Deutsche Bibelgesellschaft

Bibelauslegung, christliche

(erstellt: Mai 2007)

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1. Biblische Hermeneutik - die Lehre vom Verstehen der Bibel

Die Auslegung der Bibel als heilige Schrift ist von zentraler Bedeutung für das Christentum. So spricht Ebeling von der Geschichte der Kirche als Geschichte der Bibelauslegung (Ebeling, 1966). Die Frage, wie wir die Bibel auslegen, nimmt eine Schlüsselstellung innerhalb der christlichen Theologie ein. Die Erörterung der Frage nach diesem „wie“ der Auslegung ist Gegenstand der Hermeneutik. Als „Methodik der Geisteswissenschaften“ (Betti, 1972) untersucht die Hermeneutik (< griech. hermeneuein „erklären / deuten / interpretieren“) die Möglichkeiten und Bedingungen des Verstehens. Der Begriff „Hermeneutik“ verweist auf den griechischen Götterboten Hermes, der sowohl Überbringer göttlicher Botschaften, als auch Übersetzer dieser Botschaften war. Der Deuteengel im Alten Testament, z.B. in den Nachtgesichten des Sacharja (Sach 1-6), übernimmt eine analoge Funktion.

Da jedes Verstehen die Differenz von Eigenem und Anderem voraussetzt, ist jeder Versuch, eine Sache zu verstehen, abhängig von der Wechselwirkung zwischen dem Ausleger und dem auszulegenden Gegenstand. Im Umgang mit Texten bildet Hermeneutik folglich den Rahmen, innerhalb dessen die Interaktion zwischen Auslegern und Text analysiert und begründet wird. Biblische Hermeneutik ist die Theorie der Bibelauslegung.

In Bezug auf das Alte Testament muss zwischen der Hermeneutik im Alten Testament und der Hermeneutik des Alten Testaments unterschieden werden. Während die Hermeneutik im Alten Testament auf den Bereich der innerbiblischen Auslegung verweist, geht die Hermeneutik des Alten Testaments auf eine Vorentscheidung zurück, die eine spezifische Kanongestalt in Abgrenzung zu anderen möglichen Kanongestalten ausgewählt hat. Drei wichtige → Kanongestalten sind zu unterscheiden: Der masoretische Text, die → Septuaginta (die in Umfang und Anordnung der Bücher vom masoretischen Text abweicht) und der Luthertext, der den Umfang des masoretischen Textes mit der Anordnung der Septuaginta verbindet. Da Umfang und Anordnung der Bücher auf das Verstehen der einzelnen Texte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben, ist zwischen einer jüdischen, einer katholischen und einer evangelischen Hermeneutik zu differenzieren, auch wenn der Schriftbestand in allen drei Fällen größtenteils gleich ist. Dies gilt auch, wenn die seit der Aufklärung vorherrschende profanwissenschaftliche Position eine auf spezifische Glaubensgruppen bezogene Hermeneutik in Frage stellt, da die Differenzierung zwischen diesen Positionen nicht primär von den Voraussetzungen der Auslegung, sondern von der unterschiedlichen Gestalt des jeweils Auszulegenden bestimmt wird.

Eine Grundkonstante in der Geschichte der Bibelauslegung ist die Beobachtung, dass jeder Text mehrere Bedeutungsebenen besitzt. Während z.B. Aristoteles (384-324 v. Chr.) das Verstehen gleichsetzt mit der Fähigkeit, wahre Aussagen über den Text selbst zu formulieren (s. Peri Hermeneias), also mit der logischen Beschreibung und Analyse des auszulegenden Objekts (veritas est adaequatio rei et intellectus), postuliert sein Lehrer Platon (432-347 v. Chr.), dass Verstehen darum bemüht ist, das eigentliche Sein, die eigentliche, hinter dem auszulegenden Objekt verborge Bedeutung aufzudecken (so z.B. im Höhlengleichnis im 7. Buch der Politeia, ca. 370 v. Chr.). Mit der Differenzierung zwischen der Bedeutung der Textoberfläche und dem verborgenen Sinn hinter dem Text werden bereits unterschiedliche Bedeutungsebenen angesprochen, die für die Bibelauslegung bestimmend geworden sind. Es ist daher sinnvoll, vom Sinn der biblischen Schrift grundsätzlich im Plural zu sprechen, da die Suche nach dem Schriftsinn sofort zu der Frage nach den unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Schrift führt.

