Weisheitsliteratur zur Zerdehnung und so letztlich auch zur Auflösung der Form führte.

1.2.4. Chiasmus. Auf der Form des Parallelismus membrorum basiert ein weiteres Stilmerkmal, das sich vor allem in der Spruchliteratur besonders häufig findet: der Chiasmus, die kreuzförmige Anordnung der Glieder eines Spruches entweder hinsichtlich der Anordnung der Satzglieder oder hinsichtlich der Wortbedeutungen, oder in beiderlei Hinsicht:

„Nicht hungern lässt JHWH das Verlangen des Gerechten,

aber die Gier der Frevler stößt er zurück.“ (Spr 10,3).

Derartige Chiasmen können sich auch auf mehr als einen Vers erstrecken. Manchmal strukturieren sie auch große Texteinheiten.

1.3. Der Zahlenspruch

Ebenfalls unter die Kategorie des „Spruches“ fällt der sog. „Zahlenspruch“. Auch er ist ein Versuch, bestimmte Phänomene in eine Ordnung zu bringen, indem ein sie verbindendes, allen gemeinsames Element als Ordnungskriterium herangezogen wird. Die Auflistung geschieht unter Nutzung eines mnemotechnischen Mittels: Eine gewisse Anzahl verwandter Elemente erscheint zählend aneinandergereiht. Das letzte Element der Aufzählung trägt dann die Emphase. Der Auflistung anhand eines Zahlenschemas (meist x / x+1; besonders beliebt: Dreier- und Vierer- sowie Sechser- und Siebener-Reihen) steht die Zahlenangabe selbst voraus:

„Sechs Dinge sind JHWH verhasst, sieben sind ihm ein Gräuel: Stolze Augen, eine falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen, ein Herz, das finstere Pläne hegt, Füße, die schnell dem Bösen nachlaufen, ein falscher Zeuge, der Lügen zuflüstert, und wer Streit entfacht unter Brüdern.“ (Spr 6,16-19)

„Drei sind es, die nie satt werden, vier sagen nie: Genug: Die Unterwelt und der unfruchtbare Mutterschoß, die Erde, die nicht satt wird an Wasser, und das Feuer, das nie sagt: Genug.“ (Spr 30,15b-16)

Das Alte Testament enthält aber auch Beispiele für andere Reihungen: eins / zwei (Hi 33,14-15); zwei / drei (Hi 13,20-22; Sir 26,28 [Lutherbibel: Sir 26,25-27]); und neun / zehn (Sir 25,7-11 [Lutherbibel: Sir 25,9-15]). Manchmal wird auch nur ein Faktum erwähnt, obwohl die Formel von drei / vier redet (vgl. Am 1,2-3,8):

„So spricht JHWH: Wegen der drei Verbrechen, die Damaskus beging, wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie Gilead mit eisernen Dreschschlitten zermalmten, darum schicke ich Feuer gegen Hasaëls Haus; es frißt Ben-Hadads Paläste.“ (Am 1,3-4)

Daneben existieren außerdem „einfache Zahlensprüche“, in denen die am Beginn gezählten Elemente einfach hintereinander aufgelistet werden, ohne dass eine Steigerung erfolgt. Ein Beispiel für diese einfachere Form findet sich in Spr 30,7-9; Sir 25,1-2 (Lutherbibel: Sir 25,1-4).

1.4. Der Rätselspruch

Auch der Rätselspruch (→ Rätsel) ist eine typisch weisheitliche Gattung (vgl. Spr 1,6, wo das Rätsel als typische Gattung genannt wird). Er befasst sich mit den Geheimnissen der Welt oder verborgener Zusammenhänge.

