Ezechiel / Ezechielbuch
Andere Schreibweise: Hesekiel / Hesekielbuch, engl. Ezekiel
(erstellt: April 2021)
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1. Name, Person und historischer Hintergrund
Der Name Ezechiel (hebr. יְחֶזְקֵאל jəḥæzqeʼl, griech. Ιεζεκιηλ Iezekiēl, lat. Hiezecihel, Luther: Hesekiel) bedeutet „Gott möge stärken“. Das Ezechielbuch lässt den Priester-Propheten Ezechiel Ereignisse aus den Jahren 594/93 (vgl. Ez 1,2
2. Textgeschichte
Ähnlich wie beim → Jeremiabuch
3. Das Ezechielbuch als (Erzähl-)Komposition
Gerade im Vergleich mit dem Jesaja- und dem Jeremiabuch fällt das Ezechielbuch durch einen einheitlichen Stil und geschlossenen Gesamteindruck auf. Die folgenden Merkmale sind für das kohärente Gesamtbild entscheidend (vgl. Hossfeld, 442-445; Häner 2014, 4-7):
(1) Das ganze Buch ist eine lückenlose Ich-Erzählung des Propheten. Der zweite Teil der Erzähleröffnung durch eine ‚allwissende‘ Erzählinstanz in Ez 1,2f
(2) Das Buch enthält 14 Datierungen (Ez 1,1f
Die 14 Datierungen des Ezechielbuchs haben (zunächst) die Funktion, die Erzählereignisse zeitlich nachvollziehbar anzuordnen. Durch ihre (fiktionale) Vieldeutigkeit verknüpfen sie jedoch gleichzeitig das im Ezechielbuch Erzählte mit bedeutsamen Daten bzw. Ereignissen der Geschichte Israels und mit für das Erinnern dieser Ereignisse wichtigen kultischen bzw. liturgischen Vollzügen (vgl. Goudoever). Mit Ausnahme von Ez 24,1
Rechnet man vom 5. Jahr der Gola Jojachins (594/93 v. Chr.) 30 Jahre zurück, kommt man (in etwa) auf den Zeitpunkt der sog. Reform des → Josia
(3) Das Buch ist von zahlreichen wiederkehrenden Wendungen / Redeformeln durchzogen (Wortereignisformel, Botenformel, Gottesspruchformel, Wortbekräftigungsformel, Erkenntnisformel, Herausforderungsformel, Hinwendungsformel).
(4) Auch ist eine ausgesprochene Konstanz in der Verwendung der Gottesbezeichnungen – in der Regel „Adonaj JHWH“ – sowie in der Anrede des Propheten als בֶּן־אָדָם bæn-ʼādām „Menschensohn / Mensch“ zu beobachten.
(5) Das Buch enthält in Ez 1,4-3,27
(6) Auch die sieben → Zeichenhandlungen
Auffällig ist dabei, dass diese ‚Performances‘, deren Deutungen sowie die durch sie ausgelösten Reaktionen der Zuschauenden (vgl. Ez 12,9
(7) Mehrere Motive / Erzählaspekte tauchen an verschiedenen Stellen des Buches auf, und zwar so, dass man von Weiterführung, Entwicklung oder sogar von plot sprechen kann.
Zu nennen sind etwa das Verstummungsmotiv (Ez 3,22-27
(8) Zum geschlossenen Gesamteindruck tragen darüber hinaus die Verknüpfung benachbarter Textabschnitte durch Stichwortwiederholungen und die kunstvollen Bezüge innerhalb größerer Textbereiche bei. Letztere ergeben sich „aufgrund der Anzahl von Verwendungen von Lexemen, festen Ausdrücken und weiteren textuellen Merkmalen“, wobei „die Siebenzahl oder ein Mehrfaches davon“ eine wesentliche Rolle spielt (Häner 2014, 5f).
(9) Dass die „Gerichtsankündigungen in Ez 4-24 mehrmals durch Heilsausblicke aufgebrochen (11,14-21; 16,59-63; 17,22-24; 20,40-44) [werden], während umgekehrt die Heilsverheißungen in Ez 33-39 mit erneuten Gerichtsankündigungen durchsetzt sind (33,23-29; 34,1-10; 35,1-15; 38,17-39,8)“ (Häner 2014, 7), wurde immer wieder als Hinweis auf ein diachrones Wachstum des Buches gesehen. Dieser Schluss ist jedoch nicht zwingend – was Spannung bzw. Spannungen erzeugt, muss nicht als „unecht“ ausgeschlossen, sondern kann durchaus als genuiner Bestandteil eines kohärenten Buchganzen verstanden werden (vgl. Ganzel 2010b).
4. Zur Forschungsgeschichte
4.1. Literarhistorische Aspekte
Aufgrund seiner kompositorischen Merkmale und seines ‚ganzheitlichen Eindrucks‘ wurde das Ezechielbuch bis zum Anfang des 20. Jh.s zumeist als einheitliches literarisches Werk angesehen. Dies wurde durch die Studie von Gustav Hölscher Hesekiel. Der Dichter und das Buch aus dem Jahr 1924 grundlegend in Frage gestellt. Hölscher unterschied zwischen den poetischen Dichtungen des (historischen) Propheten, die er nur in Ez 7-25 vertreten sah, und dem Buch, das er als „Kampfschrift der sadokidischen Priesterschaft zu Jerusalem“ (Hölscher, 40) aus dem 5. Jh. v. Chr. bestimmte. Der Autor und Herausgeber des Buches habe „bewußtermaßen unter der Maske des alten Propheten Hesekiel“ (Hölscher, 40), dem Hölscher nur etwa ein Achtel des Textbestands ‚zubilligte‘, geschrieben.
Seitdem etablierten sich drei unterschiedliche „Wahrnehmungen“ des Ezechielbuchs, denen sich einzelne Kommentare und Forschungsarbeiten mehr oder weniger eindeutig zuordnen lassen (vgl. Pohlmann 2006a, 65f). Nur für die unter 3) genannte Perspektive ist charakteristisch, dass „der Weg zum historischen Ezechiel und seinem Wort als versperrt angesehen wird“ (Pohlmann 2006b, 190f).
4.1.1. Das Ezechielbuch als schriftstellerische Einheit
Das Ezechielbuch lässt sich als planvolle Komposition und schriftstellerische Einheit verstehen. Diese auch „holistische Interpretation“ genannte Perspektive wurde insbesondere durch Moshe Greenberg etabliert (vgl. Greenberg 1983) und hat, zumal im US-amerikanischen Raum, breite Wirkung entfaltet (vgl. Block 1997 und 1998). Greenberg und Block betrachten Ezechiel als historische Prophetengestalt des frühen 6. Jh.s v. Chr. sowie als Urheber, Gestalter und Redaktor des nach ihm benannten Buches.
Von einer schriftstellerischen Einheit geht auch Jürgen Becker aus, der das Ezechielbuch allerdings als Pseudepigraph eines späteren „Schriftstellers“ bzw. als „Schreibtischarbeit“ aus dem 5. Jh. v. Chr. sieht.
4.1.2. Das Ezechielbuch als Werk des Propheten und Fortschreibung seiner Schule
Hier ist vor allem der Ansatz von → Walther Zimmerli
4.1.3. Das Ezechielbuch als Ergebnis eines langen Überarbeitungsprozesses
Vor allem Karl-Friedrich Pohlmann versteht das Ezechielbuch als Ergebnis vieler sukzessiver redaktioneller Überarbeitungen. Seiner Meinung nach fanden diese im Zeitraum 587 v. Chr. bis zum Aufkommen der Apokalyptik statt und spiegeln unterschiedliche theologische Reflexionsarbeit wider. Aufbauend auf einer Arbeit von Jörg Garscha aus dem Jahr 1974 rechnet er damit, dass ein älteres, vor 520 v. Chr. in Juda entstandenes Ezechielbuch in der ersten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. redaktionell überarbeitet wurde, um die Vorrangstellung der ersten Gola (d.h. der mit König Jojachin 597 v. Chr. ins babylonische Exil Deportierten), bzw. von deren Nachkommen, gegenüber den in Juda lebenden Angehörigen des Volkes Israel zu sichern (vgl. Pohlmann 2006b, 183-185). Für das 4. Jh. v. Chr. rechnet Pohlmann mit „sukzessive vorgenommenen diasporaorientierten Fortschreibungen“, noch später seien „apokalyptisierende[] Tendenzen“ eingetragen worden (Pohlmann 2006b, 187; vgl. auch Rudnig; Klein 2008 und 2010).
