Deutsche Bibelgesellschaft

Gebet / Beten (AT)

(erstellt: Oktober 2010; letzte Änderung: Mai 2012)

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Psalmen

1. Konstellation des Betens

1.1. Annäherung

Das Gebet, das den Vorgang des Betens zusammenfassend bezeichnet, ist die in den allermeisten und namentlich in sämtlichen altorientalischen Religionen geübte (einseitige) verbale Kommunikation („Gespräch“) von Menschen mit Gottheiten bzw. himmlischen Wesen, die in aller Regel personal (und d.h. im Unterschied zu vielen neuzeitlichen Positionen grundsätzlich ansprechbar, beeinflussbar und handlungsfähig) vorgestellt werden. Im alten Orient (→ Gebet im alten Orient; → Hymnen und Gebete in Ägypten; → Klagefeiern) stellt es damit ein anthropologisches Grundphänomen dar (s. Burkert / Stolz, 1982; Witte / Diehl, 2009) und bildet – neben Opfern und Kultvollzügen (→ Ritual) generell – einen zentralen Bestandteil der religiösen Praxis. Die Kommunikationssituation coram deo impliziert, dass es sich beim Gebet insgesamt um direkte Anrede, um Rede zu, mit oder auch gegen Gott handelt – im Unterschied zur Rede über Gott. Um Engführungen zu vermeiden, kann man explizit auch nonverbale Kommunikationsformen einbeziehen (s.u., Kap. 1.3.), die jedoch zumeist die Gebetsrede begleiten und unabhängig davon nur ganz allgemeine Interpretationen zulassen.

1.2. Terminologie

Im Alten Testament bzw. im alten Israel fehlen Äquivalente zu den deutschen Oberbegriffen „beten / Gebet“ (s. zum Ganzen Miller, 1994, 32ff). Die meisten Gebetstermini akzentuieren bestimmte Aspekte, wie z.B.

  • אמר ’mr und דבר dbr „(mit / zu Gott) sprechen“,
  • בקשׁ bqš Pi. / דרשׁ drš „(Gott) suchen“,
  • שׁאל š’l „(Gott) (be)fragen).

Vor allem heben sie die klagend-bittende bzw. dankend-lobende Gebetshaltung hervor:

  • קרא qr’ „rufen“,
  • צעק ṣ‘q „schreien“,
  • תְּפִלָּה təfillāh „Klage- / Bittgebet“ [Heinen, 1973],
  • חנן chnn Qal / Hitp. „gnädig sein / um Gnade bitten“
  • ידה Hif. „danken / preisen“ und תּוֹדָה tôdāh „Dankgebet / -opfer“
  • הלל hll II. Pi. „rühmen / loben / preisen“ und תְּהִלָּה təhillāh „Ruhm- / Lob- / Preisgebet“ u.a.

Dabei fällt die alltagssprachliche Einbindung des Gebetsvorgangs auf (Albertz, 1984, 34), von der sich vorab פלל pll Hitp. „(im Ritualkontext) beten / fürbitten“ und עתר ‘tr „(im Opferkontext) bitten“ abheben.

In der althebräischen Epigraphik fehlen Belege für Gebete bislang; es haben sich jedoch fragmentarisch einige gebetsartige Texte erhalten, die einschlägige Formen und Inhalte zeigen, auch wenn eine direkte Gottesanrede nur teilweise explizit vorliegt:

(1.) Direkte bzw. indirekte Bitten (BLay 2-3; KAgr 10,2):

Chirbet Bēt Layy 2 (BLay 2): pqd jh ’l chnn • nqh jh jhwh „Greif ein (kümmere dich / suche heim), Jh, gnädiger Gott, mache schuldlos, Jh, Jhwh“.

Chirbet Bēt Layy 3 (BLay 3): 3: hwš‘ [j]hwh „Rette, [J]hwh“.

Kuntillet ‘Aǧrūd 10 (KAgr 10; → Kuntillet ‘Aǧrūd [Kuntillet Agrud]): (1) [brkt …] ljhwh htmn • wl’šrth • (2) kl ’šr jš’l • m’l • chnn … wntn lh jhw klbbh …: (1) „[Ich segne … (hiermit)] vonseiten Jhwhs von Teman und vonseiten seiner Aschera. (2) Alles, was er erbittet vom gütigen Gott …, und es gebe ihm Jhw nach seinem Herzen …“

(2.) Ein Rettungsbericht (Qom 3,3):

Chirbet el-Qōm 3 (Qom 3; → Chirbet el-Qōm [Chirbet el-Qom]): (1) ’r jhw • h‘šr • ktbh (2) brk • ’r jhw • ljhwh (3) wmṣrjh • l’šrth • hwš‘ lh (4) l’njhw: (1) „Urijahu, der Reiche, hat dies schreiben lassen: (2) Gesegnet ist / sei Urijahu vonseiten Jhwhs. (3) Und von seinen Feinden – durch seine Aschera hat er ihn gerettet. (4) Von / Durch Onijahu.“

(3.) Segens- und Lobwünsche (KAgr 6,1f; 9,6ff; vgl. weitere Segenszusagen bzw. Segenswünsche brk NN l-GN: → Segen / Segnen), die zum Teil mit → Flüchen kombiniert werden:

En Gedi (EGed): (1) ’rr ∙’šr ∙ jmchh … (3) brk ∙ jhw[h …] (4) brk ∙ bgj[m … j]mlk … (6) brk ’dn[j] jh … (8) ’rr …: (1) „Verflucht ist / sei Assur. Er wird soll vertilgen … (3) Gesegnet ist / sei Jhw[h …,] (4) Gesegnet ist / sei er unter den Völker[n … he]rrscht als König. … (6) Gesegnet ist / sei der Her[r]; jh[…] … (8) Verflucht ist / sei …“

(4.) Hymnische Preisungen (KAgr 7; BLay 1,1f; vgl. EGed 4):

Chirbet Bēt Layy 1 (BLay 1): (1) jhwh ’lhjj kl h’rṣ h(2)rj jhwdh l’lhj jršlm: (1) „Jhwh der Gott der ganzen Erde, die Ber-(2)ge Judas dem Gott Jerusalems.“

(5.) Aufgrund des Erhaltungszustands nur zu vermutende Fürbitten (Kombination 1) bzw. Verfluchungen (Kombination 2) durch → Bileam in den Texten von Tell Dēr ‘Allā (→ Sukkot [Tell Der Alla]; s. dazu TUAT 2 / 1, 138ff).

