Deutsche Bibelgesellschaft

Andere Schreibweise: Nehemiah (engl.)

(erstellt: November 2005)

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1. Der Name Nehemia

Nehemia 1

Der Name des Hauptprotagonisten des Nehemiabuches (s.u.) wird in der Lutherbibel und der Einheitsübersetzung mit „Nehemia“ wiedergegeben. Wo der gleiche Name (נְחֶמְיָה Nəchæmjāh) auftaucht, aber andere Personen bezeichnet (Esra 2,2; Neh 3,16; Neh 7,7), wird er mit „Nehemja“ wiedergegeben. „Nehemja / Nehemia“ ist ein Satzname, der mit „JHWH hat getröstet (bzw. tröstet)“ umschrieben werden kann.

Nehemja in Esra 2,2 und Neh 7,7 ist einer derjenigen, die mit → Serubbabel („Statthalter“, politische Führungskraft) und → Jeschua (Hoherpriester) aus dem Babylonischen Exil heimkehrten.

Nehemja in Neh 3,16 ist der Sohn des Asbuk und der Vorsteher des halben Bezirks von Bet-Zur; er ist verantwortlich für einen bestimmten Abschnitt beim Wiederaufbau der Stadtmauer Jerusalems zur Zeit des Statthalters Nehemia.

Im Folgenden (und im Artikel → Esra-Nehemia-Buch) geht es nur um den Statthalter Nehemia.

2. Die Person Nehemia

2.1. Der biblische Befund und die historische Rückfrage

Nehemia ben Hachalja stammte von Judäern ab, die nach Babylonien ins Exil verschleppt worden waren und die nicht nach Palästina heimgekehrt waren. Er hatte Karriere am persischen Hof gemacht und es bis zum Mundschenk des Großkönigs gebracht (Neh 1,11; Abb. 1). So nutzte er sein Amt, um für den Wiederaufbau der Stadtmauer Jerusalems zu sorgen. Vom persischen König Artaxerxes I. wurde er mit Empfehlungsschreiben für die Provinzgouverneure sowie mit militärischem Begleitschutz ausgestattet. Er kam 445 v. Chr. als persischer Wiederaufbaukommissar in Jerusalem an. Der Text geht davon aus, dass es dort keinen eigenen Provinzgouverneur gab, denn ein solcher Beamter hätte etwa schon beim Tempelbau oder auch bei den Empfehlungsschreiben Nehemias eigens erwähnt werden müssen. Es ist anzunehmen, dass die Perser die von den Babyloniern gestalteten Verwaltungsgrenzen beibehielten. Vom archäologischen, epigraphischen (Inschriften) und numismatischen (Münzfunde) Befund her bildeten Juda (Jehud) und Jerusalem vermutlich eine separate Verwaltungseinheit. Ob diese den Status einer eigenen Provinz hatte oder in gewisser Abhängigkeit gegenüber der wirtschaftlich stärkeren Provinz Samaria im Norden stand, ist umstritten.

Das → Esra-Nehemia-Buch vermittelt folgendes Bild: Die Konflikte zwischen Samaria und Jerusalem, die schon beim Tempelwiederaufbau erhebliche Schwierigkeiten machten, flammten beim Stadtmauerbau wieder auf, hörten dann jedoch auf. Das ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass Nehemia Juda und Jerusalem von der Verwaltung in Samaria unabhängig machte. Auch wenn es nirgends ausdrücklich steht, ist wohl Nehemia die endgültige politische Festigung der persischen Provinz Jehud (aramäisch für Juda) zu verdanken. Nehemia ist der erste, der sich als „Statthalter in Juda“ bezeichnet (Neh 5,14: pæchāh bə’æræṣ jəhûdāh; die in Neh 5,15 erwähnten „Statthalter“ vor Nehemia sind möglicherweise die bisher auch für Juda zuständigen Gouverneure von Samaria). Das ihm zustehende Gehalt nimmt er jedoch nicht in Anspruch (Neh 5,18). Ab etwa 408 v. Chr. ist dann das Amt eines Gouverneurs von Juda in den Texten von Elephantine belegt, außerdem finden sich ab der Mitte des 5. Jh.s v. Chr. Krughenkelaufschriften und Siegelabdrücke, etwas später auch Münzen mit dem Namen Jehud als Provinzbezeichnung.

Nehemia 2

Seine Hauptaufgabe sah Nehemia zunächst darin, die Stadtmauer wieder aufzubauen. Dabei ging er nach der Darstellung des Textes diplomatisch geschickt und sehr zielstrebig vor, so dass berichtet werden kann, dass in nur 52 Tagen die Mauer fertig gestellt war. Auch siedelte er dann zehn Prozent der Bewohner von Juda in der Stadt an, womit er weit über seine Kompetenzen als Wiederaufbaukommissar hinausging und wahrscheinlich schon als Provinzgouverneur handelte. Der archäologische Nachweis des nehemianischen Mauerbaus ist jedoch bis heute nicht gelungen, wahrscheinlich darf man sich diese Befestigung nicht allzu gewaltig vorstellen. Der Umfang des eingeschlossenen Areals war erheblich kleiner als das Gebiet, das die von den Babyloniern zerstörte Mauer aus der Eisen-II-Zeit umfasste.