2. Traditionelle Ansätze

2.1. Wörtliche und typologische Auslegung

Abraham 08 Biblia Pauperum

Der Literalsinn ist die wörtliche Bedeutung eines Textes, oft verstanden als textliche Vermittlung historischer Geschehnisse. Dieser Literalsinn wird durch historische und philologische Methoden eruiert. Die Ausweitung des Schriftsinnes über den Literalsinn hinaus beginnt bereits bei der typologischen Auslegung oder Typologie (< griech. typos „Urbild / Vorbild“), bei der eine Person oder ein Geschehen mit einer anderen Person, bzw. einem anderen Geschehen in Bezug gesetzt wird. Die so aufeinander bezogenen Personen bzw. Geschehen werden in ein Sinnkontinuum gesetzt, innerhalb dessen sie sich wechselseitig interpretieren. In der Bibelauslegung ist die Typologie eine wichtige Methode, Altes und Neues Testament zueinander in Bezug zu setzen; diese Bezugsetzung erfolgt zumeist unter christologischem Vorzeichen im Rahmen einer Überhöhungshermeneutik, die Geschehen und Personen des Neuen Testaments als Steigerung und Überbietung ihrer Entsprechungen im Alten Testament darstellt.

Beispielhaft sind die Reflexionszitate im Matthäusevangelium (z.B. Mt 2,15), sowie die Adam-Christus Typologie des Paulus (Röm 5,14). Wichtige Texte für typologische Verbindungen sind die Aqedah (die Bindung → Isaaks, Gen 22), die Erhöhung der Schlange durch Mose (Num 21,8f; Joh 3,14; griffig formuliert in: die Schlange an der Stange ist Christus am Kreuz) oder Jona im Bauch des Fisches (Jon 2,1). Vor allem in der christlichen Kunst wird das typologische Verstehen alttestamentlicher Texte durch die bildhafte Verbindung unterschiedlicher Motive allgegenwärtig.

2.2. Allegorische Auslegung

Während die antiochenische Schule (u.a. Diodor von Tarsus, gest. 394, Theodor von Mopsuestia, gest. 428, und Theodoret von Cyrus, gest. 458; → Theodoret von Cyrus) den Literalsinn als den eigentlichen Sinn der Schrift betonte und allenfalls klar definierte typologische Verbindungen zwischen Altem und Neuem Testament akzeptierte, wurde spätestens seit Origenes (185-254 n. Chr.; → Origenes) die allegorische Auslegung ein wesentlicher Bestandteil der frühkirchlichen Hermeneutik. Als Allegorie (< griech. allegoreō „etwas anders ausdrücken“) wird die Textform bezeichnet, die Aussagen beinhaltet, die als sensus plenior („tieferer Sinn“) über den Literalsinn hinausweisen. Verschiedene Texte im Alten Testament weisen in unterschiedlichem Umfang allegorische Züge auf, so etwa Josephs Träume in Gen 40-41, die Hirtenallegorie in Ez 34 oder die Nachtgesichte in Sach 1-6. Die Spannung zwischen Literalsinn und allegorischem Sinn ist bei einer Allegorie bereits im Auszulegenden selbst angelegt. Bei der Allegorese bzw. der allegorischen Interpretation hingegen sucht der Ausleger nach Bedeutungen die jenseits des Literalsinns liegen und diesem oftmals sogar widersprechen. Im hellenistischen Raum an den Epen Homers (8. Jh. v. Chr.) und der Theogonie Hesiods (7. Jh. v. Chr.) erprobt, wurde sie im jüdischen Kontext (Philo von Alexandrien, ca. 20 v. - 50 n. Chr.; → Philo) und im Kontext der frühen Kirche auch auf biblische Texte angewandt.

Allegorische Auslegung ist jedoch nicht nur ein Phänomen der post-kanonischen Rezeption. Die allegorische Interpretation ist auch im Kanon selbst zu finden. So deutet Paulus die beiden Frauen Abrahams, Hagar und Sara, als Bundesschluss der Knechtschaft und Bundesschluss der Freiheit (Gal 4,24-26).

Dem Vorwurf der interpretatorischen Willkür begegnet die Allegorese mit dem Verweis auf die Analogia fidei („Analogie des Glaubens“), dem Prinzip, dass die Allegorese nichts zutage fördere, was nicht an anderer Stelle wörtlich gesagt sei. Analog zu „Leib-Seele-Geist“ systematisierte Origenes die Erweiterung des Literalsinns in den „fleischlichen“, den „seelischen“ und den „geistlichen Sinn“ des Textes. Diese Sinnebenen stehen bei Origenes in einer hierarchischen Anordnung, wobei der geistliche Sinn der höchste, aber auch der am schwierigsten zu ermittelnde ist (Peri Archon IV 2.4, ca. 225-230 n. Chr.; Text Kirchenväter).

Durch Augustinus von Dänemark (13. Jh.) wurden die Sinnebenen zu einem vierfachen Schriftsinn (Quadriga) ausdifferenziert. Dieser vierfache Schriftsinn wurde in dem lateinischen Merksatz festgehalten: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quid speres anagogia“ („Der wörtliche Sinn lehrt, was geschehen ist, der allegorische Sinn lehrt, was man glauben soll, der moralische Sinn lehrt, was man tun soll, der anagogische Sinn lehrt, was man hoffen soll“). Die Spannungen, die sich im Diskurs über angemessene Bibelauslegung ergeben, sind oft begründet in der Frage, welche Sinnebene vorrangig ist. Dies schlägt sich bis in die Gegenwart nieder, wenn z.B. zwischen Exegese und Schriftauslegung dahingehend unterschieden wird, dass Exegese als das Anwenden philologischer und historischer Methoden zur Beschreibung der Schrift definiert wird, Schriftauslegung jedoch darüber hinaus den theologischen Anspruch aufnimmt, dass die Bibel Gottes Wort ist.