Zwar hat die Idee einer die (erste) Gola ins Zentrum rückenden umfassenden Redaktionsschicht in der Ezechielforschung zumal im deutschsprachigen Raum breite Wirkung entfaltet; sie ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Bei Albertz (262f) heißt es etwa: „Der Versuch, Bearbeitungsschichten in einem Buch mit vielen Wiederholungen, aber ohne klare stilistische Brüche vornehmlich aufgrund einer angenommenen Tendenz voneinander abzugrenzen, ist äußerst schwierig; es strapaziert, wie die divergierenden Ergebnisse zeigen, die recht grobe literarkritische Methodik [...]. Wohl ist es richtig, daß das Ezechielbuch an einer Reihe von Stellen [...] eine Parteinahme für die Exilierten erkennen läßt. Doch wenn die beiden deutlichsten Texte in dieser Hinsicht, Ez 11,14-21 und 33,21-33, von Pohlmann nicht beide der golaorientierten Redaktion zugewiesen werden können [...], dann beweist dies, daß sich diese Tendenz nicht klar mit einer Bearbeitungsschicht verbinden läßt. [...] Noch dazu wird [nicht] verständlich, warum im 5. oder 4. Jh. [...] noch eine Notwendigkeit bestanden haben soll, die Ansprüche der Gola gegen die Daheimgebliebenen zu verteidigen.“
Dalit Rom-Shiloni hat die Favorisierung der ersten Gola als wesentliches Anliegen einer mit der Jojachin-Gruppe 597 v. Chr. deportierten historischen Prophetengestalt verbunden und anhand einschlägiger Textpassagen des Ezechielbuchs nachzuweisen versucht (Rom-Shiloni 2005, 20): „Ezekiel as an advocate of the Exiles formulates a concept of exile that enables continuity of Judahite existence outside the Land of Israel. [...] [I]n his prophecy of restoration (11:16-21), Ezekiel supplies divine legitimation to this community of Exiles seen as the Remnant of the people of God. In opposition, the prophet de-legitimates the community in Jerusalem, accusing them with various cultic sins (11:21; 33:25-26), that estrange them from the land. These strategies of division create explicit differences of prestige between the groups.“ Dabei geht Rom-Shiloni von dem holistischen Ansatz Greenbergs aus und grenzt sich explizit von der Herangehensweise Pohlmanns ab (vgl. Rom-Shiloni 2005, 10f, Anm. 37). Ihre Auslegung macht somit deutlich, dass die Wahrnehmung einer Gola-Favorisierung nicht zwingend auf die Annahme eines ‚radikalen‘ redaktionsgeschichtlichen Entstehungsmodells und auf eine Datierung wesentlicher Teile des Buches erst ab der persischen Zeit hinauslaufen muss.
Paul M. Joyce nennt in seinem Ezechielkommentar aus dem Jahr 2007 mehrere gute Gründe, die eine Entstehung des Ezechielbuchs noch im 6. Jh. v. Chr. plausibel erscheinen lassen (Joyce 2007, 4; vgl. Hals, 5):
„The historical circumstances [...] broadly reflect what is known of the sixth century from extra-biblical sources such as the Babylonian Chronicle [...]. The issues addressed by the book fit with the period and appear to reflect the situation of national loss associated with it. Moreover, by the end of the sixth century, reality will have taken over from aspiration in many respects (with regard, for example, to temple or monarchy), and many expectations will have been falsified by historical developments [...]. The work coheres with other biblical evidence for the sixth century, including the reassessment of issues of divine action and human or national responsibility [...]. [...] Furthermore, with regard to the language of the book, the studies of Hurvitz (1982) and Rooker (1990) show persuasively that the language is best described as belonging to the ‚transition‘ between Classical Biblical Hebrew and Late Biblical Hebrew, which would fit the sixth century. Cumulatively, the case for staying with the sixth-century setting that the book claims for itself is overwhelming.“
Solche Überlegungen zur Entstehung des Buches müssen keineswegs zwangsläufig mit der Suche nach einer historischen prophetischen Gestalt bzw. mit der Suche nach deren ipsissima verba einhergehen, wie eine ähnliche Einschätzung von Albertz zeigt, der „für die Entstehung des Ezechielbuches die Jahre zwischen 545-515 v. Chr.“ annimmt und diese „über die längste Zeit noch in Babylonien verortet“ (Albertz, 264).
Weiter heißt es bei ihm hierzu: „Das Buch ist zu großen Teilen aus dem Rückblick entstanden [...]. Es setzt die Erfahrung der Katastrophe von 587 längst voraus und fragt, welche Konsequenzen sich daraus für einen möglichen Neuanfang in der Zukunft ergeben. [...] Dies bedeutet, dass wir zur aktuellen Verkündigung des Propheten nur noch sehr bedingt Zugang haben. Sie ist aus dem Rückblick heraus längst in das Gesamtkonzept des Buches eingeschmolzen [...]. Doch gerade durch den Verzicht, im Ezechielbuch noch die ursprüngliche Verkündigung des Propheten herausdestillieren zu wollen, wird es möglich, das Ezechielbuch weitgehend als literarische Einheit zu lesen.“ (Albertz, 265). Es spricht nichts dagegen, das Ezechielbuch (auch) vor diesem Hintergrund als von Vornherein in schriftlicher Form verfasstes Werk zu denken (vgl. Albertz, 263) – wurde und wird doch der literarische Charakter des Buches von vielen Ezechielforscher_innen immer wieder hervorgehoben (vgl. auch Davis; Schöpflin 2002; Ebach 2008).
4.2. Neuere Wege in der Ezechielforschung
Neben der soeben besprochenen Frage nach der zeitlichen Einordnung des Ezechielbuchs (bzw. seiner ‚Bestandteile‘ oder ‚Schichten‘) erscheinen gegenwärtig die folgenden Punkte in besonderer Weise aktuell.
4.2.1. Die Frage nach den Kriterien für die Annahme literarischer Uneinheitlichkeit
Die Bestimmung ‚synchroner‘ und ‚diachroner‘ Textanteile im Ezechielbuch hat 2017 William A. Tooman noch einmal aufgeworfen (vgl. schon Greenberg 1986; Joyce 1995).
Man könne nicht annehmen „that ancient standards of cohesion and incohesion, or tolerances thereof, are identical to modern standards. To validate a diachronic hypothesis, one must now show from documentary evidence that ancient writers, in fact, practiced the types of textual interventions that are proposed.“ (Tooman, 505). Dieser Nachweis wird schwerlich zu führen sein. Doch auch die gängigen Kriterien für ‚Synchronizität‘ bzw. literarische Einheitlichkeit erscheinen Tooman fragwürdig: Es könne sein, dass ein redigierter Text kohärenter erscheine als die Ausgangsbasis, zielten doch redaktionelle Eingriffe häufig darauf, Lücken zu schließen, Uneindeutiges zu vereindeutigen, grammatikalische Spannungen zu glätten oder Sprache zu aktualisieren. Auch ‚Synchronizität‘ und literarische Einheitlichkeit sind deshalb unter Bezugnahme auf die gängigen (In-)Kohärenzkriterien schwerlich zu verifizieren. Wenn es tatsächlich so ist, wie Tooman meint, dass „synchronic and diachronic scholarship share similar standards of what constitutes textual unity and both assume the normalcy of such unity“ und sich (nur) im Hinblick auf die Begründung festgestellter Uneinheitlichkeiten unterscheiden (Tooman, 508), sind auf (text-)wissenschaftlichen Standards aufbauende ‚diachrone‘ und ‚synchrone‘ Herangehensweisen als gleichwertig zu betrachten und ist ihnen gleichermaßen Erkenntnisgewinn zuzugestehen.
Inkohärenzen im Text sollten nicht vorschnell literarkritisch erklärt werden. Erstens zeigt sich, dass sich für diese ad hoc immer wieder „ausgefallene“ Erklärungen finden lassen. Zweitens darf man nicht die heutigen Vorstellungen von Kohärenz, Logik, Einheitlichkeit, Ganzheit und ‚Harmonie‘ zum Maßstab für das Ezechielbuch machen. Geht man drittens mit Louis Stulman davon aus, dass man es bei den Büchern der Hinteren Propheten mit „war literature“ (Stulman, 126) zu tun hat, oder begreift man diese mit Matthijs J. de Jong als „literature of disaster“ (de Jong, 47), wird man vielleicht sogar mit aus heutiger Sicht chaotischen, ‚verwundeten‘, fragmentierten Texten als ‚Normalfällen‘ rechnen müssen.
4.2.2. Die Frage nach dem babylonischen Hintergrund
Zwar ‚verortet‘ sich die Ich-Erzählfigur der Ezechielerzählung selbst in Babylonien, genauer in Tel-Aviv am Kebarkanal, doch bedeutet das keineswegs zwangsläufig, dass das Buch oder weite Teile desselben tatsächlich in Babylonien und in der Zeit vor 539 v. Chr. entstanden sind. Nicht nur die von Ezechiel geschilderten visionären Reisen nach Jerusalem in Ez 8-11 und nach Israel in Ez 40-48 haben Forscher_innen an diesem Entstehungshintergrund zweifeln lassen. Auf der anderen Seite wurden in den letzten Jahren einige Studien veröffentlicht, in denen es darum geht, babylonische – oder jedenfalls: mesopotamische Einflüsse – auf das Ezechielbuch plausibel zu machen. Befeuert wurden diese Studien u.a. durch die Veröffentlichung der Al-Yahūdu-Dokumente im Jahr 2014, welche die Anwesenheit von (deportierten) Judäer_innen in ländlichen Gegenden Babyloniens ab 572 v. Chr. belegen (vgl. Pearce / Wunsch; Nissinen, 89-91; Rom-Shiloni 2017).
