Deutsche Bibelgesellschaft

Apostelgeschichte 16,23-34 | Kantate | 18.05.2025

Einführung in die Apostelgeschichte

In den letzten Jahrzehnten ist in der Forschung intensiv über das Genre und die Datierung der Apostelgeschichte sowie über deren Einheit mit dem Lukasevangelium diskutiert worden. Im Fokus haben auch Aspekte von im Text konstruierten Machtstrukturen, hierunter Geschlechterverhältnisse und insbesondere der heilsgeschichtliche Status Israels sowie die Darstellung der „Juden“ generell, gestanden. Wie alle neutestamentlichen Schriften ist auch die Apostelgeschichte durch verschiedenste historische, literartur- und sozialwissenschaftliche Zugänge erschlossen worden.

1. Verfasser

Die Apostelgeschichte wurde wie auch das Lukasevangelium, auf das Apg 1,1 („in meinem ersten Buch“) verweist, anonym abgefasst; beide Werke wurden aber in der altkirchlichen Tradition einem Paulusbegleiter mit Namen Lukas (vgl. Phlm 24; Kol 4,14; 2 Tim 4,11) zugeschrieben. Dies dürfte historisch unzutreffend sein, auch wenn etwa die Erzählstimme ab Apg 16 wiederholt im Zusammenhang mit Seereisen des Paulus unvermittelt von der ersten Person Singular in die erste Person Plural wechselt (die sog. Wir-Passagen). Der historische Autor, der vermutlich entweder Judenchrist war oder zumindest dem Judentum nahestand, ehe er zum Glauben an Christus kam, wirkt mit einigem zeitlichen Abstand zu den berichteten Ereignissen (s.u.) und vertritt dabei eine ausgeprägt maskulin-patriarchale Perspektive (z.B. tritt keine Frau als Verkündende auf, sondern die Hauptakteure der Erzählung sind alle männlich; die zahlreichen Reden werden in der Regel durch ἄνδρες ἀδελφοί, also „ihr Männer, Brüder“ eröffnet). Er ist gebildet, schreibt in gehobenem Koinegriechisch und ist mit der Septuaginta ebenso wie mit griechisch-römischer Literatur gut vertraut.

2. Adressaten

Beide Teile des lukanischen Doppelwerks sind einem gewissen Theophilus gewidmet (Lk 1,3; Apg 1,1), was übersetzt Gottliebender oder Gottesfreund (vgl. „Amadeus“ oder „Gottlieb“) bedeutet. Falls dies nicht (nur) ein symbolischer Name ist, mit dem sich alle Lesenden identifizieren könnten, sondern eine reale Person angesprochen ist, handelt es sich um einen Mann mit hohem gesellschaftlichem Ansehen (vgl. Lk 1,3: „hochverehrter“), der bereits zuvor christliche Unterweisung erhalten hat (vgl. Lk 1,4). Die Widmung könnte darauf hinweisen, dass Theophilus das Werk in Auftrag gegeben hat und vielleicht auch für dessen Verbreitung verantwortlich ist. Die weitere Adressatenschaft dürfte in einem ähnlichen sozialen Umfeld zu suchen sein, also wohl in städtischen, eher privilegierten Kreisen, worauf u.a. die wiederholte Erwähnung von Missionserfolgen des Paulus unter angesehenen Nichtjüdinnen und -juden in den urbanen Zentren des Mittelmeerraums hindeutet (vgl. z.B. Apg 13,50; 17,12).

3. Entstehungsort

Über den Entstehungsort der Apostelgeschichte lässt sich nur spekulieren, und diese Frage ist in der Forschung dementsprechend umstritten. In der altkirchlichen Tradition werden vor allem Rom, aber auch Achaia als mögliche Abfassungsorte genannt. Da Lukas ein besonderes Interesse am östlichen Mittelmeerraum aufweist, könnte auch Kleinasien in Betracht kommen, wohingegen eine Abfassung in Palästina als eher unwahrscheinlich anzusehen ist.