3. Autor - Text - Sache - Leser

Geben schon die oben erwähnten Bedeutungsebenen der Schrift Anlass, verschiedene Zugangsweisen und Ergebnisse der Bibelauslegung anzunehmen, so wird diese Vielfalt verstärkt, wenn das Verstehen eines Textes als Kommunikationsprozess gesehen wird, bei dem verschiedene Faktoren beteiligt sind: 1. Ein Autor, der aus einer bestimmten persönlichen und historischen Situation heraus etwas mit einer bestimmten Intention mitteilen will, 2. der Text als das Medium, in dem diese Kommunikation festgehalten und durch das die Kommunikation vermittelt wird, 3. die Sache, die der Autor kommuniziert, der Text festhält und der Leser in der Beschäftigung mit dem Text aufnimmt und 4. ein Leser, der sich mit diesem Text beschäftigt (Oeming, 1998). Je nachdem, welcher dieser Faktoren das Interesse der Ausleger weckt, wird der hermeneutische Zugang zum Text unterschiedlich ausfallen. Die vier Faktoren sind jedoch bei der Auseinandersetzung mit dem Text nicht gleichwertig. Da die Sache des Textes nur durch eine Beschäftigung mit dem Text ermittelt werden kann, ist der Text ein Primärfaktor, aus dem die Sache als Sekundärfaktor abgeleitet werden kann. Dasselbe gilt für Informationen über den Autor oder die ursprünglichen Leser biblischer Texte, die in Abwesenheit externer Informationen nur durch die Interpretation des Textes postuliert werden können. Somit ergibt sich ein hermeneutisches Modell, das die unterschiedlichen Ansätze zur Auslegung folgendermaßen darstellt (vgl. Abrams, 1953):

Auf die Primärinteraktion zwischen dem Ausleger und dem Text als Auszulegendem folgt eine sekundäre Entscheidung, mit welchem der Faktoren, die den Kommunikationsprozess des Lesens ausmachen, sich die jeweiligen Ausleger beschäftigen wollen. Die Geschichte der Bibelauslegung kann u.a. beschrieben werden als eine kontinuierliche Verschiebung dieser Sekundärentscheidung (Barton, 1996). Die historisch-kritische Exegese z.B. begann, als das Interesse der Interpreten sich von der theologischen Wahrheit hinter dem Text auf den Autor in seinem historischen Kontext verlagerte (Troeltsch, 1898). Sie fragte nicht mehr nach der göttlichen Wahrheit der Schrift, sondern nach dem, was der historische Autor intendierte. In den letzten 30 Jahren ist dieses Interesse am Autor und der Textgenese zunehmend durch andere, alternative Fragestellungen ergänzt worden. Ausgehend von dem oben skizzierten hermeneutischen Modell können die verschiedenen Interpretationsansätze anhand ihrer Fragestellungen bzw. Interessen am Text klassifiziert werden, also als Zugänge, die sich mit dem mit dem Autor selbst (→ historisch-kritische Bibelauslegung), dem Text selbst (4.), der Sache des Textes (5.) oder dem Leser (6.) beschäftigen.

4. Textzentrierte Methoden

4.1. Literaturwissenschaftliche Auslegung

Durch eine interdisziplinäre Überschneidung von allgemeiner Literaturwissenschaft und biblischer Exegese, die hauptsächlich im nordamerikanischen und israelischen Raum stattfand, wurden seit Mitte der 1970er Jahre v.a. biblische Erzählungen mit den methodischen Werkzeugen der Romanforschung (u.a. Booth, 1961) analysiert. Ausgehend vom Text als literarischem Kunstwerk wird die narrative Struktur des Textes in seiner Jetztgestalt beschrieben und ausgewertet. Diese Beschreibung mündet in der Formulierung einer Poetik biblischer Erzählungen (→ Erzählende Gattungen).

Solch eine literarische Analyse biblischer Erzählungen geht von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Erzählinhalt und Erzählgestalt aus. Eine Erörterung der Erzählgestalt (vielfach als close reading bezeichnet) verdeutlicht die Strategien, mit denen der Inhalt vermittelt wird. Diese Erörterung des Wie des Erzählens führt zu einem vertieften Verständnis des Was der Erzählung (Sternberg, 1985). Durch seinen spezifischen Umgang mit Zeit, Handlung, Figurenzeichnung und Sprache schafft der Erzähler ein kommunikatives Netz, das als intentio operis den Leser mit einer bestimmten Intention zu erreichen sucht.