1.3. Konstellation

Beschreiben und klassifizieren lässt sich das im Alten Testament bzw. alten Israel sehr vielgestaltige Phänomen „Gebet“ anhand folgender Aspekte:

(1.) Als Subjekt bzw. Sprecher des Gebets tritt der Einzelne oder das Kollektiv auf. Allerdings greift hier die Alternative von privatem und öffentlichem Gebet nicht, denn im alten Israel wurde in der Regel in Gemeinschaft (s.u.) und laut gebetet (s. den Grenzfall 1Sam 1,13ff), womit prinzipiell Öffentlichkeit (zumindest innerhalb der Kleingruppe) gegeben war, was sich auch in den zahlreichen Elementen der Klage- und Danklieder bzw. der Hymnen innerhalb der „Privatgebete“ zeigt. Aus der Vielfalt betender Individuen ragen die Gebete von königlichen, priesterlichen, prophetischen u.ä. Funktionsträgern heraus, die im Dienst der Gemeinschaft stehen. Schließlich bezeugen die im Wir-Stil formulierten Gebete und Gebetsteils eine kollektive Gebetspraxis (Volk, Gemeinde usw.). Insgesamt ist also der gemeinschaftliche Charakter für das alttestamentliche Gebet kennzeichnend. Das gilt auch für das himmlische Gotteslob von → Serafim, → Engeln oder dem Himmelsheer (Jes 6,3; Ps 148,1f; Dan 3,58 LXX).

(2.) Als Adressat des Gebets fungieren ausschließlich Gottheiten (s.u.), die sich in nachexilischer Zeit auf Jhwh mitsamt den ihm zugeordneten Bezeichnungen reduzieren; Jhwh kann dann zwar durch Engel vertreten werden, doch wird zu ihnen, auch in der apokalyptisch ausgeweiteten Angelologie der Spätzeit, nicht im engeren Sinne gebetet (s. z.B. Dan 9; den Engelpreis Tob 11,14 [Lutherbibel: Tob 11,17]; s. aber das Reden mit / zu Engeln, das dem zum Teil gebetsartigen Gespräch mit Gott ähnelt, s. z.B. Gen 17). Auch Gebete zu Verstorbenen lassen sich nicht belegen, sind jedoch religionsgeschichtlich im Rahmen des Ahnenkults (→ Totenkult) zu vermuten (s. 1Sam 28; vgl. zuletzt Schmitt, 2009 und Kühn, 2009, je mit Lit.).

(3.) Formal sind die Gebete sehr häufig – zumal in den eigentlichen Gebetssammlungen der → Psalmen und → Klagelieder / Threni – poetisch gestaltet (Parallelismus membrorum; → Poesie), was auch im epigraphischen Material durchscheint. Es handelt sich also, wie im Alten Testament sonst, nicht um freie Äußerungen, sondern um stilistisch, traditionsgeschichtlich und literarisch geformte Texte, die zumeist überindividuelle Erfahrungen verdichten; Hauptgattungen sind das Klagelied des Einzelnen bzw. des Volkes, das Danklied und der Hymnus (s.u. 2.2.). Die Anrede Gottes (s.o.) trifft zwar für das Gebet global zu, hält sich aber nicht exklusiv durch: Gebete beinhalten auch Reden über Gott (vgl. insbesondere den hymnischen Partizipialstil, der von Gott in der dritten Person spricht, Metatexte wie Ps 1 oder die Psalmenüberschriften) oder Aufforderungen zum Gebet (vgl. die imperativischen Hymnen); diese Übergänge erfolgen innerhalb der Gebetstexte selbst (s. dazu Wagner 2008; ders., 2009).

(3.) Der Gebetsinhalt kreist grundsätzlich um die beiden (gleichursprünglichen) Zentren der Klagebitte, um die Wende der menschlichen Not auf der einen Seite und des Dankes für bzw. des Lobes über das göttliche Heils- bzw. Schöpfungshandeln auf der anderen Seite (s.u. 2.2.). Im Einzelnen variieren die Inhalte natürlich in Korrelation mit Form, Zweck usw. höchst vielfältig und decken sämtliche Lebensfelder ab: von elementaren Alltagserfahrungen über die großen Geschichtsthemen bis zum umfassenden Schöpfungslob. Aufs Ganze überwiegen dabei – namentlich im → Psalter – keineswegs Klage und Bitte, sondern sie stehen austariert neben Dank und Lob, ja laufen nachgerade auf diese zu.

(4.) Der Gestus, in dem das laut gesprochene Gebet vorgebracht wird, besteht üblicherweise im Stehen mit erhobenen Armen und geöffneten Händen (עמד ‘md; יצב jṣb Nif.; 1Kön 8,22; Ps 28,2; Ps 141,2; Ex 17,11; zum Ganzen Keel, 5. Aufl. 1996, 287ff; Miller, 1994, 50ff).

Die Hände können aber auch vor der Brust gefaltet werden, oder man kniet (כרע kr‘; קדד qdd; Gen 24,26; Ex 34,8; 1Kön 8,54) bzw. vollzieht – wie bei einer Audienz beim König – die Proskynese (eventuell vor Gott oder dessen Bild), wobei Gesicht und Hände Bodenkontakt haben (חוה chwh Hitp.).

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Es gilt freilich festzuhalten, dass sich keine Korrelation einer bestimmten Haltung mit einem bestimmten Gebetsinhalt ausmachen lässt (man lobt auch kniend bzw. klagt stehend usw.). Hingegen kann in Notsituationen die Klage / Bitte in besonderer Trauer- oder Bußkleidung (שַׂק śaq) geäußert und von weiteren Minderungsriten begleitet werden (s.u.), während sich eine besondere Gebetsbekleidung (Mantel) bzw. Gebetsausstattung (Gebetsriemen) erst in nachbiblischer Zeit etabliert.

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(5.) Ebenso bestimmt der (konkrete) Anlass des Gebets (bzw. verallgemeinert der Sitz im Leben) wesentlich den spezifischen Gebetsinhalt. Grundsätzlich kann jedermann (allein oder typischerweise in Gemeinschaft) immer und überall für sich und andere beten (Miller, 1994, 48ff), sodass eine situative Kategorisierung der Gebete hilfreich ist. Anhand des Kultbezugs, d.h. des Ritualisierungsgrads (s. Albertz, 1984, 36ff), kann man zu heuristischen Zwecken zunächst kultfreie Alltagsgebete von Gebeten im Kulthorizont (pauschal formuliert: → Psalmen) unterscheiden, die beide in Israel zu allen Zeiten nebeneinander stehen, aber auch ineinander übergehen können (s.u. 2). Aufgrund der ausschließlich schriftlichen Quellentexte lassen sich Erstere indes nur noch umrisshaft rekonstruieren, und eingeschränkt gilt Ähnliches für die familiäre Gebetspraxis im Rahmen des vorexilischen Hauskults.