4. Wichtige Themen

Während die Apostelgeschichte lange Zeit um 80/90 u.Z. datiert wurde, ist in den letzten Jahrzehnten wieder intensiv diskutiert worden, ob es sich nicht um ein Dokument des zweiten Jahrhunderts handele, während vereinzelt auch Frühdatierungen vorgeschlagen worden sind. Die Spätdatierungen reichen dabei von etwa 100-130 bis hinauf zu 150 u.Z. Als Argumente gelten etwa die äußere Bezeugung (d.h. die relativ späte Rezeption in der altkirchlichen Literatur) und die gegenüber älteren Zeugnissen sozial- wie theologiegeschichtlich veränderten Verhältnisse, die die Apostelgeschichte bezeugt, z.B. in Bezug auf das Verhältnis zur umgebenden Gesellschaft generell und im Hinblick auf Ablösungsprozesse vom Judentum im Besonderen. Hier wird nicht zuletzt diskutiert, inwiefern die Apostelgeschichte als anti-jüdisch oder supersezessionistisch angesehen werden muss (vgl. Matthews). Die Datierung hat nicht nur Einfluss auf unser Bild von der Entwicklung des frühen Christentums, sondern u.a. auch auf die Bewertung der Frage, ob der Verfasser das Oeuvre des Flavius Josephus oder die Paulusbriefe gekannt haben könnte – unabhängig davon, ob diese letztlich auch benutzt worden sind. In Bezug auf die Paulusrezeption ist losgelöst von Datierungsfragen eine Tendenz auszumachen weg von der Frage, inwieweit die Aussagen der Apostelgeschichte exakt mit denen der Paulusbriefe übereinstimmen, hin zu der Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte (vgl. Marguerat).

5. Besonderheiten

In der Forschung herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass Lukasevangelium und Apostelgeschichte beide vom selben Verfasser geschrieben wurden, u.a. wegen der (im Neuen Testament singulären) Prologe und der Widmung an Theophilus, der Himmelfahrt Jesu als erzählerischem Bindeglied und sprachlich-stilistischer wie theologischer Übereinstimmungen. Da sie allerdings nie in direkter Abfolge überliefert sind, etwa in Handschriftensammlungen oder Kanonlisten, wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert, ob die beiden Teile des Doppelwerks in der Antike jemals als Einheit gelesen wurden und inwieweit dies Konsequenzen etwa für eine narrative Exegese haben sollte, die beide Texte – sowohl literarisch wie theologisch – als eng miteinander verwoben ansieht (z.B. Tannehill). Die Frage der Einheit spielt teilweise auch in die der Bestimmung des Genres hinein, insofern das Doppelwerk hierbei anders zu bestimmen ist als die Apostelgeschichte für sich genommen. Für letztere gehen die Vorschläge weit auseinander und reichen von Historiographie, über kollektive Biographie bis hin zu fiktiver Romanliteratur.

Literatur:

  • Helen Bond u.a., Art. Luke-Acts, Encyclopedia of the Bible and its Reception online, 2019.
  • Wilfried Eckey, Die Apostelgeschichte: Der Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom, Band 1-2, Göttingen 22011.
  • Daniel Marguerat, Die Apostelgeschichte, KEK Göttingen 2022.
  • Shelly Matthews, The Acts of The Apostles: An Introduction and Study Guide: Taming the Tongues of Fire, London 2017.
  • Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte, EKK V/1-2, Göttingen 32005/22013.
  • Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts. A Literary Interpretation, Band 1-2, Philadelphia 1986/1990.
  • Alfons Weiser, Die Apostelgeschichte 1-2, ÖTK V/1-2, Gütersloh 21989/1985.