Wo in der deutschsprachigen Exegese dieser sog. synchrone Zugang nicht automatisch als unwissenschaftlich abgetan wird, wird er vielfach als eine Spielart der Endtextanalyse angewendet, welche die oftmals kunstvollen Strukturen der Texte der poetischen Fähigkeit des Endredaktors zuschreibt. Die literarische Analyse findet sich häufig in einem direkten Konflikt mit der historisch-kritischen Exegese, v.a. in der Auswertung von Dubletten und Spannungen im Text. Eine sinnvolle Interaktion zwischen historisch-kritischer und literarischer Exegese ist nur dann möglich, wenn um die Bewertung dieser Textdetails in einem konstruktiven Dialog gerungen wird (Alonso-Schökel, 1985; Vette, 2005).

4.2. Kanonische Auslegung

In einem ähnlichen Spannungsverhältnis zur historisch-kritischen Exegese steht der canonical approach (kanonischer Zugang). Das hermeneutische Programm, das sich in den 1970er Jahren unter diesem Namen formierte (Childs, 1970; 1979), setzt sich mit dem Alten Testament nicht primär als historischem Text auseinander, sondern als Teil eines Kanons, der von einer bestimmten Glaubensgemeinschaft getragen wird. Die hermeneutische Leitfrage des canonical approach wendet sich gegen die Annahme, dass die historisch ursprüngliche Bedeutung eines Textes die Primärbedeutung ist. Stattdessen wird die Primärbedeutung eines Textes im Rahmen seines kanonischen Kontextes gesucht. Dann wird z.B. Psalm 8 nicht im Blick auf vermeintlich historische Gattungen untersucht, sondern in seiner intertextuellen Wechselwirkung mit Hiob 7,17-19, Hebr 2,5-9 oder auch Röm 5,7-8.

Da Bedeutung und Kanongestalt für den kanonischen Zugang eng zusammenhängen, muss er offen legen, warum eine spezifische Kanongestalt einer anderen bei der Textauslegung vorzuziehen ist. Außerdem wirft der kanonische Zugang die Frage auf, ob eine spezifische kanonische Auslegung nur für die Glaubensgemeinschaft Gültigkeit besitzt, die die jeweilige Kanongestalt ihr eigen nennt. Die Beziehung der einzelnen Kanongestalten zueinander und das Phänomen der Kanonvielfalt an sich wird von Vertretern des canonical approach unterschiedlich bewertet (Childs, 1979, Sanders, 1987).

Vor allem in der deutschsprachigen Rezeption des canonical approach (Rendtorff, 1999) wird kanonische Schriftauslegung oft als letzte Stufe der Redaktionskritik verstanden, wobei Redaktion in einem positiven Sinn als stetige Bedeutungszunahme und Bedeutungsvertiefung verstanden wird (→ historisch-kritische Bibelauslegung). Hierbei wird der Großkomposition von Texten verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt. Dagegen weigert sich Childs, von kanonischer Kritik in Kontinuität zu den methodischen Schritten der historisch-kritischen Exegese zu sprechen. Der kanonische Zugang von Childs geht vielmehr von einer größtmöglichen Kontinuität der Inspiration bei der Gestaltung des Kanons und seiner nachfolgenden Rezeption durch die Glaubensgemeinschaft aus.

Obwohl der kanonische Zugang zur übermäßigen Harmonisierung unterschiedlicher theologischer Aussagen neigt, ist sich zumindest Childs dieser Gefahr bewusst. Er ist kein Biblizist, der von einem einheitlichen Autor oder vielleicht Gott selbst als Endredaktor ausgeht. Vielmehr betont er, dass die kanonische Zusammenstellung der Texte, die von der Synagoge und der frühen Kirche festgelegt wurde, uns eine Interpretationsrichtlinie vorgibt: jeder der Texte in diesem Kanon ist innerhalb des Horizonts des ganzen Kanons zu lesen. Leider mangelt es bei kanonischer Auslegung oftmals an einer ausgearbeiteten Sprachphilosophie und methodischer Reflexion, die die angewandten und holistischen Lesarten der kanonischen Texte ausarbeitet und begründet.

5. Sachzentrierte Auslegung

5.1. Dogmatische Auslegung

Anders als die oben dargestellten Zugänge ist die dogmatische Exegese nicht an der literarischen Textgestalt oder am Text in seinem literarischen Kontext interessiert, sondern an dem, was der Text an Inhalt vermittelt. Dogmatik zielt auf die Anleitung zum Verstehen christlicher Glaubenslehre; sie ist somit die Darstellung des Gehalts christlicher Verkündigung (E. Herms, Art. Dogmatik, RGG 4. Aufl., 2, 899ff.). Die dogmatische Exegese dient dieser Darstellung, indem Bibelinterpretation Teil der Anleitung zur Glaubenslehre wird. Dies führt zur ersten Frage, die an eine dogmatische Exegese gestellt werden muss, nämlich ob die biblischen Texte den Inhalt der Lehre bestimmen oder ob dogmatische Postulate über das Verstehen einzelner biblischer Texte entscheiden.