(6.) Kultische Gebete sind in der Regel in größere Ritualzusammenhänge eingefügt (→ Ritual); sie werden etwa musikalisch begleitet (→ Musik) oder ergehen im Rahmen von Opferdarbringungen (vgl. z.B. תּוֹדָה tôdāh; → Opfer). In Notzeiten zählt die rituelle Klage zu den → Trauer- und Minderungsriten wie etwa Wehklagen, → Weinen, → Fasten, Zerreißen der Kleider und Anlegen des Trauergewands, Streuen von Asche auf das Haupt oder Scheren des Haupthaars (Jos 7,6; Jer 3,9; Hi 1,20; Jon 3,5; Neh 1,4).

(7.) Auch der Gebetsvollzug selbst kann, über den Gestus hinaus, durch nonverbale Begleit- bzw. Haupthandlungen unterstützt werden. Diese umfassen – analog zu perfomativen Sprechakten – bisweilen magische Elemente, die jedoch im Alten Testament weithin unterdrückt sind und über die wir aus altorientalischen Texten besser informiert sind (vgl. etwa die Serie Maqlu, die Namburbi-Riten oder die Šuila-Handerhebungsgebete [s. zum Ganzen TUAT 2 / 2, 191ff.255ff]). Magische bzw. symbolische Handlungen und bittendes Gebet setzen gleicherweise voraus, dass die Gottheit veränderbar ist, und sie zielen je darauf, den göttlichen Willen günstig zu beeinflussen; beide sind also im Kern funktionsäquivalent.

(8.) Literaturgeschichtlich schließlich verteilen sich die auf uns gekommenen schriftlichen Gebete und Gebetsfragmente aus dem alten Israel – die wie bemerkt von den real gesprochenen Gebeten zu unterscheiden sind – ungleichmäßig. Von diesem Urteil muss man, zumindest vorderhand, die epigraphischen Gebete und Gebetsstücke ausnehmen, die im Verhältnis zum gesamten Primärtextbestand quantitativ recht breit gestreut sind; überwiegend indizieren sie eine alltagssprachliche Verbreitung von Gebetssprache, die wahrscheinlich auf eine entsprechende Verbreitung der alltäglichen Gebetspraxis schließen lässt.

Demgegenüber finden sich im alttestamentlichen Kanon einerseits Einzelgebete bzw. gebetsartige Texte, die an entsprechenden Situationen des biblischen Narrativs eingefügt sind (s. dazu zuletzt Fischer / Backhaus, 2009, 11 u.ö.), so häufig und mehrfach an zentraler Position in den erzählenden Schriften (z.B. Gen; Ex 15; Dtn 32f.; Ri 5; 1Sam 2 / 2Sam 22[f]; 1Kön 8; 1Chr 16; Esr 9; Neh 9), gelegentlich in den Prophetenbüchern (z.B. Jes 38,1ff; Konfessionen Jeremias; Jon 2; Nah 1,2ff [Hymnus]; Hab 3 [Theophanie-Bittgebet]; Dan 9) und seltener in den weisheitlichen Werken (Hi 1,20f; Hi 3,1ff; vgl. den Rechtsstreit → Hiobs mit Gott). Andererseits stellen die → Psalmen und die → Klagelieder / Threni nachgerade eigenständige Gebetssammlungen und Gebetsbücher dar. Als „Antwort Israels“ (s.u. 4.1.) sind die Psalmen „in der überwiegenden Mehrzahl dadurch charakterisiert, dass sie dem Menschen in den vielfältigen Situationen des Lebens beten helfen wollen“ (Spieckermann, 2004, 62; Erbele-Küster, 2001).

Auch in der übrigen frühjüdischen Literatur finden sich zahlreiche Einzelgebete und Gebetssammlungen, auf die hier nur pauschal verwiesen werden kann (Egger-Wenzel / Corley, 2004).

2. Idealtypische Gebetsformen

In einer situativ-formgeschichtlichen Kategorisierung lassen ich einige idealtypische Gebetsformen unterscheiden, die indes – auch in 2.2. – keineswegs mit gattungsgeschichtlichen Urformen zu identifizieren sind.

2.1. Alltagsgebete

Damit steht die kultfreie Gebetspraxis des Alltags im Blick, die dem vor- bzw. nichtliterarischen Bereich angehört. Sie ist sehr vielgestaltig und lässt sich aufgrund der schriftlich-literarischen Quellen wie bemerkt insbesondere in ihren (wenig fest geprägten) formalen Strukturen nur indirekt erschließen aus (meist verkürzten und literarisch verdichteten) alttestamentlichen Gebeten und epigraphischen Fragmenten (eine kultische Funktion wird v.a. bei einer Tinteninschrift aus Engedi [EGed (8):2] erwogen, bleibt aber unsicher). Immerhin scheinen vielfältige Klage-, Bitt-, Dank- und Lobsituationen des Alltags abgedeckt zu sein (wobei sich namentlich Gebet und → Magie nicht selten überlagern). Darauf deuten auch zahlreiche alttestamentliche und epigraphische Personennamen hin, die verbal oder nominal „kondensierte“ Gebete darstellen.

So etwa Bitte / Wunsch / Dank in den Namen יִשְׁמָעֵאל jišmā‘’el „Es möge erhören / hat erhört Gott“; חֲנַנְיָה chǎnanjāh „Erbarmt hat sich Jh[wh]“; יְהוֹשֻׁעַ jəhôšûa‘ „Jh[wh] ist Rettung“; Lob / Preis: z.B. זְרַחְיָה zərachjāh „Aufgestrahlt ist Jh[wh]“; אוּרִיָּה ’ûrijjāh „[mein] Licht ist Jh[wh]“. Vgl. Albertz, 1978, 49ff; ders. / Schmitt, 2012, Kap. 5; Renz / Röllig, 1995b, 53ff.

Inhaltlich stehen bei den Personennamen wie bei den Alltagsgebeten Rettung und Bewahrung, Wohlergehen und → Segen im Zentrum, wobei sich bei Letzteren die Akte von Klage (inkl. Anklage), Bitte, Vertrauen, Dank und Lob deutlicher unterscheiden lassen (Albertz, 1984, 36ff; Reventlow, 1986, 83ff; ders., 2000, 485).