Immer wieder ist aufgefallen, dass das Ezechielbuch eine Reihe akkadischer Lehnwörter (vgl. Vanderhooft) und aus babylonischen Traditionen stammende religiöse Motive (vgl. Bodi 1991 und 2015) enthält. Martti Nissinen geht davon aus, dass das Buch im Kontext einer „community of literati“ entstand, „who have been familiar with both Hebrew and Mesopotamian texts and traditions“. Die Vertrautheit der Buchautor_innen mit beiden Traditionen sei groß, was für ein hohes Maß an schreiberischer Ausbildung spreche. „Babylonia can be considered the most probable source of the learned tradition used and reflected in the book of Ezekiel in general [...].“ (Nissinen, 98). Jonatan Stökl überlegt darüber hinaus, ob es nicht auch möglich sein könnte, dass Ezechiel bzw. die Autoren des Ezechielbuchs (?) in Babylonien Unterricht in Keilschrift erhielten, d.h. lernten, Akkadisch zu lesen und zu schreiben (vgl. Stökl).
Ikonographische Einflüsse aus dem mesopotamischen Raum werden vor allem im Hinblick auf die Thronwagenvision in Ez 1 und Ez 10 sowie für die Darstellung des Tempels in Ez 40-48 diskutiert (vgl. Keel 1977 und 2005; Staubli, 275-278; Ganzel / Holtz; Uehlinger).
Nicht wenige Forscher_innen rechnen außerdem damit, dass im Ezechielbuch eine subtile und kenntnisreiche Auseinandersetzung mit verschiedenen literarischen Traditionen aus Mesopotamien bzw. Babylonien stattfindet. So analysiert Daniel Bodi die Parallelen zwischen dem Ezechielbuch und dem akkadischen Erra-Epos (vgl. Bodi 1991), während Margaret S. Odell die Inschriften des assyrischen Herrschers → Asarhaddon
Vor allem für die Gog-Perikope in Ez 38-39 (→ Gog / Magog
4.2.3. Die Frage nach dem Genre des Ezechielbuchs
Nach wie vor ist wohl tendenziell richtig, was Helmut Utzschneider und Stefan A. Nitsche in ihrem Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung aus dem Jahr 2001 festhielten: Dass die „Wahrnehmung der poetisch-literarischen Seite der Prophetenbücher [...] noch ganz in den Anfängen [steckt]“ und dass man im Grunde „noch nicht [weiß], [...] welches Genre von Literatur sie darstellen“, ein Mangel, der wahrscheinlich darauf zurückzuführen sei, „daß man bis vor kurzem eben sehr genau zu wissen glaubte, daß Prophetenbücher nichts anderes sind als ‚Sammlungen‘ und ‚Verschriftungen‘ mündlicher Orakel von Propheten ohne eigene literarische Qualität“. Erst allmählich wachse ein Bewusstsein dafür, „daß Prophetentexte schriftliche Literatur sind, die sich des Stilmittels der mündlichen Rede und Anrede bedienen“ (Utzschneider / Nitsche, 132).
Einen wichtigen Schritt in die hier gewiesene Richtung hat zuletzt de Jong unternommen. In einem im Jahr 2011 erschienenen Artikel hält er fest (de Jong, 45): „The prophetic books are not prophetic kernels with a scribal afterlife, but scribal works with prophetic roots. Their basic literary layer is a thorough scribal elaboration of an underlying prophetic message.“ Das wesentliche Thema der prophetischen Bücher sei „Zerstörung als göttliche Strafe“, wobei drei Aspekte bedacht würden: (1) der Weg hin zur Zerstörung, (2) die schreckliche Situation, die durch die Zerstörung bewirkt wird, und (3) mögliche Neuanfänge nach der Zerstörung. All dies weise die prophetischen Bücher als „literature of disaster“ aus (vgl. de Jong, 47).
Während de Jong das Ezechielbuch zwar in seine Überlegungen einordnet, dies jedoch nicht weiter ausführt (vgl. de Jong, 64), wird dieses, insbesondere im Kontext der US-amerikanischen Forschung, selbstverständlich als Erzählung behandelt. Bei Corrine L. Patton etwa heißt es (Patton 2004, 73f): „At the beginning of the book of Ezekiel, both the prophet and the narrator identify Ezekiel as a priest of the first deportation. The audience ‚reads‘ the rest of the book through the lens of this particular social setting (elite priest). In addition, the reader of the final form of the text should also recognize that the author and Ezekiel are not identical: Ezekiel is a character within the prophetic narrative, through whom the reader experiences the exile. [...] As a first-person sympathetic narrator, Ezekiel is an idealized figure in the book; the reader experiences all speech, all action, through this figure. [...] The storytelling in the book is so artful that it draws the reader into assuming that what it says about Ezekiel reflects a historical personʼs real experience.“ Erzähltheoretische Begriffe werden hier einfach angewandt, die Zugehörigkeit des Ezechielbuchs zum narrativen Genre einfach vorausgesetzt ohne im Folgenden eine Erläuterung oder methodische Rückbindung zu erfahren.
Edgar Conrad hat darauf aufmerksam gemacht, dass unter den Büchern Jesaja bis Maleachi nur Ezechiel und Jona mit der Verbform וַיְהִי wajə
In diesem Sinne lässt sich das Ezechielbuch als Ganzes auf seine narratologischen Strukturen hin analysieren.
4.2.4. Der historische Gehalt der Ezechielerzählung
Diskutiert wird auch der historische Gehalt der Erzählung. Grundsätzlich sind die Zustände, die die Ezechielerzählung voraussetzt, historisch glaubwürdig. Leidenserfahrungen, die mit der → Zerstörung Jerusalems
(1) Rahmungen, Rahmentexte und chronologische Muster (vgl. Ez 1,1-3
Die Charakterisierung des Ezechielbuches als fiktionale Erzählung beruht dabei auf der Annahme, dass Fiktionalität und Wirklichkeit nicht in einem Ausschluss-, sondern in einem Mitteilungsverhältnis zueinander stehen (Schmitz, 141):
„In der Fiktionalität wird ein eigener Blick auf die Wirklichkeit gerichtet, indem versucht wird, diese zu beschreiben und zu verstehen. Damit können über die Fiktionalität Erfahrungen verarbeitet, thematisiert, problematisiert und Defizite aufgespürt werden. Im Modus einer erfundenen, fiktiven Erzählung können Grenzen der Wirklichkeit überschritten und gesprengt, Alternativen entworfen und durchgespielt werden. Auf diese Weise kann von der Fiktionalität eine zutiefst schöpferische und lebensgestaltende Kraft ausgehen, die mitunter auch die herrschende Ordnung durchbrechen, Gegenentwürfe entfalten und neue Wirklichkeitsmodelle entwickeln kann.“
Damit aber erscheint gerade das fiktionale Erzählen als in besonderer Weise geeignet, sowohl ‚Theanthropologisches‘ als auch Traumatisches literarisch greifbar zu machen.
4.2.5. Die Frage nach dem Ezechielbuch als Trauma-Literatur
Zwar teilt das Ezechielbuch einige seiner „Anstößigkeiten“ mit anderen prophetischen und weiteren biblischen Schriften, manche (z.B. die „krassen“ Visionen; die „Bilderflut“; die an Selbstverletzungen grenzenden Zeichenhandlungen; die Gewaltverstricktheit [Gottes]; die Stummheit, das Gebundensein und die Erstarrung des Propheten; die Passivität Ezechiels; die Dominanz von Wut und Zorn) kommen in ihm aber so gehäuft bzw. in solcher Massivität vor, dass sie eine besondere Auslegungstradition aus sich herausgesetzt und begründet haben: Die Vorstellung eines an einer psychischen Erkrankung leidenden bzw. psychisch auffälligen Propheten.
Bereits 1877 attestierte August Klostermann Ezechiel „Katalepsie“ bzw. „Starrsucht“, als deren Ursache er vor allem die gewalttätige Veränderung seiner Lebensumstände durch die Deportation nach Babylonien ansah (vgl. Klostermann; vgl. auch Lang 1981 und 2005). Edwin C. Broome und Karl Jaspers erwogen in den 40er Jahren des 20. Jh.s die Diagnose „Schizophrenie“ (vgl. Broome; Jaspers). David J. Halperin nimmt an, Ezechiel habe ein frühes ödipales Trauma erlitten (vgl. Halperin), während Dereck M. Daschke ihm „Melancholia“ bescheinigt (vgl. Daschke). In den letzten zwei Jahrzehnten erhielt Ezechiel hingegen mehrfach die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSD) – bzw. brachte man das nach ihm benannte Buch mit (Kriegs-)Traumatisierung in Verbindung (vgl. Smith-Christopher 2002; Bowen).