Der Rätselspruch ist eng mit dem Vergleichsspruch verwandt, weil er zwei Dinge auf charakteristische Weise zueinander in Beziehung setzt, die dem ersten Anschein nach nichts miteinander zu tun haben. Nur der Weise kennt das gemeinsame Element, das die beiden in Beziehung gesetzten Realitäten miteinander verbindet. Von daher erklärt sich, dass der Rätselspruch auch viele Gemeinsamkeiten mit der Gattung der Parabel und der Allegorie aufweist (→ Bildworte / Bildreden). Der Rätselspruch bedient sich einer charakteristischen Struktur, nämlich des Frage-Antwort-Spiels:

„Wer hat Ach? Wer hat Weh? Wer Gezänk? Wer Klage? Wer hat Wunden wegen nichts? Wer trübe Augen? Jene, die bis in die Nacht beim Wein sitzen, die kommen, um den Mischwein zu probieren.“ (Spr 23,29-30)

„Welches Geschlecht ist geachtet? Das des Menschen. Welches Geschlecht ist geachtet? Das des Gottesfürchtigen. Welches Geschlecht ist verachtet? Das des Menschen. Welches Geschlecht ist verachtet? Das des Gesetzesübertreters.“ (Sir 10,19)

Grundlegend für die Gattung des Rätsels ist die Doppeldeutigkeit der Sprache. Ein Rätsel funktioniert nur dort, wo ein Wort Bedeutungen hat, die allgemein bekannt sind und zur selben Zeit bestimmte Konnotationen hat, die nur einer bestimmten Gruppe bekannt sind. In den nur auf metaphorischer Ebene verständlichen Ausdrücken „Fuß des Berges“ oder „Lampe des Körpers“ etwa werden Fuß / Lampe in einem spezifischen, symbolischen Sinn verwendet.

Oft gibt es für das Rätsel keine definitive Antwort oder die Antwort selbst ist rätselhaft, mehrdeutig formuliert. Rätsel haben im alten Israel wie im gesamten Alten Orient sicher eine große Rolle gespielt. So erzählt z.B. 1Kön 10,1-3 vom legendären Besuch der Königin von → Saba bei → Salomo. Sie stellt ihm Rätselfragen, er kann sie beantworten, wodurch wiederum seine überaus große Weisheit offenkundig wird. Aus außerbiblischen Texten ist bekannt, dass Rätsel bei der Erziehung und Ritualen eine bedeutendere Rolle gespielt haben, als der überlieferte Textbestand des Alten Testaments heute erkennen zu erkennen gibt. Genau genommen beinhaltet die Erzählung von → Simson in Ri 14,10-18 das einzige vollständig überlieferte Rätsel des Alten Testaments. Der Wettstreit der Weisen wurde später gar zu einem klassischen Topos, wie er sich etwa in der (apokryphen) sogenannten „Pagen-Erzählung“ 1Esr 3,1-5,3 findet.

1.5. Der Mahnspruch / das Mahnwort

In seinem Grundcharakter unterscheidet sich der Mahnspruch / das Mahnwort wesentlich von den bisher besprochenen Formen: Er ist immer im Imperativ (bzw. in seiner verneinter Form, dem Vetitiv oder Prohibitiv, vgl. die Diskussion im Ansatz von W. Richter) formuliert. Er wendet sich somit direkt an den Leser bzw. die Leserin und fordert sie zu einem Handeln bzw. einem Unterlassen auf (→ Paränese). Der Mahnspruch / das Mahnwort hat also einen offen deklarierten pädagogischen bzw. didaktischen Charakter:

„Halt fest an der Zucht, und laß davon nicht ab, bewahre sie; denn sie ist dein Leben.“ (Spr 4,13)

„Befiehl JHWH dein Tun an, damit alle deine Pläne gelingen.“ (Spr 16,3)

„Erziehe den Knaben für seinen Lebensweg, damit er auch im Alter nicht davon abweicht.“ (Spr 22,6)

„Was deine Augen sahen, bring es nicht überall als Streitfall vor, denn was willst du später tun, wenn dein Nächster dich bloßstellt?“ (Spr 25,8)