Situativ lassen sich erstens biographische Verortungen benennen, etwa die Bitten um Nachkommenschaft (Gen 15,2ff) und bei Geburtsgefahren (Gen 25,22f), die Namengebung als Abschluss des Geburtsvorgangs (s.o.), Segenswünsche bei der Heirat (Gen 24,60) und die Totenklage (Gen 23,2). Zweitens finden sich lebensweltlich typische Bitt-Situationen, so die Heilung von Krankheit (s. Ps 38; Ps 41; Ps 88, dazu Seybold, 1973), der Notschrei von Sklaven / Bedrückten (Ex 3,7), die Klage Verdurstender (Jos 15,18; Gen 21,16f), die Abwendung von Schmach (Tob 3,1ff) und überhaupt die Rettung aus Todesgefahr einerseits (z.B. Gen 32,10ff; Ri 6,22ff) sowie in der Spätzeit die Bitte um göttliche Führung andererseits (z.B. Gen 24 mit Omenbitte Gen 24,12ff; Ri 6,36ff; vgl. die Orakelgebete 1Sam 14,37ff; 1Sam 23,10ff). Aufs Ganze sind die erhaltenen Gebete somit hauptsächlich okkasionell und kasuell verortet, während eine tägliche Gebetspraxis wohl anzunehmen, aber erst spät auch dokumentiert ist (s. Dan 6,11f mit Ausrichtung nach Jerusalem [vgl. 1Kön 8,44]; Ps 55,18).

Eine (unvollständige) Reihe weiterer Elemente kann die Gebetsform bestimmen:

(1.) Oft und im Alten Testament besonders profiliert tritt das Gebet in der Gestalt der Fürbitte für andere auf (Gen 18,22ff; Ex 5,22ff; Ex 31,11ff [Mose als Fürbitter, s. Aurelius, 1988] Jer 15,1; Ps 99,6 [Priester und Propheten als Fürbitter]; Am 7,2.5; vgl. den assistierenden Gebetsbeschwörer in mesopotamischen Texten; s. Reventlow, 1986, 228ff; → Fürbitte).

(2.) Ein Gelübde (נֶגֶר nægæd) intendiert, die Wirksamkeit des Gebets zu steigern (Gen 28,20ff; 1Sam 1,11; Ri 11,29ff; → Eid). Dabei ist eine besondere Nähe zu magisch-selbstwirksamen Handlungen zu beobachten, auch wenn der Vorgang im Einzelnen mehrdeutig ist und im Einzelkontext sorgfältiger Interpretation bedarf (z.B. im Blick auf die Zeitrelationen: do ut des [ich gebe, damit du gibst] bzw. do quia dedisti [ich gebe, weil du gegeben hast]). Eingelöst wird ein Gelübde häufig in der rituellen Form des Dankopfers (תּוֹדָה tôdāh [זֶבַח zävach]) am Heiligtum (z.B. Ps 116,12ff).

(3.) Die erfahrene Hilfe Gottes wird aber auch in vielfältigen Dank- und Lobgebeten zum Ausdruck gebracht, wobei u.a. die Segensformel (→ Segen / Segnen) בָּרוּךְ יְהוָה bārûkh jhwh „gesegnet ist / sei Jhwh“ eine prominente Rolle spielt.

In diesem Kontext treten auch Vertrauensbekenntnisse auf (z.B. Gen 48,15f; 1Sam 7,12), die sich dann sowohl im KE als auch im DE häufig finden (s.u. 2.2.) und sich in Texten wie Ps 23 nachgerade verselbstständigt haben.

(4.) Verwiesen sei noch auf weitere Bitt-Elemente der alltäglichen Gebetspraxis wie stoßgebetartige Ausrufe (חָמָס chāmās „Gewalt“, Hi 19,7; אֲהָהּ ’ǎchāh „Ach“, Jer 1,6; אוֹי ’ôj „Wehe“, Jes 6,5; אָנָּא ’ånnā’ „Ach“, Ps 118,25) oder die Warum / Wozu-Frage (לָמָה lāmāh Ri 21,3), die sich dann zum Teil in den KE verdichten.

Literaturgeschichtlich ist schließlich zu beobachten, dass sich in der Spätzeit viele Gebete zunehmend vom Kult (und Tempel) lösen. Das gilt namentlich für die sog. nachkultischen Psalmen (s. Stolz, 1983) und den sich formierenden → Psalter, der entgegen der klassischen Ansicht nicht als Gesangbuch der nachexilischen Gemeinde fungierte, sondern als theologisch reflektierter Lesepsalter für schriftgelehrte Torafromme (anders noch Reventlow, 2000, 487); es liegt somit ein nicht-kultischer, schriftgelehrter Sitz im Leben vor, hinter dem sich eine entsprechende trägergruppenspezifische Gebetspraxis erschließen lässt. Ähnliches gilt für die in der → Hiob-Dichtung immer wieder explizit an Gott adressierte Klage und Anklage, die den Dialog mit den Freunden über das Leiden Hiobs in eine – weisheitskritische – Gebetshaltung und Gebetstheologie einbindet bzw. darin überführt.

2.2. Hauptgattungen der Psalmen

Die soeben beschriebene Dynamik zwischen ursprünglichem Kultbezug (etwa Privat- / Kleinkult bei den KE und DE, kollektive Klagefeiern bei den KV, regelmäßiger Großkult bei den Hymnen) und nachkultischer, literarischer Verwendung prägt auch das – literarisch auf uns gekommene – Gebetbuch des → Psalters grundlegend, wo sie in allen Hauptgattungen auszumachen ist. Im Folgenden sollen jedoch unabhängig von dieser Dynamik bzw. von ihrem Endpunkt aus die typischen Charakteristika der verschiedenen Gebetsformen der literarisch vorliegenden Psalmen-Hauptgattungen (innerhalb und außerhalb des Psalters) im Zentrum stehen (s. zum Ganzen Gunkel / Begrich, 2. Aufl. 1966; 3. Aufl. 2009 [Lit.]).