A) Exegese kompakt: Apostelgeschichte 16,23-34

Die wahre Rettung ist mehr als das Einstürzen von Gefängnismauern

23πολλάς τε ἐπιθέντες αὐτοῖς πληγὰς ἔβαλον εἰς φυλακὴν παραγγείλαντες τῷ δεσμοφύλακι ἀσφαλῶς τηρεῖν αὐτούς. 24ὃς παραγγελίαν τοιαύτην λαβὼν ἔβαλεν αὐτοὺς εἰς τὴν ἐσωτέραν φυλακὴν καὶ τοὺς πόδας ἠσφαλίσατο αὐτῶν εἰς τὸ ξύλον. 25Κατὰ δὲ τὸ μεσονύκτιον Παῦλος καὶ Σιλᾶς προσευχόμενοι ὕμνουν τὸν θεόν, ἐπηκροῶντο δὲ αὐτῶν οἱ δέσμιοι. 26ἄφνω δὲ σεισμὸς ἐγένετο μέγας ὥστε σαλευθῆναι τὰ θεμέλια τοῦ δεσμωτηρίου· ἠνεῴχθησαν δὲ παραχρῆμα αἱ θύραι πᾶσαι καὶ πάντων τὰ δεσμὰ ἀνέθη. 27ἔξυπνος δὲ γενόμενος ὁ δεσμοφύλαξ καὶ ἰδὼν ἀνεῳγμένας τὰς θύρας τῆς φυλακῆς, σπασάμενος [τὴν] μάχαιραν ἤμελλεν ἑαυτὸν ἀναιρεῖν νομίζων ἐκπεφευγέναι τοὺς δεσμίους. 28ἐφώνησεν δὲ μεγάλῃ φωνῇ [ὁ] Παῦλος λέγων· μηδὲν πράξῃς σεαυτῷ κακόν, ἅπαντες γάρ ἐσμεν ἐνθάδε. 29αἰτήσας δὲ φῶτα εἰσεπήδησεν καὶ ἔντρομος γενόμενος προσέπεσεν τῷ Παύλῳ καὶ [τῷ] Σιλᾷ 30καὶ προαγαγὼν αὐτοὺς ἔξω ἔφη· κύριοι, τί με δεῖ ποιεῖν ἵνα σωθῶ; 31οἱ δὲ εἶπαν· πίστευσον ἐπὶ τὸν κύριον Ἰησοῦν καὶ σωθήσῃ σὺ καὶ ὁ οἶκός σου. 32καὶ ἐλάλησαν αὐτῷ τὸν λόγον τοῦ κυρίου σὺν πᾶσιν τοῖς ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ. 33καὶ παραλαβὼν αὐτοὺς ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ τῆς νυκτὸς ἔλουσεν ἀπὸ τῶν πληγῶν, καὶ ἐβαπτίσθη αὐτὸς καὶ οἱ αὐτοῦ πάντες παραχρῆμα, 34ἀναγαγών τε αὐτοὺς εἰς τὸν οἶκον παρέθηκεν τράπεζαν καὶ ἠγαλλιάσατο πανοικεὶ πεπιστευκὼς τῷ θεῷ.

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Übersetzung

(23) Nachdem sie (= die obersten Beamten; vgl. V.22) ihnen viele Schläge hatten versetzen lassen, warfen sie sie (= Paulus und Silas; vgl. V.19) ins Gefängnis und ordneten den Gefängnisaufseher an, sie sicher zu verwahren. (24) Dieser warf sie, als er diese Anordnung empfangen hatte, in das innere Gefängnis und spannte ihre Füße in den Holzblock. (25) Gegen Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und sangen Loblieder auf Gott, und die Gefangenen hörten ihnen zu. (26) Plötzlich aber ereignete sich ein starkes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses erschüttert wurden. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und die Fesseln von allen lösten sich. (27) Als aber der Gefängnisaufseher aus dem Schlaf aufwachte und die Türen des Gefängnisses geöffnet sah, zog er sein Schwert und wollte sich umbringen, weil er annahm, die Gefangenen seien entflohen. (28) Paulus aber rief mit lauter Stimme und sprach: „Tu dir kein Leid an, denn wir sind alle (noch) hier!“ (29) Da forderte er Fackeln, stürzte hinein und fiel zitternd vor Paulus und Silas nieder. (30) Dann führte er sie hinaus und sprach: „(Ihr) Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?“ (31) Sie aber sprachen: „Glaube an den Herrn Jesus, dann wirst du gerettet werden, du und dein Haushalt!“ (32) Und sie sagten ihm das Wort des Herrn mit allen in seinem Haushalt. (33) Und er nahm sie noch in jener Nachtstunde zu sich, wusch ihre Wunden, und er und alle die Seinen wurden sogleich getauft. (34) Dann führte er sie hinauf in das Haus, bereitete ihnen den Tisch und frohlockte mit seinem ganzen Haushalt, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.23 πολλάς τε ἐπιθέντες αὐτοῖς πληγὰς: Das implizite Subjekt des Satzes sind weiterhin die im vorausgehenden Vers genannten obersten Beamten (στρατηγοί), die kaum selbst die Strafe exekutiert, vielmehr den Befehl dazu erteilt haben.