Es ist allerdings nicht möglich, vom Text des Ezechielbuchs auf den psychischen Zustand seines Verfassers (bzw. seiner Verfasser_innen) zu schließen. Forscher_innen sind allein mit diesem Text konfrontiert, dessen literarischen Charakter es ernst zu nehmen gilt (vgl. Garfinkel, 39-41). Doch auch im Rahmen einer literarischen Analyse der Ezechielprophetie erweist sich die Rede von Trauma und Traumatisierung als für das Verstehen derselben ausgesprochen hilfreich – sie kann ein Schlüssel sein, vor allem um die verstörende Gewaltfülle zu begreifen (vgl. hierzu auch Garber; Kelle 2009; Bowen). Als fiktionale Erzählung blickt die Ezechielerzählung auf die bereits geschehene Katastrophe der Zerstörung Jerusalems unter Nebukadnezar 587/86 v. Chr. zurück. Sie nimmt die konkret-körperlichen Erfahrungen des antiken Belagerungskriegs und der antiken Massendeportationspraxis in sich auf, von deren ungeheuren Schrecken andere textliche, bildliche und archäologische Quellen ausdrücklich zeugen.
Die vom Belagerungskrieg Betroffenen erlebten „Hunger, Seuche und Schwert“ (sog. Heimsuchungstrias, vgl. Kaiser 1982, 174f), Kriegsgräuel, Folter, Formen sexueller / sexualisierter Gewalt, Plünderung und Brandschatzung. Wer deportiert wurde, hatte einen mörderischen Gewaltmarsch über Hunderte von Kilometern zu bewältigen, erfuhr das Dahinsiechen und Sterben von Mitdeportierten, die Zerschlagung von Familien und war schließlich zu einem Leben in völliger Fremde gezwungen, in der Regel ohne Hoffnung auf Rückkehr. Dabei kamen nicht nur die unmittelbar an den Kampfhandlungen Beteiligten, sondern die gesamte Bevölkerung, Frauen wie Männer, alte Menschen wie kleine Kinder, Soldaten wie Zivilpersonen mit traumatisierender Gewalt in Berührung (vgl. hierzu ausführlich Poser, 158-248 [Lit.]; Stiebert 2005; zum antiken Belagerungskrieg vgl. Kern, 9-85; Eph‘al; zur assyrischen und babylonischen Massendeportationspraxis vgl. Oded 1979 und 2000).
Wird dieser Hintergrund „beim Wort genommen“, wird das Ezechielbuch noch einmal neu lesbar: Als literarische Auseinandersetzung mit Kriegsgewalt, die Menschen tatsächlich erlitten haben, als theologische Überlebens- oder Trauma-Literatur (vgl. Markl, → Trauma
Trauma und Literatur befinden sich jedoch in einem paradoxen Spannungsverhältnis zueinander: Auf der einen Seite steht die ‚Unsäglichkeit‘ massiver Gewalterfahrungen, für deren Repräsentation es keine Worte gibt, auf der anderen die unbedingte Notwendigkeit, solche Erfahrungen sprachlich zu bezeugen – nicht zuletzt, um ihnen nicht das letzte Wort zu lassen. In den letzten Jahren haben sich vor allem Literatur- und Kulturwissenschaftler_innen zunehmend mit der Frage beschäftigt, wie und mittels welcher Erzählmotive und Erzählstrukturen sich Trauma in (literarischen) Erzählungen zur Darstellung bringen lässt. Die zentrale Dialektik des Traumas von Intrusion und Konstriktion, wie sie in der Psychotraumatologie beschrieben wird, prägt auch die Trauma-Literatur, die gekennzeichnet ist durch „bestimmte Strategien der Wiederholung und der Unsagbarkeit“ (Freißmann, 13). Das ‚Sich-immer-wieder-Aufdrängen‘ des traumatischen Geschehens kann durch repetitive Strukturen, das ‚Sich-vor-diesem-Geschehen-Schützen-Müssen‘ durch Leerstellen und Brüche an auffälligen Textorten zum Ausdruck gebracht werden.
Es ist deshalb zu erwägen, ob nicht besonders ‚konfus‘ oder ‚chaotisch‘ anmutende Textpassagen wie beispielsweise Ez 7 ein ‚Überschwemmtwerden mit Traumatischem‘ ins Bild zu setzen versuchen (vgl. Poser, 296-311). Umgekehrt finden sich in Trauma-Literaturen auch verschiedene Strategien, ‚traumatisches Chaos‘ in bestimmte ‚Ordnungen‘ zu bannen (z.B. formelhafte Sprache, poetische Formulare wie → Akrosticha
Auch ist davon auszugehen, dass Versuche, das Unfassbare doch ‚irgendwie‘ fassbar zu machen, zu absurd anmutenden Erklärungsmustern führen, die als Opferbeschuldigung (blaming the victim), (Selbst-)Stigmatisierung, Projektion eigener unerträglicher Gefühle wie Zorn und Wut auf Andere (vgl. v.a. Lemos) oder Übernahme der Position der Täter_innen ins eigene Innere (Täterintrojektion) in Erscheinung treten können.
Trauma-Folgen lassen sich auch unter dem Stichwort ‚Desymbolisierung‘ zusammenfassen. Damit ist ein durch Ohnmacht, Erstarrung und Verschlossenheit gekennzeichneter mentaler Zustand gemeint, in dem Erfahrungen nicht zugänglich sind und nicht integriert werden können – Trauma-Opfer können die erlittenen Schrecken weder mit Bedeutung versehen, noch können sie sie kontrollieren. Der Begriff der De-Symbolisierung ist für eine trauma-informierte Exegese deshalb besonders geeignet, weil er sowohl auf das Erleben von Einzelnen und Gruppen als auch auf Texte bezogen werden kann. Ronald Granofsky zufolge ist der Prozess der literarischen Symbolisierung die wesentliche ‚Technik‘ der modernen trauma novel, für die die fiktionale Auseinandersetzung mit (möglichen) kollektiven Gewalt- und Katastrophenszenarien bestimmend ist (vgl. Granofsky, 7). Auch im Ezechielbuch lassen sich Prozesse der De-Symbolisierung, d.h. des ‚Bedeutungszusammenbruchs‘, und der Re-Symbolisierung, d.h. der ‚Bedeutungsgenerierung‘, sehr gut durch semantische Analysen einzelner Begriffe nachzeichnen (vgl. hierzu den Abschnitt zur רוּחַ rûaḥ in 5.3.).
5. Inhaltliche Erschließung
Die Gliederung des Ezechielbuchs erfolgt in der Regel nach dem sog. heilsgeschichtlichen Schema (vgl. Kaiser 1984, 260) in Gerichtsworte gegen das eigene Volk (Ez 1-24), Gerichtsworte gegen Fremdvölker (Ez 25-32) und Heilsworte für das eigene Volk (Ez 33-48). Mit diesem Gliederungsschema aber lassen sich die Besonderheiten des Buches, vor allem der Umstand, dass Ez 1-24 auch ‚Heilsworte‘, Ez 33-39 auch ‚Gerichtsworte‘ enthält, nicht hinreichend erfassen.
Da die zeitliche Anordnung der Erzählereignisse über das beschriebene ‚Datierungssystem‘ für das Ezechielbuch eine so herausragende Rolle spielt, erscheint es sinnvoll, sie als dessen Hauptgliederungsmerkmal zu betrachten. Vor diesem Hintergrund ist die Unterteilung in (Erzähl-)Ereignisse vor (Teil I: Ez 1,1-23,49
5.1. Buchteil I (Ez 1,1-23,49): Vor der Belagerung Jerusalems
Das Ezechielbuch beginnt mit einer Berufungserzählung (Ez 1,4-3,27
Der Text stellt den Leser_innen Ezechiel – ähnlich wie Davids Tochter → Tamar
Im Anschluss an die Berufungspassage fordert JHWH Ezechiel auf, mit und an seinem Körper verschiedene zeichenhafte Handlungen zu vollziehen (Ez 4,1-5,4
Bei Nancy Bowen heißt es hierzu (Bowen, 28): „Ezekielʼs reenactments of the trauma of the fall of Jerusalem [...] resemble the acts of victims who continue to live out the trauma through various forms of deliberate self-harm. The acts of starvation and eating repulsive food bear a striking resemblance to various eating disorders, especially anorexia [...]. The act of shaving with a sharp sword is indicative of a high risk behavior. Lying on the sides also reflects harmful behavior toward oneʼs body. Such self destructive behaviors can be understood as symbolic or literal reenactments of the initial abuse.“
Auch im weiteren Verlauf der Erzählung wird Ezechiel immer wieder mit (von ihm weiterzugebenden) göttlichen Botschaften konfrontiert, welche sich einerseits gegen die in Juda Verbliebenen bzw. das Land Juda und die Stadt Jerusalem richten (vgl. z.B. Ez 6-7
Die Schilderung der „eroberten“ Stadtfrau umfasst die konkret-körperlichen Erfahrungen weiblicher Kriegsopfer und ist zugleich auf die konkret-körperlichen Erfahrungen männlicher Kriegsopfer hin transparent – im kriegstraumatisierten Körper der Stadtfrau wird auch der nackte, erniedrigte, vergewaltigte Männerkörper sichtbar (vgl. Patton 2000; Smith-Christopher 2004). Auch Ezechiels Körper erscheint über weite Strecken des Buches als passiver, weiblich gemachter, feminisierter Körper.