2.2.1. Klagelied des Einzelnen (KE)

Diese häufigste Psalmen-Gattung, die knapp ein Drittel aller Psalmen umfasst, besteht konstitutiv aus den Hauptelementen „Gottesanrede“, „Klage“ und „Bitte“, häufig und charakteristischerweise durch Vertrauens- bzw. Dank- und Lobaussagen abgeschlossen (z.B. Ps 13; → Psalmen 3.2.). Für das Verständnis des alttestamentlichen Betens sind daran zwei Aspekte grundlegend:

(1.) Zum Ersten erduldet der Beter die Not und Bedrängnis nicht stumm, sondern bringt sie in aller Schärfe und Intensität vor Gott als Klage und Bitte zur Sprache – Not lehrt beten: Man „schüttet seine Klage vor Jhwh aus“ (Ps 102,1) und vollzieht so seine Existenz unhintergehbar im Gegenüber zu Jhwh, denn zu schweigen hieße nachgerade, tot zu sein (Ps 6,6 u.a.). Näherhin lassen sich die drei Dimensionen der Ich-, der Feind- und der Gottklage (Selbst-, Welt- und Gottesbezug) unterscheiden, die – je nach Notlage – in der einen oder anderen Kombination auftreten. So wird bei Krankheit meist auf das Verhältnis des Beters zu Jhwh fokussiert, im Fall von Feindbedrängnis wird vorab die zwischenmenschliche Relation thematisiert und in (weit gefasster) Rechtsnot spielen oft verschiedene Faktoren mit (Schuld / Unschuld des Beters, Ab- / Anwesenheit Gottes, Agitation / Eliminierung von Feinden u.ä.).

(2.) Zum Zweiten zeigt der häufige und abrupte Übergang von der Klage und Bitte zu Vertrauen, Dank und Lob, worauf das KE eigentlich abzielt: auf die Notwende durch Gottes Eingreifen. Dieser sog. Stimmungsumschwung von der Klage zum Lob wird in der Forschung schon lange kontrovers diskutiert; gegenüber der älteren textexternen Erklärung durch ein priesterliches Heilsorakel (J. Begrich), das jedoch im Psalterkontext nicht belegt ist, wird neuerdings gern ein textinternes, theologisches Verständnis als Vertrauensvorschuss, der die Wende antizipiert, vertreten (Janowski, 3. Aufl. 2009, 75ff.439f [Lit.]). Für die vorliegenden KE als literarische Kompositionen (und zumal für den [sich formierenden] Psalter insgesamt) überzeugt diese Position durchwegs, doch ist damit noch nicht über die ursprüngliche Entstehung des Stimmungsumschwungs entschieden. In der realen Gebetspraxis im Haus oder Heiligtum mag ein Priesterorakel eine Rolle gespielt haben, entscheidend ist jedoch ein Doppeltes: Einmal handelt es sich bei den KE ausweislich der überindividuellen Situierungen um Gebetsformulare, die in Notsituationen – vermutlich unter Mitwirkung von Ritualexperten – verwendet wurden (auch wenn hinter dem Ich einiger weniger KE der König zu erschließen sein mag [H. Birkeland und v.a. S. → Mowinckel, 1962, 1,42ff], ist eine generelle Gleichsetzung völlig überzogen); in derselben Weise kamen für Dank und Lob analoge Formulare zum Einsatz, sodass Klage- / Bitt- und Dank- / Lob-Texte für entsprechende Zeremonien parallel nebeneinander benutzt wurden – und von denselben Ritualexperten möglicherweise im gleichen Archiv aufbewahrt wurden. Eine Kombination beider Gattungen scheint dadurch zumindest vorbereitet zu sein. Zum Andern gilt es aber zu bedenken, dass der Prozess der Verschriftung von Traditionsliteratur stets in resultativer Perspektive erfolgt, sodass bereits in den KE spätere Erfahrungen der Notwende Eingang gefunden haben (vgl. die Verweise auf Lobpassagen in Šuila-Gebeten bei Zgoll, 2003, 262, die allerdings keinen expliziten Rückblick auf eine Notwende bzw. Erhörung bieten). Hier scheint die Keimzelle für die sich daraus entwickelnde Gebetstheologie des die Heilswende antizipierenden Vertrauensvorschusses greifbar zu sein; diese Theologie wurde freilich keineswegs statisch gefasst, wie der – in einzelnen Psalmen ebenso wie im Psalter – mehrfach wiederholte Wechsel von der Klage zum Lob und erneut zur Klage und zum Lob usw. dokumentiert (Villanueva, 2008).

Bleibt der Stimmungsumschwung in der Regel noch relativ situationsnahe, so zeigt sich hier doch eine anfängliche Entzerrung von Gebetssituation und Gebetsinhalt. Eine radikale Transformation, auf die hier nur verwiesen sei, lässt sich dann in weisheitskritischen Spätphasen des Psalters und des Hiobbuchs verfolgen, wenn dort kollektiv bzw. individuell das Loben Jhwhs in der tiefsten Notlage erfolgt und damit komplett von dem (gemäß dem → Tun-Ergehen-Zusammenhang vorauszusetzenden positiven) Situationsbezug entkoppelt wird (Psalterdoxologien, besonders Ps 89,53; Hi 1,21f; Hi 2,9f).

2.2.2. Danklied des Einzelnen (DE)

Das DE blickt auf eine überwundene Notlage zurück und stattet Jhwh dafür Dank und Lob ab (→ Psalmen 3.3.). Der ursprüngliche Sitz im Leben liegt dementsprechend vermutlich in kultischen Dankfeiern (z.B. Todah, s.o.), die gemeinschaftlich begangen wurden, wie die häufigen Verweise auf ein Kollektiv (z.B. in den Rettungsberichten) nahelegen.

Die rund 20 Exemplare umfassende Gruppe der literarischen DE im Psalter zeigt, dass (spätestens jetzt) das DE grundlegend auf das KE bezogen ist, das es literarisch fortführen (Ps 22) oder sachlich bzw. literarisch (Ps 18) integrieren kann: Bei aller Gattungsvielfalt im Detail wird nach der Anrede Jhwhs stets auf die eine oder andere Weise die überstandene Krise thematisiert („Rettungsbericht“) und daraufhin in einem dritten Schritt Dank und Lob Jhwhs entfaltet, während ein abschließendes Lobgelübde seltener ist.

Im Psalter bilden das KE und das DE also „wie die beiden Schalen einer Muschel“ (Gunkel / Begrich, 2. Aufl. 1966, 282) die zwei Seiten der Notlage, und das DE als ausgeführtes Lobgelübde des KE unterstreicht noch einmal das Gefälle der Klage und Bitte auf die Notüberwindung hin. Gleichsam ein Zwischenstück in dieser systematischen Zuordnung bilden die sog. Vertrauenspsalmen (v.a. Ps 23), die das Vertrauensbekenntnis des KE verselbstständigen.