V.24 εἰς τὸ ξύλον: „in das Holz“, meint wohl eine Vorrichtung, um die Gefangenen anzuketten = Holzblock

V.31f. οἶκός: bezeichnet nicht nur das Haus als Wohnort, sondern umfasst auch alle, die dort leben, einschließlich der Sklav:innen = Haushalt, Hausgemeinschaft

V.33: ἔλουσεν ἀπὸ τῶν πληγῶν = wörtlich „er wusch von den Schlägen“, womit wohl die Reinigung der Striemen oder Wunden aufgrund der Schläge gemeint ist

V.34: πανοικεί: zusammengesetzt aus πᾶς und οἶκος = mit dem ganzen Haushalt

2. Literarische Gestaltung und Kontext

Der Perikopentext ist eng mit dem Kontext verzahnt: Voraus geht die Erzählung von der Anklage der Missionare und ihrer Gefangennahme durch die Stadtrichter auf der Agora von Philippi (VV.19-22). Dieser Erzählfaden wird unmittelbar im Anschluss wieder aufgenommen, wenn die obersten Beamten die Freilassung anordnen und Paulus sie daraufhin des Fehlverhaltens gegenüber römischen Bürgern beschuldigt (VV.35-39). In unserer Perikope tritt das Schicksal der Missionare als Gefangene jedoch auffällig in den Hintergrund. Die Verwahrung – die im Kontrast zur Öffentlichkeit der vorangehenden Szene steht – bietet vielmehr den Anlass zu einem Befreiungswunder mit anschließender Bekehrung. In V.23a wird die in V.22b angeordnete körperliche Bestrafung beendet, und die Missionare werden stattdessen ins Gefängnis geworfen. Wie in V.23b befohlen, sorgt der Gefängnisaufseher für eine besonders sichere Verwahrung (V.24). Dadurch wird nicht nur das spätere „Türöffnungswunder“ vorbereitet, sondern auch die Aufmerksamkeit auf den Gefängniswärter als neuer Hauptfigur der Perikope (neben Paulus und Silas) gelenkt. Während die Missionare nachts (vgl. VV.25.30) im Beisein der anderen Insassen beten und singen, ereignet sich ein schweres Erdbeben, durch das sich auf wundersame Weise alle Türen und Fesseln lösen (V.26; vgl. 5,17-26; 12,1-11, wo aber die Rettung jeweils durch die Apostel erbeten und durch einen Engel ermöglicht wird). Dieses Ereignis setzt das weitere Geschehen in Gang, das sich als eine Bekehrungserzählung entfaltet (VV.27-34). Der anonyme Gefängnisaufseher will sich das Leben nehmen, weil er – realistischerweise – glaubt, dass die Gefangenen die Flucht ergriffen haben (V.27). Als Paulus ihm das Leben rettet, indem er ihn emphatisch vom Gegenteil überzeugt (V.28), erweist der Gefängniswärter den Missionaren gegenüber Ehrfurcht (V.29: Kniefall; V.30 Anrede als Herren) und fragt unvermittelt nach der Möglichkeit seiner Rettung (V.30). Dies wird zum Anlass für die anschließende Verkündigung, die den Glauben als Weg der Rettung aufzeigt und dabei zugleich einschärft, wer der eigentliche Herr an ihrer statt ist (V.31: „Herr Jesus“; V.32: „Wort des Herrn“). Es ist unklar, wo genau sich Bekehrung und Taufe ereignen, da in VV.30-34 mehrfach eine Ortsveränderung angedeutet wird (V.30: er führte sie hinaus; V.33: er nahm sie zu sich) und der Haushalt des Gefängnisaufsehers bereits in V.32 ins Geschehen eingeschlossen wird, obwohl die Missionare erst in V.34 in das Haus hinaufgeführt werden, wo alle gemeinsam ein Freudenmahl halten. Deutlich wird dadurch, dass die eigentliche Rettung im Gläubigwerden besteht, nicht in der Befreiung der Missionare durch das Naturwunder; dementsprechend wird im Anschluss wieder deren Gefangenschaft vorausgesetzt (VV.35-39).