Nach Karl Barth (1886-1968) ist die kirchliche Lehre stets in ihrer Übereinstimmung mit der im Kanon bezeugten Sache zu bedenken. Dogmatische Aussagen haben nur Autorität, wenn sich in ihnen das Wort Gottes durchsetzt. Ein Dogma ist daher anhand der Schrift grundsätzlich revidierbar: „Das Wort Gottes ist über dem Dogma wie der Himmel über der Erde ist.“ (Barth, Kirchliche Dogmatik 1/1, 282). Dies ist ein Idealbild. Die vielfältigen Ausprägungen der dogmatischen Exegese zeigen jedoch, dass das Prinzip sola scriptura nie alleinbestimmend für die Formierung von dogmatischen Aussagen war, nicht einmal im Kontext des Protestantismus. Allzuoft wurden die biblischen Texte zum Sammelbecken für die Illustration dogmatischer Prinzipien reduziert (dicta probantia).

Gegen die Kritik, dass die dogmatische Exegese die biblischen Texte einem textexternen dogmatischen System unterwirft, wendet sich z.B. G. Sauter (1992). Nach ihm hat dogmatische Exegese mit dem Kanon zu beginnen und muss sich in einer lectio continua der biblischen Texte entwickeln. Dogmatische Auseinandersetzungen müssen im Angesicht der Schrift stattfinden, nicht als Arsenal von Schriftzitaten, sondern als Referenzpunkt. In der gegenwärtigen Diskussion haben sich zwei Modelle dogmatischer Exegese behauptet:

1) Sowohl der unmittelbare historische und kanonische Kontext eines Textes als auch der Kontext der kirchlichen Interpretation sind maßgebend für die Interpretation eines Textes.

2) Ein Zentrum biblischer Theologie (z.B. Rechtfertigungslehre) wird zum hermeneutischen Fixpunkt, an dem sich die Interpretation aller biblischen Texte orientiert.

Eine Vernetzung von dogmatischen Interessen und Bibelauslegung muss sich der Frage nach der Vielheit und der Einheit biblischer Aussagen stellen. Wenn die in den biblischen Texten festgehaltenen theologischen Traditionen mit dem Bild eines Parlamentes beschrieben werden kann, dann hat die dogmatische Exegese die Aufgabe, die unterschiedlichen Stimmen innerhalb dieses Parlaments herauszuarbeiten und die Mehrheitsverhältnisse zu klären. Weiterhin muss sie bestrebt sein, die Zusammenfassung dieser Einsichten auch im Hinblick auf gegenwärtige Fragen und Anliegen auszuwerten.

5.2. Fundamentalistische Auslegung

Im Rahmen des Christentums leitet sich der Begriff des Fundamentalismus von einer Schriftenreihe ab, „The Fundamentals“, die von 1910-1915 in Los Angeles, CA. erschien. Das Anliegen dieser Schriftenreihe war es, die Bibel als von Gott inspirierte, irrtums- und widerspruchsfreie Tatsachenreportage zu verteidigen. Die fünf Säulen der fundamentalistischen Apologetik sind Verbalinspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel, die Göttlichkeit Jesu, seine jungfräuliche Empfängnis, sein Opfertod und seine Auferstehung und Parusie (Wiederkunft). Damit verbindet der fundamentalistische Biblizismus eine ausgeprägte Betonung des Literalsinns mit einem dezidierten Historismus. Hier werden Textbedeutung und historische Begebenheit gleichsetzt. Da eine fundamentalistische Grundhaltung davon ausgeht, dass alle biblischen Texte wortwörtliche Inspiration Gottes sind, liegt die Bedeutung dieser Texte in einer völlig irrtumsfreien Wiedergabe historischer Tatsachen. Für den fundamentalistischen Biblizismus hängt damit die Autorität der Schrift von dieser irrtumsfreien Wiedergabe ab.

Obwohl sie in Beschreibung und Wertung zu differenzieren sind, verbindet Pietismus, Evangelikalismus und Fundamentalismus der Kampf gegen liberale theologische Strömungen und eine grundsätzliche Ablehnung jeder Bibelkritik mit Ausnahme der Textkritik. Die biblizistische Apologetik richtet sich besonders gegen Erkenntnisse aus der vergleichenden Religionswissenschaft, dass die Religion Israels auch Einflüsse von „außen“ enthielt, gegen die neuere Urkundenhypothese, die den Pentateuch in die Quelle Jahwist, Elohist, Deuteronomium und Priesterschrift unterteilte (→ Pentateuchforschung), und gegen die Behauptung, dass auch die Religion Israels an einer allgemeinen Bewegung in Richtung → Monotheismus partizipierte (Hebert, 1957). Die Notwendigkeit der Hermeneutik im Umgang mit biblischen Texten wird vom Fundamentalismus geleugnet. Interpretation wird in einem negativen Kontext verstanden, da Gottes Kommunkation in der Bibel jedem Leser ohne Interpretation unmittelbar zugänglich sei. Beispielhaft für diese Haltung ist der „Internationale Rat für Biblische Irrtumslosigkeit“ (CBI) sowie die „Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, zur biblischen Hermeneutik und zur biblischen Anwendung“ (vgl. Schirrmacher, 1993).