2.2.3. Klagelied des Volkes (KV)

Das – neben → Klageliedern / Threni (bes. Kap. 5) – nur in einer guten Handvoll Psalmen belegte KV (Ps 44; Ps 74; Ps 79f.; Ps 83 [Ps 85], man beachte die Konzentration auf Buch III!) bildet das kollektive Pendant zum KE, das dazu weitgehend parallel gestaltet ist, jedoch nur ausnahmsweise einen positiven Lobteil umfasst (Ps 79,13; vgl. Ps 85,2ff; → Psalmen 3.4.). Institutionell entstammen sie ursprünglich öffentlichen („nationalen“) → Klagefeiern (vgl. צוֹם ṣôm „Fasten“), doch steht bei allen erhaltenen Texten – sie stammen durchwegs aus exilisch-nachexilischer Zeit – das Exilsgeschick im Zentrum und es wird, mesopotamische Untergangsklagen rezipierend, der Verlust von Tempel, Stadt und Königtum beklagt (s. zum Ganzen Emmendörffer, 1998).

2.2.4. Hymnus

Der Hymnus artikuliert das menschliche Staunen über die – Gott verdankte – Welt und ihre Ordnung; die Gattung, mit gegen 30 Exemplaren im Psalter vertreten (s. daneben bes. Ex 15,21; Ri 5), bildet bezüglich Haltung und Sprecher den (gleichursprünglichen) Gegenpol zum KE: Es handelt sich um kollektive Lob- und Preis-Texte (→ Psalmen 3.1.; s. Heiler, 1918, 157ff; Westermann, 5. Aufl. 1977, 13ff, der die Bedeutung dieser Gebetshaltung dadurch zu unterstreichen sucht, dass er neben den Allgemeines beschreibenden Hymnen auch die Einmaliges berichtenden Danklieder unter das Loben subsumiert).

Seit Crüsemann (1969) hat sich weithin die Unterscheidung von imperativischem und partizipialem Hymnus etabliert (während der dritte Typ des Jhwh anredenden Hymnus des Einzelnen marginal blieb). Der imperativische Hymnus besteht aus einer Einführung (oft in Gestalt einer imperativischen Lobaufforderung) und einem Hauptteil, der häufig mit deiktischem כִּי „ja“ (in der Lutherbibel mit „denn“ übersetzt) eingeleitet wird und als Lobgegenstand „das ordnende und rettende / richtende Handeln des Königsgottes JHWH“ auf dem Zion preist (Hartenstein / Janowski, 2003, 1765); eine abschließende Wiederholung des Eingangslobs bleibt fakultativ. Der partizipiale Hymnus besteht aus eine Reihe von Partizipien, die ebenfalls das Handeln JHWHs beschreibt und den Hauptteil eines imperativischen Hymnus bilden kann. Crüsemanns Versuch, diese Typen mit dem Gegenüber von Israel / Umwelt und mit der Gattungsgeschichte zu korrelieren (imperativischer Hymnus als genuin israelitische Urform, die sekundär durch partizipiale Formen aus der Umwelt erweitert worden sei), ist mittlerweile widerlegt.

Als dominanter Sitz im Leben der Hymnen gilt mit Recht der all- und festtägliche Kultbetrieb am / an den staatlichen Tempel(n). Doch schließt dies zum Einen ältere Ursprünge nicht aus (dass z.B. Ex 15,21 nicht vorstaatlicher Herkunft sei, lässt sich jedenfalls nicht mit seiner formalen Struktur [Imperativ + כִּי + Lobgegenstand] begründen). Und zum Andern ist v.a. wiederum zu beachten, dass ein wesentlicher Teil der Hymnen eigens für ihren Ort im Psalter formuliert bzw. reformuliert wurde (v.a. Ps 135f.; Ps 145f.), es sich hier also um nachkultische und literarische Redaktionstexte handelt.

Inhaltlich repräsentiert der Hymnus „die Form des Gebetes, die sich am reinsten auf das Gegenüber des Beters, auf Jahwe, konzentriert“ (Reventlow, 1986, 308). Der Hymnus lenkt den Menschen somit von sich selbst ab und auf sein göttliches Gegenüber; so fügt sich der preisende Mensch nach Meinung der Psaltertheologie adäquat in die göttlich geprägte Wirklichkeit ein und wird so seiner geschöpflichen Funktion in herausragender Weise gerecht.

3. Geschichtliche Entwicklungen

Eine umfassende Geschichte des Gebets im alten Israel stellt zur Zeit ein Desiderat dar, u.a. weil das alttestamentliche und epigraphische Material noch nicht auf dem aktuellen Forschungsstand, der sich seit Reventlow, 1986 fundamental gewandelt hat, aufgearbeitet ist. Hier müssen einige vereinfachende und partielle Aspekte genügen.

3.1. Sitz im Leben bzw. in der Literatur

Von grundlegender Bedeutung ist in religions- und theologiegeschichtlicher Hinsicht der mehrfach angesprochene Sitz im Leben bzw. in der Literatur (→ Psalmen 2.2.): Wie verhalten sich private Gebetspraxis, kultischer Gebetsvollzug und in Primär- und Sekundärquellen auf uns gekommene literarische Gebetstexte zueinander und wie wandeln sich diese Beziehungen im Verlauf der Zeit?

Sieht man einmal von der Quellenproblematik ab, dass über die beiden ersten Bereiche (fast) nur von der zuletzt genannten Basis aus Aussagen möglich sind, dürfte folgende Gesamtentwicklung charakteristisch sein: Im Verlauf der Königszeit (ca. 1000-587 v. Chr.) bestehen private und offizielle Gebetspraxis an dem / den Tempel(n) nebeneinander, nähern sich im Blick auf Formen und Inhalte aber an, wobei der Tempelkult zunehmend an Einfluss gewinnt.

Dies gilt in der → Exilszeit (587-537 / 520 v. Chr.) hingegen nur noch für Jerusalem und Umgebung (KV), während man in der Diaspora auf das kultfreie (aber durchaus gemeinschaftliche) Gebet zurückgeworfen ist, zu diesem Zweck möglicherweise aber auch ehemalige Kultgebete neu verwendet.