„Beraube nicht einen Geringen, weil er gering ist! Und zermalme nicht einen Elenden im Tor! Denn JHWH wird ihre Rechtssache ausfechten, und er wird diejenigen, die sie berauben, des Lebens berauben.“ (Spr 22,22-23)

„In die Ohren eines selbstzufriedenen rede nicht, denn er verachtet die Einsicht deiner Worte!“ (Spr 23,9)

„Rühme dich nicht des morgigen Tages, denn du weißt nicht, was der Tag gebiert.“ (Spr 27,1)

Um das gewünschte Verhalten als sachlich notwendig einzuschärfen, bedient sich das weisheitliche Mahnwort in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Begründungen bzw. Motivierungen, die das geforderte Verhalten als von der Sache her gefordert darstellen. Auch das Mahnwort ist daher in seiner Grundform immer zweizeilig angelegt, wobei eine „Zerdehnung“ auf mehrere Glieder durchaus möglich ist:

„Befiehl JHWH dein Tun an, damit alle deine Pläne gelingen.“ (Spr 16,3)

„Erziehe den Knaben für seinen Lebensweg, damit er auch im Alter nicht davon abweicht.“ (Spr 22,6)

„Was deine Augen sahen, bring es nicht überall als Streitfall vor, denn was willst du später tun, wenn dein Nächster dich bloßstellt?“ (Spr 25,8)

Das Mahnwort ist also getragen von der Macht der Tradition, der Lebenserfahrung, auf die oft ausdrücklich angespielt wird. Oft hebt es auch die Autorität des Lehrers, Vaters, der Mutter etc. eigens hervor, um diesen Autoritätsanspruch noch deutlicher hervortreten zu lassen. In vielen Fällen wird – wie im vorletzten Beispiel – auch Gott selbst als letzte und höchste Autorität ins Spiel gebracht.

Das Mahnwort / der Mahnspruch kommt nicht in allen Weisheitsschriften des Alten Testaments in gleicher Zahl vor. Das gilt z.B. schon für das → Sprüchebuch (Proverbien): In den Sammlungen Spr 10,1-22,16 gibt es nur 11 Beispiele, während die Sammlung Spr 22,17-24,22 fast ausschließlich aus Mahnsprüchen besteht (24 von 30 Sprüchen). Generell kann man sagen, dass das Mahnwort / der Mahnspruch in jüngeren Schriften wesentlich häufiger vorkommt als in älteren (z.B. besonders häufig in → Jesus Sirach / Sirachbuch).

2. Die Lehrrede

Die Lehr-Rede ist eine Gattung, die sich von ihrem Umfang bzw. ihrer Texterstreckung von den Sprüchen wesentlich unterscheidet. Formal steht sie in engem Zusammenhang mit dem Mahnspruch.

Eine „typische“, voll ausgestaltete Lehrrede besteht aus drei Elementen: Sie beginnt mit einer kurzen Einleitung, die auch als „Lehreröffnungsruf“ bezeichnet wird: Anrede („mein Sohn“ / „meine Tochter“, Aufforderung zum Hören, Mahnung / Warnung, Begründung). Auf die Lehreröffnung folgt der Hauptteil der Rede, der meistens eine Mischung aus Warnungen, Mahnungen und Begründungen darstellt. Verschiedene weniger umfangreiche Redeformen erscheinen in freier Kombination miteinander und begründen einander mitunter gegenseitig. Eine summarische Zusammenfassung beschließt häufig den Redefluss, indem sie die Pointe der Unterweisung nochmals ausdrücklich verbalisiert bzw. einschärft. Letztlich besteht das Ziel einer Lehr-Rede stets in der Einschärfung von förderlichen und der Abwendung von zerstörerischen, „törichten“ Verhaltensnormen. Lehr-Reden können einzelne in sich geschlossene Abschnitte in übergeordneten Texteinheiten bilden – vgl. etwa Spr 1,8-19 (Warnung vor schlechtem Umgang); Spr 5,1-23 (Warnung vor Umgang mit der „fremden Frau“) – oder, im Extremfall, ganze Buchteile umfassen (z.B. die → Elihu-Reden in Hi 32-37):