Mit der Verquickung von Schriftautorität, Schriftbedeutung und Historismus ist der Fundamentalismus ein Kind der Moderne, das sich gegen einen „Werteverfall“ in der Moderne und Postmoderne richtet. Allen Übeln der Moderne und der Postmoderne wird ein unerschütterlicher Glaube entgegengesetzt, der in seinem Selbstverständnis auf einem sicheren historischen Fundament steht und der ohne hermeneutische Vermittlung von alten Texten auf die Gegenwart übertragen werden kann. Dabei ist der fundamentalistische Biblizismus nicht wissenschaftsfeindlich, im Gegenteil. Da die in den biblischen Texten wiedergegebenen faktischen „Tatsachen“ eine zentrale Bedeutung haben, zeigen viele Fundamentalisten eine Begeisterung für naturwissenschaftliche Argumentationsmuster, v.a. im Bereich des sog. Kreationismus.

Eine Bewertung des Fundamentalismus sollte jenseits aller Polemik differenziert ausfallen. Dies gebietet schon das Erstarken dieser Grundhaltung in allen Religionen. Trotz der vielfachen Dialogverweigerung auf Seiten vieler Fundamentalisten kann diese theologische und hermeneutische Strömung nicht ignoriert werden. Sie fordert die christliche Theologie heraus, kontinuierlich über die Frage der Schriftautorität und der Verbindung von Schriftautorität und historischer Wahrheit nachzudenken. Dabei ist immer der Versuchung zu widerstehen, für komplexe Probleme scheinbar einfache Lösungen anzubieten, die als Postulate unvermittelt den biblischen Texten zu entnehmen sind.

5.3. Existenziale Interpretation

Die in der daseinsanalytischen Philosophie Martin Heideggers (1889-1976) herausgearbeiteten Grundgegebenheiten des Menschseins (Sein und Zeit, 1927) wurden von Rudolf Bultmann übernommen, um die Bedeutung biblischer Texte in einer zeitgemäßen Sprache ausdrücken zu können (Bultmann, 1952). Die „Ausgelegtheit der Welt“, die „Diktatur des Man“, oder die „Uneigentlichkeit der Existenz“ waren nach Bultmann angemesse Kategorien, um die Existenz des Menschen in der Moderne als Existenz in der Sünde zu beschreiben. Diese uneigentliche Existenz diktiert ein Vorverständnis, nach dem der Mensch autonom und selbstbestimmt ist.

Die existenziale Interpretation wird von der Überzeugung getragen, dass sich in jedem biblischen Text Grundstrukturen menschlichen Daseins spiegeln. Die Interpretation eines Textes bemüht sich um ein Heraushorchen des Daseinsverständnisses des Textes, d.h. der Art und Weise, wie menschliche Existenz durch den Text verstanden, interpretiert und festgehalten wird. Die „eigentliche Existenz“ des Menschen nach biblischem Weltverständnis widerspricht dem Vorverständnis des modernen Menschen. Das Herausarbeiten dieser eigentlichen Existenz, das sog. Kerygma (Botschaft) der biblischen Texte, ist nach der existenzialen Interpretation Hauptaufgabe der Exegese. Damit wird Exegese nicht primär Sache der Wissenschaft, sondern des Glaubens, da das angemessene Daseinsverständnis im Glauben angenommen werden muss (Oeming, 1998). Nach Bultmann besteht das Kerygma der biblischen Texte darin, dass der Mensch zu einer annehmenden oder ablehnenden Entscheidung angesichts des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus aufgerufen ist.

Da dieses Kerygma selten direkt in den Texten postuliert ist, sondern zumeist in mythologischen Sprachbildern zum Ausdruck kommt, muss die Exegese durch Entmythologisierung den historischen Graben zwischen alten und modernen Sprachbildern überwinden, um das Kerygma deutlich hervortreten zu lassen. Durch die existenziale Interpretation werden daher Form (Mythos) und Sache (Kerygma) biblischer Texte unterschieden, um unnötige Verstehenshindernisse zu beseitigen.

Die existenziale Interpretation muss sich fragen lassen, inwiefern dieser Ansatz mit seiner stereotypen Leitdifferenz von „uneigentlicher“ und „eigentlicher“ Existenz die spannungsreiche Vielfalt biblischer Traditionen adäquat aufnehmen kann. Auch wurde die existenziale Interpretation mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würde zu einem Rückzug aus der Welt des politischen Handelns in eine selbstbezogene und unverbindliche Innerlichkeit führen (von der Osten-Sacken, 1978).