Neben Mauerbau und Errichtung der Provinz als eigenständige Verwaltungseinheit betrieb Nehemia eine ganze Reihe von Reformen, die u.a. die krassen sozialen Gegensätze mildern und auf dem Gebiet der Religionsausübung mehr Ordnung und Strenge (insbesondere bei der Sabbateinhaltung) gewährleisten sollten.

2.2. Die Rezeption Nehemias in biblischer Literatur

Eine ehrfürchtige Erinnerung an Nehemias Mauerbau bewahrt Sir 49,13 (Lutherbibel: Sir 49,15) im großen Geschichtsrückblick von Ben Sira (ca. erstes Viertel des 2. Jh.s v. Chr.): „Nehemia, sein Andenken in Ehren! Er baute unsere Trümmer wieder auf und stellte das Zerstörte wieder her, Tore und Riegel setzte er ein.“ Esra wird bei Ben Sira eigenartigerweise nicht erwähnt (→ Esra).

Keine nennenswerte Erwähnung findet Nehemia in 3Esra (Esdras A’) (→ Esra-Schriften, außerbiblische). Das könnte an der Gesamtkonzeption von 3Esra liegen, die von vier Idealgestalten getragen wird. 3Esra spannt sich von einem idealen davididischen König (Josia) zu einem idealen Priester (Esra), die jeweils ein Pascha-Fest bzw. ein Laubhüttenfest feiern. Dazwischen werden als weitere Idealgestalten der Davidide Serubbabel und der Hohepriester Jeschua erwähnt, die ebenfalls ein Laubhüttenfest und ein Pascha-Fest feiern. Nehemia, der „Laie“ ist und keine signifikante genealogische Abstammung besitzt (und noch dazu mit keinem liturgischen Fest ausdrücklich verbunden ist), passt in dieses Konzept einfach nicht hinein (Bergren).

Nehemia findet dagegen eine legendarische Erwähnung in 2Makk 1,10–2,18, dem zweiten „Brief“ der Jerusalemer Juden an die Juden in Ägypten (vermutlich kurz nach 124 v. Chr. entstanden). In einem Geschichtsrückblick werden Ereignisse von der Errichtung und Einweihung des zweiten Tempels berichtet, die so, wie sie hier dargestellt werden, in keinem anderen Text zu finden sind. In 2Makk 1,10–2,18 spielt Nehemia bei der Wiederaufnahme des Opferbetriebs und der Wiedereinweihung des Tempels eine entscheidende Rolle, doch er agiert nicht als Priester. Der Wiederaufbau der Stadtmauer wird nicht erwähnt. Sollten diese Erzählungen auf Nehemiaschriften zurückzuführen sein, die heute nicht mehr erhalten sind und die Nehemia-Geschichte anders skizzieren? 2Makk 2,13 erwähnt solche Schriften, die sicher nicht mit dem Esra-Nehemia-Buch oder den darin enthaltenen Quellen bzw. Vorstufen identisch sind. Eine andere, ebenso spekulative Erklärung wäre die Annahme, dass den Verfassern von 2Makk 1,10–2,18 der genaue Wortlaut des Esra-Nehemia-Buches nicht vorlag, sondern nur eine vage Erinnerung an die wichtige Gestalt Nehemia, die eine entscheidende Rolle bei der Rekonstituierung der nachexilischen Gemeinde spielte. Wenn das Esra-Nehemia-Buch in dieser Zeit bereits als Einheit aufgefasst wurde, aber nicht „zum Nachlesen“ bereitlag, könnte auch eine Vermischung der Protagonisten dieses Buches (Jeschua, Serubbabel, Esra, Nehemia) unter dem Leitnamen Nehemia erfolgt sein, was auch das Schweigen über Esra in Sir und 1/2Makk erklären würde. In der späteren rabbinischen Tradition wird es möglich, dass Nehemia und derjenige, der nach Ausweis der Bücher Esra-Nehemia sowie Haggai und Sacharja die eigentliche tragende Rolle bei der Rekonstituierung von Kult und Tempel spielte, nämlich Serubbabel, identifiziert werden: Der hebräische Name Serubbabels sei Nehemia ben Hachalja gewesen (so der Babylonische Talmud, Sanhedrin 38a; Text Talmud). Entscheidend sind hier nicht historische Fakten, sondern eine bestimmte Logik in der Textwelt, die nicht unbedingt einer strengen Chronologie folgt. Dass 2Makk 1,10–2,18 historisch verwertbares Material über Nehemia enthält, ist eher zu bezweifeln, da die Tendenz und die Intention des Schreibens klar sind: Hier soll der unmissverständliche Eindruck erweckt werden, dass der zweite Tempel in Jerusalem in ungebrochener Kontinuität zum ersten, davidisch-salomonischen Tempel steht – und daher das einzig legitime jüdische Heiligtum ist, an dem auch die ägyptischen Juden ihre Gottesverehrung verrichten sollen (und nicht an dem „Tempel“ in Leontopolis). Insofern wird hier „Geschichte“ aus einem ganz bestimmten Blickwinkel, mit einem deutlichen Interesse „konstruiert“. Somit gehört die Nehemia-Überlieferung in 2Makk in den Bereich der Legende. Eine weitere mögliche Deutung der Darstellung Nehemias in 2Makk (nach Bergren) könnte darin bestehen, dass durch die Kombination der Briefe mit der Kurzfassung der Makkabäergeschichte eine Parallelisierung zwischen Nehemia und Judas Makkabäus entsteht – und dabei die religiöse Integrität und Frömmigkeit Nehemias auf Judas, der eher durch seine militärischen Erfolge bekannt ist, gleichsam „abfärbt“. Eine politisch wie militärisch unbedarfte Figur wie Esra dagegen ist im Kontext von 2Makk völlig fehl am Platz und könnte nicht zu propagandistischen Zwecken „pro Judas“ (Makkabaios) eingesetzt werden. „Nicht der Zadokide Esra, sondern der priesterlich handelnde Statthalter Nehemia gibt das Vorbild für eine politisch selbständige Nation unter den hasmonäischen Priesterkönigen ab“ (Kellermann, 124).