„8 Höre, mein Sohn, auf die Mahnung des Vaters, und die Lehre deiner Mutter verwirf nicht! 9 Sie sind ein schöner Kranz auf deinem Haupt und eine Kette für deinen Hals. 10 Mein Sohn, wenn dich Sünder locken, dann folg ihnen nicht, 11 wenn sie sagen: Geh mit uns, wir wollen darauf lauern, Blut zu vergießen, ohne Grund dem Arglosen nachzustellen; 12 wie die Unterwelt wollen wir sie lebendig verschlingen, Männer in ihrer Kraft, als wären sie dem Grab verfallen. 13 Manch kostbares Stück werden wir finden, mit Beute unsere Häuser füllen. 14 Wirf dein Los in unserm Kreis, gemeinsam sei uns der Beutel. 15 Mein Sohn, geh nicht mit ihnen, halte deinen Fuß fern von ihrem Pfad! 16 Denn ihre Füße laufen dem Bösen nach, sie eilen, Blut zu vergießen. 17 Umsonst wird das Netz ausgespannt vor den Augen aller Vögel; 18 sie aber lauern auf ihr eigenes Blut, sie trachten sich selbst nach dem Leben. 19 So enden alle, die sich durch Raub bereichern: Wer ihn an sich nimmt, dem raubt er das Leben.“ (Spr 1,8-19)

Eine Lehrrede kann auch als kunstvoller Dialog ausgestaltet sein, sie ist dann eine Art „weisheitliches Lehr- / oder Streitgespräch“. Das beste Beispiel für diese dialogische Form ist Hi 3-27. Solche komplex gestalteten und umfangreichen Lehrreden sind auch in der deuterokanonischen bzw. der apokryphen Literatur bezeugt (→ Apokryphen). Sie wurden tendenziell mit fortschreitender Zeit immer beliebter.

3. Das Lehrgedicht

Das Lehrgedicht ist eine weitere weisheitliche Gattung, in der sich ein Weisheitslehrer mit den Grundfragen des Lebens, der Welt und der Geschichte auseinandersetzt (vgl. → Lehrgedicht). Im Unterschied zur Lehr-Rede ist das Lehrgedicht Redner- und nicht Hörer/innen- zentriert. Hinter der Form steht die Suche nach der der ganzen Wirklichkeit zugrundeliegenden Ur-Ordnung, bei der alle die verschiedenen Aspekte bzw. Dimensionen einer bestimmten Problemstellung in allen denkbaren Facetten ausgeleuchtet werden, so exemplarisch-klassisch etwa in Spr 1,20-33:

„20 Die Weisheit ruft laut auf der Straße, auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme. 21 Am Anfang der Mauern predigt sie, an den Stadttoren hält sie ihre Reden: 22 Wie lang noch, ihr Törichten, liebt ihr Betörung, gefällt den Zuchtlosen ihr dreistes Gerede, hassen die Toren Erkenntnis? 23 Wendet euch meiner Mahnung zu! Dann will ich auf euch meinen Geist ausgießen und meine Worte euch kundtun. 24 Als ich rief, habt ihr euch geweigert, meine drohende Hand hat keiner beachtet; 25 jeden Rat, den ich gab, habt ihr ausgeschlagen, meine Mahnung gefiel euch nicht. 26 Darum werde auch ich lachen, wenn euch Unglück trifft, werde spotten, wenn Schrecken über euch kommt, 27 wenn der Schrecken euch wie ein Unwetter naht und wie ein Sturm euer Unglück hereinbricht, wenn Not und Drangsal euch überfallen. 28 Dann werden sie nach mir rufen, doch ich höre nicht; sie werden mich suchen, aber nicht finden. 29 Weil sie die Einsicht hassten und nicht die Gottesfurcht wählten, 30 meinen Rat nicht wollten, meine ganze Mahnung missachteten, 31 sollen sie nun essen von der Frucht ihres Tuns und von ihren Plänen sich sättigen. 32 Denn die Abtrünnigkeit der Haltlosen ist ihr Tod, die Sorglosigkeit der Toren ist ihr Verderben. 33 Wer aber auf mich hört, wohnt in Sicherheit, ihn stört kein böser Schrecken.“