6. Leserzentrierte Methoden

6.1. Psychologische Auslegung

Die psychologische oder auch tiefenpsychologische Interpretation basiert auf Grundannahmen der Psychoanalyse von Sigmund Freud (1856-1939) und der Tiefenpsychologie von Carl G. Jung (1875-1961). Die Anwendung dieser Grundannahmen auf biblische Texte ist so alt wie die Psychoanalyse selbst (s. Freud, Totem und Tabu, 1912, und Jung, Antwort auf Hiob, 1952). In Analogie zur Traumdeutung wurde bei der Deutung biblischer Texte zwischen der erzählten Oberflächenhandlung (dem Objektalen) und der im Text verschlüsselten seelischen Problematik (dem Subjektalen) unterschieden. Daneben fand Jungs Theorie von den im kollektiven Unbewussten vorhandenen Archetypen Eingang in die Deutung biblischer Texte. Diese Ur-Bilder unterteilen sich nach Jung in männliche („Animus“) und weibliche Anteile („Anima“). Bei seelischen Störungen werden bestimmte Anteile des Ich verdrängt (Jung spricht vom „Schatten“), die im Prozess einer Selbstfindung („Individuation“) wieder in das „Ich“ eingebunden werden müssen.

Die Annahme, dass biblische Texte diese Prozesse der Verdrängung beschreiben und Wege zur Individuation aufzeigen, wurde zunächst von einer großen Mehrzahl an Exegeten als „wilde Exegese“ abgelehnt (Scharfenberg, 1972). Nach frühen Arbeiten von Pfister (1944) verhalf vor allem der katholische Theologe Eugen Drewermann mit einer großen Anzahl von Publikationen (u.a. Drewermann, 1985) der tiefenpsychologischen Interpretation zu großer Popularität. Dennoch bleibt dieser Zugang umstritten, da er den Unterschied zwischen den biblischen Texten und anderer Literatur nivelliert und zudem Gefahr läuft, die Vielfalt der biblischen Aussagen auf ein „Schmuse- und Kuschelbuch“ (Oeming, 1998) zu reduzieren.

Anders als die tiefenpsychologische Interpretation, mit Hilfe derer der Leser in seiner Selbstfindung unterstützt wird, bemüht sich die historische Psychologie, die psychologischen Gegebenheiten des jeweiligen Autors für das Verständnis des Textes nutzbar zu machen. Ausgehend von Freuds Theorie, dass auch die Textproduktion ein Abwehrmechanismus gegen die Angst ist, kann die Textstruktur Rückschlüsse auf die psychologische Verfassung des Autors zulassen. Damit wird die historische Psychologie zu einer Ergänzung einer historisch-kritischen Exegese, die sich mit dem Autor und seiner Umwelt auseinandersetzt. Es ergibt sich von selbst, dass eine solche Analyse erst nach vollzogener Literarkritik sinnvoll angewendet werden kann, da ein Textkompositum keine Hinweise auf einen einzelnen Autor enthält. Die historische Psychologie wurde schwerpunktmäßig bei den alttestamentlichen Propheten (Jaspers, 1947) und bei Paulus angewendet (Theißen, 1983, Thilo, 1985).

6.2. Befreiungstheologische Auslegung

Der Begriff „Theologie der Befreiung“ wurde etwa zur gleichen Zeit um 1968 von dem katholischen Priester Gustavo Gutierrez (*1928 in Peru) und dem Presbyter Rubem Alves (*1933 in Brasilien) geprägt. Als ursprünglich lateinamerikanische Bewegung war die Befreiungstheologie darum bemüht, eine neue Form der Theologie zu betreiben. Ausgehend von der sozio-politischen Ungleichheit innerhalb der lateinamerikanischen Bevölkerung sowie der internationalen Ungleichheit auf globaler Ebene, und z.T. beeinflusst von Erneuerungsbestrebungen in der katholischen Soziallehre während des zweiten Vatikanums, war die Befreiungstheologie darum bemüht, eine Option für die Armen im theologischen Diskurs stark zu machen. Mit der sog. „Dependenztheorie“ (Prebisch, 1964) wurde Armut als die strukturelle Kehrseite einer globalen, kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung gesehen, die nur durch Solidarität der Armen untereinander und in Kooperation mit den Armen bekämpft werden konnte. Theologisch ausgedrückt, muss Christus als der Befreier den „Strukturen der Sünde“ entgegengesetzt werden.