In der nachexilischen Ära (ab 537 / 520 v. Chr.) kommt es im Schmelztiegel von Jerusalem mit dem erneuerten Tempelbetrieb zunächst zu einer ähnlichen Tendenz wie in der vorexilischen Epoche, doch führt der Traditionsrückgriff nun zur Ausbildung von Schriftgelehrsamkeit und damit – zumindest im Bereich des Psalters – zu einer grundlegenden Neuerung: Die ehemals kultisch gebundenen Gebete werden unter verschiedenen Gesichtspunkten zu literarischen Sammlungen formiert und theologisch zunehmend reflektiert und eigenständig fortgeschrieben. Derart wandelt sich der entstehende Psalter zu einem von der Klage zum Lob fortschreitenden Lese- und Meditationsbuch schriftgelehrter Kreise (von Tempelsängern?), das vorab nicht- bzw. nachkultisch verwendet wird; dass die Psalmen dabei frommen „Laien“ „von schriftgelehrten Leviten vorgetragen und ausgelegt wurden, dass die Psalmen auch zum elementaren ,Lernstoff‘ der ,Lehrhäuser‘ (vgl. Sir 51,23 [Lutherbibel: Sir 51,31]) und der Synagogen gehört haben, dass sie in den ,Genossenschaften‘ (chabūrōt) der pharisäischen Bewegung Meditationstexte waren, dass sie zum alltäglichen familiären Gebet gehörten – all dies kann man sich vorstellen, ohne es mit Sicherheit beweisen zu können.“ (Zenger, 7. Aufl. 2008, 367). Mit einer solchen Entwicklung konvergieren jedenfalls verschiedene Indizien, die sich in späten Alltagsgebeten finden (s.o. 2.1.; anders Westermann, 1976, 452f: Nacheinander von situationsgebundenen Prosakurzgebeten, Psalmen und langen Prosagebeten).

3.2. Jhwh-Monolatrie bzw. -Monotheismus

Eine Vielzahl von Verschiebungen in den Gebetstexten wird im Horizont des Aufkommens von Jhwh-Monolatrie bzw. Jhwh-Monotheismus verständlich (→ Monotheismus):

(1.) Das betrifft zuvorderst, aber bei weitem nicht allein den (bzw. die) Adressaten der Gebete. Ergibt sich im Alten Orient ein wesentlicher Teil der Gebetsdynamik durch das Neben- und Gegeneinander verschiedener Gotteswillen, so entfällt dies im Alten Testament (s. analog etwa die altorientalischen und alttestamentlichen → Fluterzählungen), insbesondere bei den KE: Jhwh allein ist sowohl für die Not als auch für die Notwende verantwortlich (Ps 88; s. aber ältere Vorstufen wie Ps 18,5f, wo Jhwh für die Not nicht [bzw. in späterer monolatrischer Lesart allenfalls passiv durch Abwesenheit oder Zulassung] zuständig ist). Dadurch büßt das Gebet zwar an Dramaturgie ein, gewinnt aber umgekehrt an theologischer Schärfe. In analoger Weise werden im Alten Testament die verschiedenen Gottesbezeichnungen (z.B. ’älôhîm; ’el ‘æljôn; ’æl šaddaj), die in Gebetsanreden auftreten und die auf unterschiedliche religionsgeschichtliche Ursprünge hinweisen, nunmehr monolatrisch auf Jhwh bezogen.

(2.) Der Jhwh-Monotheismus tendierte dazu, die Distanz Gottes zur Welt zu vergrößern, was gravierende Folgen zeitigte: Es kam nicht nur zur Aufwertung von Vermittlungsinstanzen, sondern beim Gebet vermutlich auch zu einer hymnischen Ausweitung der Gottesanrede (z.B. Ps 136; s. Albertz, 1994, 39 mit Belegen für KE und KV; zu einem anders begründeten analogen Befund in den Šuila-Gebeten s. Zgoll, 2003, 30ff).

(3.) Die erhabene Souveränität Gottes führt innerhalb der deuteronomistischen bzw spätdeuteronomistischen Tradition (→ Deuteronomismus) zu einer Ausweitung des Schuldbekenntnisses und einer Vermeidung der Anklage Gottes, was sich dann in der → Apokalyptik wirkmächtig fortsetzt. Einschlägige Beispiele für eine ausgeweitete Gottesanrede und breite Geschichtsrückblicke, die das göttliche Heilshandeln akzentuieren, bieten v.a. Neh 9; Esr 9; Dan 9 (dazu Zastrow, 1998; vgl. Tob 3,1ff; u.v.a.).

(4.) Umgekehrt führt Gottes Jenseitigkeit im weisheitlichen Kontext dazu, grundsätzlich über die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Gotteserkenntnis zu reflektieren (s. Schellenberg, 2002). Insbesondere das → Hiobbuch unterstreicht dabei, dass nicht nur ein frommes mea culpa angebracht ist (bes. → Elihu, z.B. Hi 35,9ff) – die Freunde haben nicht verständig zu / über Gott gesprochen (Hi 42,7)! –, sondern das nachgerade störrische, aber aufrichtige Gebet und Streiten Hiobs zu und mit Gott wird von diesem selbst ins Recht gesetzt – auch wenn die Himmelsszenen mit feiner Ironie letztlich erkenntniskritisch optieren (denn wer hat schon Einblick in den Himmel wie der Hioberzähler?).

3.3. Einzelentwicklungen

Eine Durcharbeitung des Materials erbrächte eine Fülle von weiteren Entwicklungstendenzen, von denen hier zwei besonders deutliche ergänzt seien:

(1.) Die Untergangsklagen der KV entwickeln sich aus den KE heraus, wie der parallele Formaufbau zeigt. Um die kollektiv-geschichtliche Krisensituation des Exils zu bewältigen, werden Motive und Themen der KE wie mesopotamischer Klagen rezipiert und judäisch adaptiert. Mit der allmählichen Restitution wurden diese Texte freilich nicht einfach obsolet, sondern historisiert (z.B. durch die Zuweisung an David; später, in makkabäischer Zeit, freilich unter Umständen abermals punktuell aktualisiert [s. die Diskussion zu Ps 74; Ps 79]): Sie fanden Eingang in den Psalter, wo sie im historisierenden Ablauf in Buch III konzentriert wurden.

(2.) Während in der vorexilischen Zeit die Gebetspraxis der KE und DE üblicherweise wohl in Ritualzusammenhänge (Bittzeremonien mit Opfern, Dankopferfeiern u.ä.) eingebunden waren, konnte es im Rahmen von darauf reagierender Kultkritik geradezu zur Ersetzung des Opfers durch das Gebet kommen, wie einige nachexilische Psalmpassagen in aller Schärfe belegen: „Die Opfer, die Gott ‚gefallen’, sind ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten“ (Ps 51,19; s. Ps 141,2; Ps 50,14f).

4. Theologische Aspekte

(→ Psalmen 6.)