3. Das Buch Nehemia

Die nach den Personen Esra und Nehemia benannten Bücher bilden in der Hebräischen Bibel ein zusammenhängendes Werk, das von den Masoreten des frühen Mittelalters auch so behandelt wird, da sie die Buchmitte in Neh 3,32 angeben und nur eine Masora finalis (Endanmerkung) anbringen (vgl. auch im Babylonischen Talmud Baba Batra 15a; Text Talmud). In modernen Bibelausgaben erscheint das Werk jedoch aufgrund der geschichtlichen Überlieferungssituation in zwei Teilen, da es – wie das Samuel- und Königsbuch – durch den Einfluss der griechischen bzw. lateinischen Überlieferung in zwei Teile zerlegt worden ist. Hintergrund für diese Zweiteilung ist der Neuansatz mit der Überschrift in Neh 1,1: „Bericht des Nehemia, des Sohnes Hachaljas.“ Da sich die Bücher Esra und Nehemia literarischer Hinsicht jedoch als ein Werk präsentieren, sei hier auf den Art. → Esra-Nehemia-Buch verwiesen.

4. Nehemia in der Kunst

In der christlichen Ikonographie begegnet Nehemia erst im Mittelalter (in den Mosaiken des Baptisteriums von Florenz, 14. Jh.; Buchillustrationen ab dem 13. Jh.). Folgende Szenen werden am häufigsten dargestellt: die Bitte um Entsendung nach Jerusalem, wobei Nehemia dem König Artaxerxes den Becher (mit einem Trauergestus) reicht (Bible moralisée, gotische Handschrift aus dem 13. Jh.; vgl. auch Abb. 1); Hanani berichtet Nehemia vom Unglück der Juden in Jerusalem (Illustrationen zur Lutherbibel von Hans Holbein d.J.); Bau und Verteidigung der Mauern Jerusalems (Merians Bilderbibel von 1630; Abb. 2).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976 (Taschenbuchausgabe, Rom u.a. 1994)
  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Dictionary of Judaism in the Biblical Period. 450 B.C.E. to 600 C.E., New York 1996
  • New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
  • Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Internet), http://www.bautz.de/bbkl/n/nehemia.shtml

2. Weitere Literatur

  • Bergren, T.A., 1998, Ezra and Nehemiah Square Off in the Apocrypha and Pseudepigrapha, in: M.E. Stone / T.A. Bergren (Hgg.), Biblical Figures Outside the Bible, Harrisburg, PA, 340-365
  • Carter, C.E., 1999, The Emergence of Yehud in the Persian Period, Sheffield
  • Gunneweg, A.H.J., 1987, Nehemia (KAT XIX/2), Gütersloh
  • Kellermann, U., 1967, Nehemia: Quellen, Überlieferung und Geschichte (BZAW 102), Berlin / New York
  • Reinmuth, T., 2002, Der Bericht Nehemias. Zur literarischen Eigenart, traditionsgeschichtlichen Prägung und innerbiblischen Rezeption des Ich-Berichtes Nehemias (OBO 183), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Schunck, K.D., 1998-2003, Nehemia (BK 23,2), Lfg. 1-3, Neukirchen-Vluyn
  • Wright, J.L., 2004, Rebuilding Identity: The Nehemiah Memoir and Its Earliest Readers (BZAW 348), Berlin / New York
  • Weitere Literatur siehe → Esra-Nehemia-Buch

Abbildungsverzeichnis

  • Nehemia, der Mundschenk des Artaxerxes (Miniatur aus einer Pariser Bibelhandschrift; ca. 1275–1300).
  • Nehemia baut Jerusalems Stadtmauer wieder auf (Matthäus Merian d. Ä.; 1630 n. Chr.).

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