In (christlichen und jüdischen) feministisch-theologischen Zusammenhängen sind Ez 16 und Ez 23 oftmals als „text[s] of terror“ (zu diesem Begriff vgl. Trible; zur Auseinandersetzung um Ez 16 und Ez 23 in der feministischen Exegese vgl. z.B. Jost / Seifert; Patton 2000, 222-227; Maier, 134-137) eingestuft worden, die zur Legitimation von Gewalt von Männern gegen Frauen und von häuslicher Gewalt missbraucht werden könnten. Wird der Text jedoch vor dem Hintergrund realer Kriegserfahrungen betrachtet, wird er noch einmal neu verstehbar: Es geht um sexualisierte und sexuelle Kriegsgewalt und Kriegsgräuel, von denen Menschen aller Geschlechter betroffen waren (vgl. auch Kelle 2008; Bowen, 83-93; Poser, 371-409).
Daneben wird mehrfach die Möglichkeit der (persönlichen) Umkehr bzw. des Neuanfangs nachkommender Generationen eingeschärft (vgl. Ez 3,16-21
5.2. Buchteil II (Ez 24,1-33,20): Während der Belagerung, Eroberung und Zerstörung Jerusalems
In dem Moment jedoch, in dem sich die Belagerung, Eroberung und Zerstörung mit Ez 24,1f
JHWH selbst nimmt an der Wende vom 24. zum 25. Kapitel einen plötzlichen Perspektivwechsel vor. Das Ende Jerusalems wird so nur indirekt erzählt – es wird, wieder und wieder, antizipiert und, im Nachhinein, als Faktum festgehalten (Ez 33,21f
Die „zwischengeschalteten“ Fremdvölkerworte lassen sich als im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen not-wendige und heilsame traumatische Rachephantasien verstehen (vgl. ausführlich Poser, 473-490; zu den Fremdvölkerworten vgl. auch Boadt; Geyer; Saur; Crouch). Gleichzeitig – und auch das hier vielfach vorkommende Genre der Totenklage deutet darauf hin – eröffnen sie den Hörenden und Lesenden die Möglichkeit, das eigene erlittene Unheil im Spiegel des unheilvollen Schicksals „der Anderen“ in einer Art metaphorischem Schutzraum nachzuvollziehen und zu betrauern (vgl. Gillmayr-Bucher, 98f; Ganzel 2010b, 209f).
5.3. Buchteil III (Ez 33,21-48,35): Nach der Zerstörung Jerusalems
Die in Kapitel 33 bis 39 bzw. 33 bis 48 zu findenden Texte haben einen äußerst disparaten Charakter. Zwar wird der Ton insgesamt etwas ‚friedlicher‘, die Kriegs- und Schreckensszenarien bleiben jedoch über weite Strecken zumindest ‚untergründig‘ präsent, und mehrfach noch bricht ‚Unheilvolles‘ ein. Zunächst werden in Ez 33,1-9
Viele Ezechielforscher_innen sehen in Ez 33,21f
Moshe Greenberg (1999) und Baruch J. Schwartz (2000) allerdings rechnen nicht mit einer Wende bzw. konstruktiven Entwicklungen – beide betonen, dass es weder auf Seiten des „Hauses Israel“ noch auf Seiten JHWHs eindeutige und „herzliche“ Umkehrbewegungen gebe. Greenberg zufolge geschieht die Wiederherstellung Israels einzig ad majorem Dei gloriam, was vor allem in Ez 36,16-32
Ruth Huppert sieht die entscheidende Wende in Ez 37 (Huppert, 299): „JHWH selbst ist nach Ez 37,1-10
In Ez 34 wird Ezechiel zu einer Rede gegen die Hirt_innen Israels, d.h. die politische Führung, aufgefordert. Ihnen wird vorgeworfen, ihre Regierungsverantwortung gegenüber der ihnen anvertrauten ‚Herde‘ nicht wahrgenommen bzw. missbraucht zu haben, wofür sie von JHWH bestraft werden sollen. JHWH kündigt zunächst an, das Hirtenamt selbst übernehmen zu wollen (Ez 34,11-22
Ez 35,1-36,15
Auch Ez 36,16-37,28
Im Ezechielbuch kommt das Motiv der רוּחַ rûaḥ („Luft in Bewegung“ bzw. „Wind“, „Atem“, „Geistkraft“; → Geist
In dieses (fast) heil- und friedvolle Bild bricht in Ez 38-39 mit → Gog von Magog
Wenn der Ton des Buches ab Ez 33,23
Das visionäre Geschehen, das in den Kapiteln 40 bis 48 erzählt wird (mit Gese [1957] häufig als „Verfassungsentwurf“ bezeichnet; zum Ganzen vgl. auch Rudnig; Konkel 2001), stellt sich als Gegenbild zu Ez 8-11 dar. Während der Prophet in Ez 8-11, seiner ersten „spirituellen Reise“ nach Jerusalem, die dort verübten kultischen und sozialen Vergehen, den Beginn des über die Stadt verhängten zerstörerischen Gerichts und den Auszug der göttlichen Gegenwart aus dem Jerusalemer Tempel „zu Gesicht bekam“, wird er in Ez 40 erneut ins Land Israel gebracht, auf einen „sehr hohen Berg“, von wo aus er, geführt von einer Botengestalt, die Vermessung eines neuen Tempels miterlebt, in den, als ewigen Wohnsitz, die Gegenwart JHWHs von Osten her einzieht (Ez 43,1-12
Erst nachdem der Angriff JHWHs auf sein Volk und nicht zuletzt die „Überreste“ des Krieges in jeglicher Form „aus der Welt geschafft sind“, wird es möglich, Zukunft als gelingend zu imaginieren. Dies geschieht in den Kap. 40-48, in denen der Tempel, die Stadt Jerusalem und das Land Israel insgesamt als Lebensräume neu entworfen werden. Rainer Albertz beschreibt den sog. Verfassungsentwurf als radikales Reformkonzept, mit dem die Fehler der Vergangenheit, die in die Katastrophe geführt haben, „ausgemerzt“ werden sollten (vgl. Albertz, 276-283). Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieses literarische Konzept auf Verwirklichung in einem Außen angelegt war, oder ob es sich nicht vielmehr um fiktionale Räume handelt, die im Prozess des Hörens bzw. Lesens mit dem Propheten betreten und erkundet werden können. Psychotraumatologisch betrachtet, lassen sich die in Ez 40-48 entworfenen Räume auch als Imagination eines „Sicheren Ortes“ verstehen – ein therapeutisches Konzept, das darauf zielt, dass von Traumatisierungen Betroffene Bilder eines Schutzraums entwickeln, der vor negativen Einflüssen sicher sowie für schädigende Personen unzugänglich ist und den sie imaginativ aufsuchen können, wenn sie erneut von Bildern und Empfindungen des Schreckens überfallen werden. Wichtig ist dabei, dass der „Sichere Ort“ kein realer ist – da ein realer Ort nie wirklich sicher sein kann (vgl. Reddemann, 40-60; Poser, 613-637). Bennett Simon zufolge spielt das „geometrische Design“ von Ez 40-48 in diesem Zusammenhang eine besondere, ordnende und beruhigende Rolle (vgl. Simon, 412). Hanna Liss hält fest, dass es einen Tempel wie den in 40-42 beschriebenen einzig im fiktionalen Text geben kann (Liss 2006, 143): „Only the ‚literary temple‘ guarantees that the place and its holiness will never be violated again.“ Darüber hinaus scheinen die in Ez 40-48 entworfenen Lebensräume Spuren des Traumatischen auch darin zu enthalten, dass sie irgendwie „unbehaust“ erscheinen – und dass sie so gestaltet sind, dass sie nicht nur JHWH vor den Menschen, sondern auch die Menschen vor JHWH zu schützen versuchen: Nachdem die Gegenwart JHWHs in den Tempel eingezogen ist, wird das Tor dauerhaft verschlossen (Ez 44,1-3
6. „Traumat(he)ologie“ des Ezechielbuchs
6.1. Gottesbilder im Ezechielbuch
Im Ezechielbuch ist immer wieder von der Schuld und vom „Versagen“ Israels von Anfang an die Rede; fast scheint es so, als lasse die Ezechielprophetie an Israel „kein gutes Haar“ (vgl. Ez 5,1-4
Nicht wenige Auslegungen des Ezechielbuchs aber orientieren sich an dieser zuletzt genannten Interpretationslinie. Basierend auf einer (bewussten oder unbewussten?) Identifikation mit Gott wird dessen strafendes Handeln an dem „sündenverfallenen“ „Haus Israel“ gerechtfertigt, für unausweichlich erklärt. Bei Peter J. Harland heißt es etwa: „The spilling of blood should have induced a sense of fear [...], but instead the people displayed an unabashed attitude which could only provoke God to intervene and punish. Indeed so evil were they that they may even have indulged cannibalism (5:10; cf. 36:13).“ (Harland 1999, 116). Dass solche Sicht- bzw. Darstellungsweisen nicht nur aus heutiger Sicht problematische Gottes- und Menschenbilder „festschreiben“, sondern auch antijudaistische Implikationen haben können, liegt m.E. auf der Hand.