Im Rahmen der Befreiungstheologie entwickelte sich die befreiungstheologische oder materialistische Exegese, die sich nicht durch die Entwicklung neuer Methoden zu den biblischen Texten auszeichnet, sondern durch die Bereitschaft des Exegeten, sich konkret auf Arme und Marginalisierte einzulassen und sich aktiv am Befreiungsprozess dieser Bevölkerungsgruppen zu beteiligen. Der materialistischen Exegese geht es nicht nur darum, die biblischen Texte zu verstehen, sondern anhand der biblischen Texte den soziopolitischen status quo zu verändern. So wird Exegese „von unten“ nicht nur eine Beschäftigung weißer und zumeist westlicher Eliten, sondern verlagert sich auf Bibellektüre in Basisgemeinden, die aus dieser Lektüre Kraft und Wegweisung zur politischen Veränderung bekommen. Die befreiungstheologische Exegese betont diejenigen biblischen Texte, in denen der Befreiungsgedanke am deutlichsten erkennbar wird. Dazu gehört die Exoduserzählung, der Eliazyklus, die Sozialkritik der Propheten (Reimer, 1992), die Armenfrömmigkeit im Psalter (Lohfink, 1986) und auch Jesu Umgang mit Randfiguren der Gesellschaft.

Die Rezeption der befreiungstheologischen Exegese in Europa war und ist kontrovers. Zentraler Kritikpunkt an diesem Zugang ist seine Grundlage in marxistisch-atheistischen Theoremen.

6.3. Feministische Auslegung

Wie die befreiungstheologische Exegese ist auch die feministische Exegese ein Zugang zur Auslegung der Bibel, der seine hermeneutischen Leitfragen aus der Situation einer bestimmten Gruppe bezieht. Auch hier wird die Rolle des Auslegers bzw. der Auslegerin im Umgang mit dem auszulegenden Text betont, sowie die Beeinflussung der exegetischen Ergebnisse durch diese Ausgangsvoraussetzungen (Hausmann, 1999). Es ist wichtig festzuhalten, dass es die feministische Exegese nicht gibt. Dennoch kann man allgemein formulieren, dass feministische Exegese ein kritischer hermeneutischer Zugang zur Bibel ist, mit dem Ziel der Emanzipation, der Befreiung und des empowering von Frauen. Allen feministischen Zugängen ist ein Kampf gegen Sexismus, Widerstand gegen Androzentrik und die Überwindung des historischen Patriarchates gemeinsam. Als Unterströmungen haben liberale, radikale, marxistische Gruppen sowie afroamerikanischer (womanism; Walker, 1983) und lateinamerikanischer Feminismus (Mujerista; Isasi-Díaz, 1996) ihre eigenen Forschungsschwerpunkte etabliert.

Den unterschiedlichen feministischen Grundansätzen entspricht auch eine weit gefächerte Einstellung zu den biblischen Texten. Die Frühphase der feministischen Exegese bemühte sich, weibliche Figuren und Autorinnen positiv zur Geltung zu bringen (oft als „her-story“ bezeichnet; Scott, 1988). Die nachfolgende Entwicklung zeigte aber auch eine völlige Ablehnung der Bibel, da die Offenbarung Gottes selbst als unkorrigierbar sexistisch gewertet wurde. Weniger radikale Positionen berücksichtigen die geschichtlichen Bedingungen der biblischen Texte, wobei zwischen der ursprünglichen Offenbarung Gottes und ihrer Vertextlichung durch Männer unterschieden wird. Schließlich wird auch die Auslegungsgeschichte kritisch evaluiert, da die Akzente der Rezeption zum Vorteil der Männer gesetzt werden.

Die feministische Exegese entwickelte keine eigenen exegetische Methoden, sondern adaptierte „klassische“ Methodenschritte durch spezifisch feministische Fragestellungen. So wird in der Textlinguistik besonderes Gewicht auf den Umgang mit weiblichen Sprachelementen gelegt, in der Erzählanalyse wird die Eigenständigkeit weiblicher Perspektiven herausgearbeitet, und traditionsgeschichtlich wird kritisch nach spezifisch weiblichen Traditionen gefragt, die möglicherweise unterdrückt wurden. Gegenwärtige Schwerpunkte der feministischen Exegese sind sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen (Müllner, 1997), Göttinnenanbetung im Alten Israel (Wacker, 2004), Weisheit (Schoer, 2000) und Schöpfung (Keel / Schoer, 2002).

Die feministische Exegese leistet einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Rolle der Exegeten und ihren Einfluss auf die jeweiligen exegetischen Ergebnisse. Zudem richtet sie wichtige und kritische Fragen an die Normativität biblischer Aussagen für die vielfältigen Rezeptionsgruppen der Gegenwart. Dennoch wird die feministische Exegese auch oft mit dem Vorwurf des Antijudaismus konfrontiert – eine Konsequenz aus der Ablehnung gerade alttestamentlicher Texte und der Welt, in der sie entstanden sind.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Encyclopedia of the Early Church, Cambridge 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.
  • Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Abrams, M., The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Tradition, New York 1953
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Abbildungsverzeichnis

  • Isaak und Christus unter der Last des Holzes (Biblia pauperum; Mittelalter).
  • Graphik: Autor – Text – Sache – Leser © Joachim Vette

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