4.1. Die Psalmen als Antwort Israels

Einem bekannten und häufig zitierten Diktum → Gerhard von Rads zufolge formuliert der Psalter als herausragendes alttestamentliches Gebetbuch die Antwort Israels (→ Psalmen 6.3.): „Auf diese Heilstaten [sc. Jhwhs an Israel in Gestalt von Vätererwählung, Exodus und Sinaibund sowie von Davidbund] hin ist Israel nicht stumm geblieben; … es hat auch Jahwe ganz persönlich angeredet … | Diese Antwort Israels, die wir zu einem großen Teil dem Psalter entnehmen, ist theologisch ein Gegenstand für sich“ (10. Aufl. 1992, 366f; s. etwa Janowski / Hartenstein, 2003, 1767; Janowski, 2001, 2ff; freilich ist diese Antwort nach v. Rad zugleich Gotteswort).

Damit hat v. Rad die Pointe des vorliegenden Psalters prägnant summiert, doch sind wenigstens zwei präzisierende Kommentare zu diesem Urteil erforderlich:

(1.) Zumindest die – m.E. als eine der beiden Urformen alttestamentlichen Betens qualifizierbaren – älteren KE stellen, soweit sie real gebetet wurden, in erster Linie eine auf Jhwh ausgerichtete elementare menschliche Reaktion auf Negativerfahrungen dar, die erst in zweiter Linie als Antwort an Jhwh gedeutet werden kann: Denn die Notlage gilt ja in den ältesten Texten nicht selten als durch feindliche Mächte verursacht, während Jhwh allenfalls indirekt für sie verantwortlich ist (durch Abwesenheit, Ferne, Unachtsamkeit u.ä.). Dementsprechend ist die Klage und Bitte zuvorderst keine Antwort, sondern ein Hilferuf an Jhwh, der als passiv (und nicht als aktiv agierend bzw. „redend“) erfahren wird. Es ist dann vielmehr Jhwh, der dem Beter mit der Notwende „antworten“ soll.

Allerdings provoziert dies (ebenso wie Notlagen, die dezidiert als durch Jhwh verursacht gelten) dann seinerseits menschliche Antworten in den DE, KV und Hymnen (welch Letzteren als – gar anfänglichem? – Staunen ja ein besonderer Antwortcharakter inhärent ist). Und sofern die literarischen KE resultativ und d.h. erfahrungsverarbeitend formuliert sind (s.o. 2.2.1. zum Stimmungsumschwung), trifft der Antwortcharakter dann auch für die im Psalter erhaltenen KE zu.

(2.) Zum Zweiten ist gegen v. Rad zu betonen, dass die Psalmen, die als Einzeltexte nur sehr selten Bezüge auf die geschichtlichen Heilstaten Jhwhs an und für Israel aufweisen, sich primär und hauptsächlich auf die individuellen Lebenserfahrungen (ggf. freilich des Königs) beziehen: Sie reagieren somit auf die vielfältigen Lebenserfahrungen Israels (als der syn- bzw. diachronen Gemeinschaft von Israeliten), aber nicht auf Unheils- bzw. Heilsgeschichte (vgl. Saur, 2005, 10f). Die Psalmen antworten auf Erfahrungen von Freud und Leid, Scheitern und Erfolg, Reichtum und Armut, Krieg und Frieden usw.

Freilich kommt auch hier im Zuge der Psalter-Formierung mit ihrem historisierenden Ablauf sekundär ein Geschichtsbezug prominent hinzu. Insofern antwortet der Psalter dann durchaus auf Jhwhs geschichtliche Heilstaten, wobei der kanongeschichtliche Rückbezug von Ps 1,2 auf Jos 1,7f / Mal 3,22 den Psalter nachgerade als Antwort Israels auf die von Jhwh gegebene(n) Tora (und Nebiim) lesen lässt (Janowski, 2001, 4; Witte, 3. Aufl. 2009, 430; → Kanon).

So eingeholt bilden die Psalmen dann in der Tat die Antwort Israels: die durch die Dynamik von Klage und Lob geprägte menschliche Kommunikation mit Jhwh, dem Gott Israels.

4.2. Veränderlichkeit Gottes

Es wurde soeben abermals deutlich: Im Unterschied zur pointiert aufklärerischen Einschätzung, nach der „es ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn [ist], durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit … abgebracht werden könne“ (Immanuel Kant, [1793 / 1794] 5. Aufl. 1983, 872), gilt es der altorientalischen Welt als selbstverständlich, dass der Mensch auf den göttlichen Willen Einfluss nehmen kann und soll: „Der Mensch versteht sich … als abhängig von den Entscheidungen der Götter. Diese Entscheidungen erfährt er allerdings nicht als statisch und unveränderlich, sondern er selbst kann als Partner im Dialog mit den Göttern auftreten“ (Zgoll, 2009, 122; vgl. dies., 2003).

Dies trifft mutatis mutandis für die alttestamentlichen Gottes- (vgl. etwa die Motive von Gottes → Reue oder → Zorn) und Gebetsverständnisse zu, nach denen Jhwh sich vom menschlichen Klagen / Bitten und Loben sehr wohl bewegen lässt.

Eine solche Konzeption ist auch systematisch-theologisch anschlussfähig, wenn Gott (etwa von der Rechtfertigungslehre her) nicht als unwandelbar weil allwissend gilt (und so gleichsam „der Gefangene seiner eigenen Göttlichkeit“ wäre [Jüngel, 1990, 402; vgl. Mostert, 2008, 284ff]), sondern als veränderlich – wie immer man sein weltliches Handeln dann unter neuzeitlichen Verstehensbedingungen näher fasst. Auf der internen, menschlichen Wahrnehmungsebene der betenden Personen zielt das Gebet dann jedenfalls darauf, in einer zuvor gott-los erfassten, externen Situation das Wirken Gottes wahrzunehmen (Tietz, 2009, 341f, wobei unentschieden bleibt, ob ein externes Ereignis auch ohne Gebet eingetreten wäre).

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Abbildungsverzeichnis

  • Pharao Echnaton (1353-1336 v.Chr.) und hinter ihm seine Frau Nofretete beten den Sonnengott Aton an. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Ein Schasufürst aus dem Ostjordanland bekundet dem ägyptischen Pharao vor ihm seine Verehrung, hinter ihm steht eine Schutzgöttin (Stele aus Balua in Jordanien; 13./12. Jh. v. Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Zum Beten hat man im Knien oder Stehen die Hände erhoben oder sich niedergeworfen (ägyptische Kalksteinskizze, die zeigt alle drei Gebetshaltungen nebeneinander zeigt; Neues Reich, 1440-1170 v. Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Beterstatue (Tell Asmār; Frühdynastisch l). Aus: Wikimedia Commons; © Rosemaniakos, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-2.0 US-amerikanisch; Zugriff 19.4.2009

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