Trauma-informierte Exegesen können hier neue Sichtweisen eröffnen, indem sie einbeziehen, dass traumatisierte Menschen und Gemeinschaften sehr häufig mit Schuldfragen ringen, dass sich ihnen Fragen wie „Habe ich, haben wir etwas getan, etwas beigetragen dazu, dass solches Unheil, solches Unglück mich, uns ereilt hat?“ oder „Hätte ich, hätten wir etwas tun können, um die Katastrophe zu verhindern?“ fast zwangsläufig aufdrängen. Dabei macht es jedoch einen großen Unterschied, ob solche Fragen von den Überlebenden selbst kommen oder ob sie ihnen von außen aufgezwungen werden – dann nämlich sind sie oftmals nichts anderes als Opferbeschuldigung (blaming the victim). Angesichts der Ermordung bzw. des Todes von Verwandten und Freund_innen fühlen sich Betroffene manchmal schuldig, weil sie überlebt haben, und einige nehmen, obwohl sie von außen betrachtet keine Schuld trifft, alle Schuld auf sich, bezichtigen sich selbst an Stelle des Täters, der Täter_innen. Solche traumatische Schuldübernahme hängt oft damit zusammen, „dass es für das psychische Gleichgewicht leichter erträglich sein kann, schuld gewesen statt völlig ohnmächtig gewesen zu sein“ (Kühner, 32).
Im Ezechielbuch spielt die Deutung der Kriegskatastrophe als „verdiente“ göttliche Strafe für die Sünden der Bevölkerung eine zentrale Rolle, wobei vor allem zwei Aspekte im Vordergrund stehen: (1) Die Katastrophe kommt, so das Ezechielbuch, weil es keinen anderen Weg gibt, entstandene Schuld „aus der Welt zu schaffen“, und (2) JHWH wird als Täter in Szene gesetzt. Die Exilskatastrophe wird allein auf JHWHs Initiative, nicht etwa auf die Babylonier zurückgeführt, die allenfalls als JHWHs Werkzeug fungieren. Die Zuweisung der Rolle des Täters an Gott entzieht die Schreckensereignisse menschlicher Willkür und weltlicher Kontingenz – vor allem aber hält sie die Idee der Präsenz und Wirkmächtigkeit JHWHs fest.
In seinem Buch Holy Resilience schreibt David M. Carr (Carr, 32f; vgl. OʼConnor 2014, 215-217): „Such self-blame offered Israel a way to see itself as empowered in an otherwise helpless situation. [...] ‘For many who suffer deeply, the only thing that frightens them more than the idea that God is punishing them is the idea that God is not in charge at all’. For some, such self-blame can be corrosive, undermining their faith. But for others the idea of a powerful God, even a judging God, can be reassuring. At least there is a chance to change one’s behavior and be saved. Things can look quite different if the world is totally devoid of God. Then one is truly subject to its most powerful forces, even if they are brutally tyrannical [...].“
Letztendlich bildet die Israel zugeschriebene Schuld (bzw. die Schuld, die Israel sich selbst zuschreibt) nicht nur die Grundlage, um aus traumatischer Ohnmacht ins Handeln zurückzufinden, sondern eröffnet zugleich die Möglichkeit, dass Israels Gottheit die Katastrophe des Exils überlebt und dass sich die Beziehung zwischen ihr und ihrem Volk erneuern kann.
Doch der Preis dafür scheint hoch: ein gewaltvolles, vielleicht sogar sadistisches Gottesbild auf der einen, ein massives blaming the victim auf der anderen Seite. Neuere Studien zeigen jedoch, dass auch diejenigen biblischen Schriften, in denen eine Straf-Theodizee den dominanten Diskurs darstellt, wie etwa das Jeremia- und das Ezechielbuch, subtile Gegendiskurse enthalten, die dem dominierenden Erklärungsmodell immer wieder ins Wort fallen (vgl. z.B. OʼConnor 2011; Janzen). In diesem Sinne lässt das Ezechielbuch – auch wenn es sich nur um eine Stelle handelt – zumindest nicht unerwähnt, dass der kommende Krieg Gerechte und Ungerechte ohne Unterschied vernichten wird (Ez 21,6-10
Auch wird immer wieder das Bild einer höchst emotionalen Gottheit gezeichnet, die die Aufmerksamkeit der Menschen will und braucht, und die zutiefst verletzt und gebrochen ist, wenn diese menschliche Zuwendung ausbleibt. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in Ez 6,9
Folgt man der von Ruth Huppert gelegten Spur, so lässt sich darüber hinaus auch festhalten, dass JHWH sich im Laufe der Erzählung verändert, sich in neuen, vielfältigeren Rollen „inszeniert“ (etwa als Hirt_in [z.B. Ez 34,11-16
6.2. Menschenbilder im Ezechielbuch
Nicht wenige Ausleger_innen ‚unterstellen‘ der Ezechielerzählung eine ‚negative‘, pessimistische Anthropologie – die Menschen seien nach Darstellung des Buches von sich aus unfähig zum Tora-Gehorsam, zum Guten, ja, nicht einmal zur Umkehr. Michael Konkel schreibt: „[D]ie Texte [arbeiten sich] hintergründig am Problem der Freiheit des menschlichen Willens ab. Vom Guten im Menschen erwarten diese Texte nichts mehr. Israel ist von sich aus unfähig, den ersten Schritt zur Umkehr zu tun und die Gesetze JHWHs zu halten.“ (Konkel 2010, 235; vgl. Schwartz 2000, 45-52.60). Das Einzige, was Abhilfe schaffen könne, ist die in Ez 36,25-27
Margaret S. Odell sieht die Ich-Erzählfigur Ezechiel als Paradigma dafür, was das Ezechielbuch mit „Menschsein“, mit אָדָם âdâm-Sein verbindet, und hält fest (Odell 2000, 215-217; anders Strine 2014b): „As בן־אדם, Ezekiel does not assume an exalted position above the exiles; rather, he models for them what it means to be אדם. [...] In Ezekiel [...] individual responsibility is required, even demanded (Ezek 18; 36; 40-48). [...] He is the one whose mouth is opened (Ezek 24:25-27; 29:17-21; 33:22); and he is the one through whom Godʼs spirit moves to bring the exiles back to life (Ezek 37). Far from diminshing human activity, this dimension of Ezekielʼs involvement suggests that divine activity must be incarnate.“ In Ez 37,1-14
6.3. Ethik im Schatten des Traumas
Immer wieder hat man, mit Verweis v.a. auf Ez 3,16-21
In seiner Ethik des Alten Testaments aus dem Jahr 2017 hat zuletzt Rainer Kessler die ethisch relevanten Aussagen des Ezechielbuchs analysiert (vgl. Kessler 2017, 397-414; zur Ethik des Ezechielbuchs vgl. auch Joyce 1989; Matties; Mein; Konkel 2015), wobei er davon ausgeht, dass dieses erzählend auf die traumatische Katastrophe von 587/86 v. Chr. und die mit ihr in Zusammenhang stehenden Ereignisse zurückblickt. Deshalb enthalte „das Buch ‚weniger [...] eine Sozialkritik, die vorfindliche Verhältnisse kritisiert, sondern vermehrt geschichtliche Rückblicke in verschiedenster Form, die theologisch die Frage nach der Schuld Israels und des einzelnen reflektieren‘“, wobei es „nicht um Einzelvorfälle, sondern um strukturelle Probleme“ geht (Kessler 2017, 398, mit Bezug auf Kessler 1992, 96). Die Kritik richtet sich vor allem gegen die „Machenschaften“ der politisch, religiös und wirtschaftlich Machthabenden, die Jerusalemer „Eliten“ (vgl. Ez 22,1-16.23-31
Es gebe allerdings ein – JHWH herausforderndes – Gerechtigkeitsproblem, denn „[i]n der Katastrophe werden die Opfer der sozialen Ungerechtigkeit erneut zu Opfern, diesmal des göttlichen Strafhandelns“. Diesem Problem begegne das Ezechielbuch überraschend mit dem „Gedanken der individuellen Verantwortlichkeit“, wie er insbesondere in Ez 18 entfaltet werde (Kessler 2017, 399). In Ez 18 werde, so fasst Kessler zusammen, sehr prinzipiell festgestellt, dass [j]eder Mensch und jede Generation [...] für die eigenen Taten verantwortlich [ist]“, und darin sei der Text „doppelt utopisch. Er ist zum einen [...] utopisch, indem er unterstellt, dass das Trauma, das die eigene Verantwortungsfähigkeit beschränkt, überwunden ist. Er ist aber auch in dem Sinn utopisch, als die Erfahrung lehrt, dass es eben auch unschuldiges Leiden gibt. [...] Dass dieser Aspekt in Ez 18 (nicht aber im Buch insgesamt) völlig ausgeblendet bleibt, ist wohl im Zusammenhang mit dem Thema der Traumabearbeitung zu sehen: Sie kann nur gelingen unter der Grundannahme einer göttlichen Gerechtigkeit. Indem das Trauma als gerechte Strafe gedeutet wird, kann es angenommen und überwunden werden. Deshalb muss die Geltung göttlicher Gerechtigkeit in Ez 18 in einer Weise herausgestellt werden, die bestimmte Aspekte der Realität ausblendet.“ (Kessler 2017, 411).