Auch das Lehrgedicht folgt einem weitgehend einheitlichen, dreigliedrigen Schema. Es besteht wiederum aus einer Einführung, einer Rede (im Ich-Stil) und Folgerungen, die am Ende gezogen werden. Am häufigsten ist die Lehrrede in Spr 1-9 (Reden der Frau Weisheit / Torheit: Spr 1,20-33; Spr 8,1-36; Spr 9,1-6; Spr 9,13-18; → Personifikation der Weisheit) sowie im Buch → Kohelet belegt. Auch das Psalmenbuch (→ Psalter) enthält eine Reihe von Lehrgedichten, die sich meditativ mit der Frage nach dem Lebenssinn (Ps 37; Ps 49; Ps 73), der Staunenswürdigkeit der Schöpfung (Ps 104), der Geschichte (Ps 78; Ps 105; Ps 106) oder mit der Tora als Lebensweg des Weisen (Ps 1; Ps 19; Ps 119) auseinandersetzen.

4. Die Lehrerzählung

Die umfangreichste literarische Gattung der Weisheit ist die sogenannte „weisheitliche Lehrerzählung“ (vgl. die Untersuchungen von H.-P. Müller), die nicht nur in der biblischen Literatur, sondern auch in den literarischen Traditionen der Nachbarvölker, vor allem in der persischen und hellenistischen Zeit, eine wichtige Rolle spielte. Außerbiblische Beispiele finden sich sowohl in Ägypten (z.B. Anchscheschonqi) als auch im assyrisch-aramäischen Raum Mesopotamiens (z.B. die → Achikar-Erzählung), wobei gerade bei diesen beiden Beispielen umfangreiche Sammlungen von Handlungsmaximen in die Erzählung vom Schicksal der Protagonisten eingeflochten wurden.

Die weisheitliche Lehrerzählung erzählt typischerweise die Geschichte eines mit besonderer Weisheit und Gottesfurcht begabten Menschen, der – meist unverschuldet – in eine exemplarische Krisensituation gerät, aus der er durch die Hilfe Gottes und allerlei wundersame Umstände, die letztlich auf seine Weisheit zurückzuführen sind, entgegen aller Hoffnung gerettet wird. Oft stehen ebenfalls stark typisierte Widersacher oder Gegenspieler der Vorbildgestalt als Agenten böser Mächte gegenüber. Die Rettung des „Helden“ bzw. der „Heldin“ und der Sturz des Widersachers dienen am Ende zum Transport einer anschaulichen Moral, die zur Identifikation mit der Idealgestalt einlädt und eine konkrete Verhaltensnorm enthält.

Lehrerzählungen können als Legenden (Akzent: die Einzelgestalt; z.B. Rahmenerzählung des → Hiob-Buches [Hi 1-2; Hi 42,7-17]; Novellen (Akzent auf einem besonderen Ereignis; z.B. → Josef in Gen 37-50 oder das → Buch Rut) oder Romane (Akzent: das Überleben in einer komplexen, feindlich gesinnten Umwelt; z.B. → Tobit, → Achikar) Form annehmen (→ erzählende Gattungen).

Andere weisheitlich geprägte Gattungen, die in der Umwelt des biblischen Israel eine überragende Rolle spielten, begegnen im Alten Testament seltener, z.B. das Onomastikon, während andere Gattungen sehr wohl im Kontext der Weisheitsliteratur erscheinen (z.B. der Hymnus), dort aber nicht ihren Ursprung haben.

Literaturverzeichnis

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