7. Innerersttestamentliche Bezüge
Das Ezechielbuch enthält zum einen Texte, „die der sog. ‚deuteronomisch-deuteronomistischen‘ Literatur (im Dtn, im dtr Geschichtswerk und in Jer) besonders nahestehen – wie 11,18-20; 20,27-29.41f; 28,25f; 34,23-24; 36,23-28.31f; 37,13b-14.20-23.24a; 38,17.“ Zum anderen lassen sich Passagen ausmachen, welche „intensive Verbindungen zur Priestergrundschrift, dem Heiligkeitsgesetz und priesterlichen Gesetzen haben, wie z.B. 16,59-63; die Sabbatnotizen aus Ez 20; 34,25-30; 37,24b-28 und Texte aus dem Verfassungsentwurf“ (Hossfeld, 454).
Dass es eine Vielzahl von Bezügen zwischen dem Ezechielbuch und anderen ersttestamentlichen Textbereichen gibt, ist offensichtlich. Die Frage ist jedoch, an welchen Texten die Bezugnahmen in besonderer Weise verdeutlicht werden können – und wie die jeweiligen „Abhängigkeitsrichtungen“ beurteilt werden. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den priesterlichen „Einschlag“ des Ezechielbuchs, der etwa Frank-Lothar Hossfeld bewogen hat, Ezechiel als den „Vater der priesterlichen Theologie“ zu charakterisieren (Hossfeld, 456). Haben die Verfasser_innen des Ezechielbuchs die Priesterschrift im Pentateuch gekannt, und wenn ja, welche Form bzw. welche Bestandteile? Oder haben die Autor_innen von P umgekehrt auf das Ezechielbuch oder eine Vorform dieses Buchs zurückgegriffen? Die Antworten auf diese Fragen sind wiederum sehr abhängig davon, wie man die Entstehung der in Frage stehenden Schriften beurteilt. Einige Forscher_innen kommen auch zu dem Schluss, dass die (über einen langen Zeitraum stattfindenden) Fortschreibungen im Ezechielbuch weniger im Sinne literarischer Abhängigkeit, sondern vielmehr als Schriftauslegung zu begreifen und zu beschreiben sind (vgl. v.a. Klein 2008 und 2010).
7.1. Ezechielbuch und priesterliche Texte
Nicht wenige Forschungsarbeiten, die auf der Näherbestimmung des Zusammenhangs zwischen dem Ezechielbuch und priesterlichen Texten zielen, nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Charakterisierung Ezechiels als Priester bzw. Priestersohn in Ez 1,2
→ Walther Zimmerli
Im Hinblick auf das → Heiligkeitsgesetz
M. Lyons beschreibt „Ezekiel’s Use of the Holiness Code“ wie folgt (Lyons, 29): „Ezekielʼs recontextualization of Hʼs locutions necessitated the transformation of their literary form, addressees, scope, temporal frame, and modality. By transforming earlier legal material into accusations and conditional covenant punishments into descriptions of actual devastation, Ezekiel could account for the exile by creating a causal connection between the peopleʼs behavior and the disaster they experienced. By selectively and paradigmatically using imagery from Hʼs description of covenant blessings, Ezekiel described a future involving both physical and spiritual restoration.“
Laut Tobias Häner, der sich in erster Linie auf die im Laufe der Forschungsgeschichte immer wieder festgestellten Bezüge zwischen dem Ezechielbuch und Lev 26 konzentriert, vermitteln diese, „dass es JHWHs beim Bundesschluss gesprochenes Wort ist, das in den vom Propheten vorausgesagten Ereignissen zur Wirkung gelangt“ (Häner 2014, 560). Die Parallelen dienten damit dazu, die Plausibilität der den Lesenden im Buch vorgelegten Geschichtsdeutung zu bestärken.
7.2. Ezechielbuch und „Deuteronomismus“
Auch bezogen auf eine deuteronomisch-deuteronomistische Prägung (→ Deuteronomismus
In ihrer Studie zu den in Ez 8 geschilderten „Gräueln“ am Jerusalemer Tempel kommt Tova Ganzel zu dem Schluss, dass es vor allem Motive und Vorstellungen aus dem → Deuteronomium
Viel ist in Bezug auf die Frage nach den Zusammenhängen zwischen dem Ezechielbuch und dtn-dtr geprägten ersttestamentlichen Texten immer wieder an Ez 20 festgemacht worden. Dabei spielt die Identifizierung der „nicht guten“, „nicht lebensförderlichen“ Bestimmungen, die JHWH seinem Volk laut eigener Aussage gab, um sie zur Erkenntnis und Anerkenntnis seiner selbst zu bewegen (Ez 20,25f
7.3. Ezechielbuch und Jeremiabuch
Dass das → Jeremiabuch
Dalit Rom-Shiloni und William R. Holladay gehen des Weiteren der Frage nach, ob Jeremia und Ezechiel einander persönlich gekannt haben. Rom-Shiloni begründet das „beredte Schweigen“, das zwischen den beiden Propheten bestehe, mit deren unterschiedlichen Wirkungsräumen, die einen je verschiedenen Umgang mit vorgegebenen Traditionen und letztlich gegensätzliche „Ideologien“ aus sich herausgesetzt hätten (Rom-Shiloni 2012, 229f): „Could the silence between the two prophets stem from a similar lack of confidence in each regarding the message of the other, since they expressed such different messages concerning those crucial issues of identity that were emerging in each of the separate and distant Judean communities during that dramatic era?“ Holladay rechnet damit, dass der jüngere Ezechiel den älteren Jeremia noch vor 598/97 v. Chr. in Jerusalem gehört habe. Dies habe u.a. dazu geführt, dass Ezechiel das in Jer 15,16
7.4. Ezechielbuch und Deuterojesaja
Möglichen Parallelen zwischen dem Ezechielbuch und dem zweiten Teil des Jesajabuchs (→ Deuterojesaja
Im Kontext traumatologischer Überlegungen besonders interessant ist der fast widersprüchlich zu nennende Umgang mit den Themen „Schuld“ und „Scham“. Es fällt auf, dass DtJes die „Schuld Jerusalems“ gleichsam von Vornherein als „abgetragen“ und „bezahlt“ erklärt (vgl. nur Jes 40,1f
7.5. Weitere Verbindungen
Obwohl sich sowohl das Ezechielbuch als auch das Buch der → Klagelieder
Vor dem Hintergrund, dass Gefühle von Wut, Schuld und Verachtung im Zusammenhang von traumatischen Reaktionen eine kaum zu überschätzende Rolle spielen, hat Tracy Maria Lemos die beiden Schriften zuletzt im Hinblick auf das Motiv des Zorns JHWHs gegenübergestellt. Obwohl dieses Motiv in beiden Büchern prominent vorkomme, werde in den Klageliedern Empathie mit den über weite Strecken selbst zu Wort kommenden traumatisierten Israelit_innen erzeugt, wohingegen diese Empathie im Ezechielbuch, das zum großen Teil aus den Reden einer rasenden, tobenden Gottheit besteht, „verweigert“ werde, und zwar dadurch, dass bestimmte mit dem Trauma zusammenhängende Gefühle nicht selbst gefühlt, sondern als Gefühle JHWHs in Szene gesetzt werden – Lemos nennt das „prophetic dissociation“ (vgl. Lemos, 116f).
Was die Zusammenhänge mit der älteren Schriftprophetie betrifft, attestiert Walther Zimmerli dem Ezechielbuch „eine starke traditionsgeschichtliche Verbundenheit“ (Zimmerli, 66*f). Die Rede vom „kommenden Ende“ in Ez 7,2-3
Tova Ganzel hat zuletzt herausgestellt, dass das Buch → Joel
Gemeinsamkeiten zeigten sich etwa in Bezug auf die Motive der „Geistausgießung“ (Ez 39,29
Im → Psalter
In beiden Texten spielt darüber hinaus die Auseinandersetzung mit der in die Ferne gerückten, verlorenen vormaligen Haupt- bzw. „Gottesstadt“ Jerusalem eine zentrale Rolle. Dabei gibt es jedoch einen großen Unterschied: Während Zion / Jerusalem den Psalmbeter_innen als positiv-freudige und not-wendige Erinnerung vor Augen gestellt wird, ist es dem Ezechielbuch zufolge nur mehr der Ort des politischen und kultischen „Versagens“ der verantwortlichen „Eliten“. Die neue Stadt in Ez 40-48 hat nicht nur einen gänzlich anderen Charakter, sie wird auch „umbenannt“ (Ez 48,35
Über das Motiv des neuen Herzens und der neuen Geistkraft ergeben sich außerdem Parallelen zwischen Ez 11,19f
8. Rezeptionsgeschichte
Vor allem die Schilderungen des göttlichen Thronwagens in Ez 1 und Ez 10 haben im Laufe der Auslegungsgeschichte sehr besondere Deutungen aus sich herausgesetzt. Die außergewöhnliche Bilderwelt dieser Kapitel hat schon die spätestens im 10. Jh. vorliegende jüdische Hekhalot-Literatur und mit ihr die (antike) jüdische Mystik und die Kabbala inspiriert. Die Schriften über die „Thronhallen“ oder himmlischen „Paläste“ gelten dabei als die wichtigsten Texte der Merkaba-Literatur, „die den mystischen Aufstieg zum Thronwagen (Merkaba) Gottes vorbereitet bzw. einfach schildert“ (Stemberger, 337).
Schon früh wird im Mischnatraktat Chagiga, in dem die Ezechielvision „Ma‘ase Merkawa“ genannt wird, vor deren öffentlicher Verlesung und Besprechung gewarnt (Chag 13a; vgl. Davidowicz, 15). Ähnlich berichtet auch Hieronymus (347-420), dass das Ezechielbuch in jüdischen Kontexten erst ab dem 30. Lebensjahr zur Lektüre freigegeben war (vgl. Schmid, 371).
Dass dessen Inhalte als „gefährlich“ oder jedenfalls als „Spekulationen befördernd“ beargwöhnt wurden, korrespondiert mit Diskussionen um die Aufnahme des Buches in den Kanon der Hebräischen Bibel, welche wohl auch durch die Widersprüche zwischen der Tempelvision in Ez 40-48 und bestimmten Vorstellungen im Pentateuch (v.a. Ex 25-40) befeuert wurden (vgl. Schmid, 371). Auch die Darstellung Jerusalems als „hurerische Stadtfrau JHWHs“ könnte dabei eine Rolle gespielt haben, macht doch ein jüdischer Talmud-Traktat (Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 44b) deutlich, dass die metaphorischen Biographien in Ez 16 und 23 auch als Beleidigung der Heiligen Stadt betrachtet werden konnten: „Herr der Welt“, heißt es dort unter Bezugnahme auf die in Frage stehenden Texte, „würdest du, wenn Abraham und Sara kommen und vor dir stehen würden, ihnen dies sagen und sie beschämen!?“ (zitiert nach Goldschmidt, 637; zu Ez 16 in rabbinischer Literatur vgl. Bodendorfer). Auch darüber hinaus fürchtete man auf Seiten des Judentums vermutlich die antijüdische Verwertung der harten ezechielischen Anklagen an die Adresse Israels (vgl. Hossfeld, 457; Rom-Shiloni 2011).
Auf Irenäus von Lyon (gest. 202) und Hieronymus geht schließlich die Deutung der vier Gesichter des Thronwagens aus Ez 1,10
Eine gewisse Berühmtheit hat die „Thronwagendeutung“ Erich von Dänikens (geb. 1935), dem bedeutendsten Vertreter des pseudowissenschaftlichen Zweiges der Prä-Astronautik, erlangt. Er interpretierte die Vision in Ez 1 als Beschreibung der Landung eines Raumschiffes bzw. eines UFOs. Der NASA-Ingenieur Joseph Blumrich (1913-2002), selbst am Bau von Raketen beteiligt, hatte von Däniken eigentlich widerlegen wollen; in seinem Buch „The Spaceships of Ezekiel“ (1974), dem er eine Reihe von technischen Zeichnungen beigab, bestätigte und verfeinerte er sie jedoch letzten Endes (vgl. auch Beier und zum Ganzen Allison).
Von den in den Höhlen von Qumran gefundenen nicht-biblischen Schriften weisen nicht wenige Bezüge zum Ezechielbuch auf; die meisten Anspielungen finden sich in der „Damaskusschrift“ (CD), in den „Sabbatopferliedern“ (1QHa) und in der Tempelrolle (11Q19), welche sich vor allem auf Material aus Ez 40-48 stützt. In der Vielzahl der Bezugnahmen wie auch in der Art und Weise, wie die Ezechieltexte aufgenommen werden, zeigt sich eine umfassende Wertschätzung der Ezechielprophetie (vgl. Manning, 22-77).
Im Neuen Testament wird Ezechiel namentlich nicht erwähnt; auch die Anzahl direkter Zitate bleibt mit insgesamt fünf bis sechs Stellen (Ez 5,11
Ausgehend von 1Clem 17,1, der einzigen Erwähnung des Namens Ezechiel bis zur Mitte des 2. Jh.s, hat zuletzt Martin Karrer die verschiedenen Aufnahmen und Anspielungen systematisiert und bestimmte Tendenzen der „Ezechielmemoria“ im frühen Christentum plausibel gemacht. Dabei beziehen sich die „Schriftreferenzen des ersten Christentums [...] in der Regel auf die griechische Ezechielüberlieferung“. Die griechische Diaspora gewahre in Ezechiel „einen herausragenden Zeugen Gottes, der unter den Völkern auftritt und die Umkehr verkündet, damit Menschen aus den Völkern zu Gottes Volk werden“ (Karrer, 290).
Das Ezechielbuch als Ganzes werde nur in der Johannesoffenbarung aufgenommen (zu den Details vgl. Karrer, 285-290; Kowalski) – der Seher verstehe „seine Prophetie – eine Verkündigung an Menschen der Völker – mit der des Ezechielbuchs verschwistert“ (Karrer, 291; vgl. auch Bøe; Kowalski, 473-501).
Eine auf das Ezechielbuch bezogene christologische Interpretationslinie lässt sich beginnend mit Apk 4-5 und Joh 10,1-18
Die Einhauchung oder Eingabe der Geistkraft in die noch leblos daliegenden Körper geschieht dabei durch vier schmetterlingsartige (geflügelte) „weibliche“ Wesen, sog. Psychen, welche die רוּחַ rûaḥ durch Berührung übertragen (zu weiteren Details vgl. C.H. Kraeling, 178-202; Bendemann; Bradshaw). Der rechte Teil der „Bildergeschichte“ könnte auch auf die Legende vom gewaltsamen Tod Ezechiels durch Enthauptung mit dem Schwert anspielen – eine auf Seiten des frühen Christentums nur zögerlich rezipierte, im zeitgenössischen Judentum aber verbreitete Tradition, die die Ermordung der drei „großen“ Propheten Jesaja (durch „Zersägung“), Jeremia (durch Steinigung) und Ezechiel (durch Enthauptung) nebeneinanderstellte (vgl. Bendemann, 29-32; Karrer, 269-271).
Insgesamt ist festzustellen, dass es in der bildenden Kunst, vor allem in der Malerei, eine große (und vielfältige) Fülle an „Umsetzungen“ von Ez 37,1-14
Die von Benno Elkan (1877-1960) geschaffene Menora (1956), ein aus 31 plastischen Reliefs aufgebautes Bronzemonument eines siebenarmigen Leuchters, der seit 1966 vor der Knesset in Jerusalem steht, stellt die in Ez 37,1-14
Dem jüdischen Dichter und Dramatiker Jitzchak Katzenelson (1886-1944), der im Mai 1944 in Auschwitz ermordet wurde, ist Ezechiel nicht zum Hoffnungsträger geworden.
Im Konzentrationslager Vittel schrieb Katzenelson Dos lid funm ojsgehargetn jidischen folk („Das Lied vom ausgerotteten jüdischen Volk“), das aus 15 Gesängen bzw. 225 vierzeiligen Strophen besteht, und sorgte dafür, dass es noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs erscheinen konnte. Wolf Biermann übertrug Katzenelsons Dichtung 1994 aus dem Jiddischen ins Hochdeutsche. In Biermanns Übertragung heißt es im Zweiten Gesang: „Hesekiël, du Jid, hast angegafft im Tal von Babylon / Verdorrte Knochen unsres Volks. Mit deiner Prophetie / Hast du dich treudoof führen lassen von dem hohʼn / Gebieter. Doch heut stinken deine Worte mir wie böse Ironie / Von wegen neues Fleisch auf alte Knochen, die Verheißung trügt / Du weißt ja selber nicht, was wird, weißt weder Ja noch Nein / Was bleibt von deiner Auferstehungs-Prophetie. Sie lügt!“ (zitiert nach Ebach 1999, 69f). Unter Rückgriff auf die in Ez 37,1-14
Neben Ez 37,1-14
Beeindruckend ist auch der aus dem 12. Jh. stammende, die Ezechielprophetie christologisch vereinnahmende Ezechielzyklus in der Doppelkirche St. Maria und St. Clemens in Schwarzrheindorf bei Bonn (vgl. Königs; Odell 2011).
Die (modernen) literarischen Rezeptionen des Ezechielbuchs greifen häufig das Motiv vom steinernen Herzen, das durch ein „einiges“, „neues“, „fleischernes“ ersetzt werden soll (Ez 11,19
Auch das Gedicht Tröstung der jüdischen Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006), das von der liebevollen Behandlung und heilsamen Pflege eines „blassen[n] beschädigte[n] Herzens“ spricht, das, nachdem „die Tränenkrusten weggeschwemmt sind“ wieder „eingepflanzt [wird]“, so dass „das Korn totes Glück [...] Wurzel [schlägt] und keimt“ (Domin 2010, 220f), kann als Verweis auf das entsprechende Motiv im Ezechielbuch gelesen werden.
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