3. Historische Einordnung

Der Schauplatz der Perikope ist das Gefängnis der römischen Kolonie (vgl. V.12) Philippi, das im 1. Jahrhundert u.Z. unter der Leitung von zwei städtischen Beamten stand, die auch die Befugnis zur Maßregelung und zum Strafvollzug besaßen (Omerzu 2017, 251). Ihnen unterstanden u.a. Gefängnisaufseher (carcerarii), die den Ruf besaßen, grausam und korrupt zu sein, und regelmäßig der Fluchtbeihilfe verdächtigt wurden. Dieses Vergehen konnte streng, teilweise sogar mit der Todesstrafe geahndet werden (vgl. Krause 1996, 313-315), woraus sich die Selbstmordabsicht des Gefängnisaufsehers in V.27 erklärt. Literarische wie archäologische Zeugnisse zeigen, dass die Darstellung des Gefängnisses in V.24f. in Grundzügen realistisch, wenngleich auch nicht an den eigentlichen Haftbedingungen interessiert ist. Gefangene wurden typisch in unterirdischen, dunklen und engen Räumen unter erbärmlichen Verhältnissen verwahrt und mit Ketten an der Wand fixiert (vgl. Krause 1996, 271-304). Zwar bezeugt Paulus selbst, dass er wiederholt inhaftiert war (vgl. 2 Kor 6,5; 11,23), erwähnt dabei aber nicht, wo sich dies ereignet hat; in 1 Thess 2,2 verweist er lediglich auf Leiden und Misshandlungen in Philippi. Ausgrabungen im Bereich der antiken Stadt haben eine Basilika aus dem 5. Jahrhundert freigelegt mit einer Zisterne, die der Überlieferung nach als Gefängnis des Paulus diente (Elliger 1998, 35f.). Diese Identifikation lässt sich nicht sichern, bietet aber Einblick in die Wirkungsgeschichte unseres Textes.

Religionsgeschichtliche Parallelen zum Befreiungswunder finden sich u.a. in den Bakchen des Euripides, in Lukians Toxaris und Philostrats Vita Apollonii sowie in verschiedenen hellenistisch-jüdischen Schriften wie dem Dritten Makkabäerbuch oder dem Liber Antiquitatum Biblicarum (vgl. Omerzu 2017, 252f.).

4. Schwerpunkte der Interpretation

Da der Schwerpunkt der Erzählung weniger auf dem Befreiungswunder als vielmehr auf der Bekehrung des Gefängnisaufsehers liegt, legt sich eine missionstheologische Deutung nahe. Das – an sich negativ konnotierte – Gefängnis wird zum Ort des Gotteslobes und der Verkündigung des Christusglaubens. Dies weist zugleich voraus auf die Haft des Paulus in Apg 21-28, aus der er zwar nicht befreit wird, die er aber gleichfalls als Anlass für die Mission nimmt, so dass sein Gefangenenstatus in den Hintergrund gerät. Die anonym verbleibende Gestalt des Gefängnisaufsehers entspricht nicht dem negativen Klischee seines Berufsstandes, sondern sie illustriert parallel zu der Gottesfürchtigen Lydia zu Beginn des Philippiaufenthalts des Paulus (16,9-15) den Erfolg von dessen Missionspredigt, selbst gegen Widerstände wie die Inhaftierung. Die räumliche Bewegung des Gefängniswärters aus den Tiefen des Kerkers über die Verkündigung und Taufe seines gesamten Haushalts hin zum Gemeinschaftsmahl im höher gelegenen Haus versinnbildlicht zugleich seinen Weg zum Glauben (vgl. Zmijewski 1994, 616).

5. Theologische Perspektivierung

Wie häufig in der Apostelgeschichte wird der Gang der Handlung auch in unserer Perikope durch göttliche Initiative vorangetrieben. Doch das Überraschende an der Erzählung ist, dass der zu erwartende „Lauf der Dinge“ gleich mehrfach durchbrochen wird: Das Erdbeben ermöglicht prinzipiell die Befreiung aus der Gefangenschaft, welche durch den Kontext als ungerechtfertigt und sogar gesetzeswidrig dargestellt wird. Doch geht es der Erzählung um Größeres als die Befreiung aus den dunklen Tiefen des Gefängnisses, da keiner der Gefangenen die Flucht ergreift. Der Gefängnisaufseher erfasst das Wundersame der Situation und lässt sich von seinem vermeintlich vorgegebenen Weg abbringen, indem er Paulus ohne Wenn und Aber vertraut, wodurch es zur wahren Rettung kommt, seiner Bekehrung.

Literatur

  • Elliger, Winfried, Mit Paulus unterwegs in Griechenland: Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth, Stuttgart: 1998.
  • Krause, Jens-Uwe, Gefängnisse im Römischen Reich, Stuttgart 1996.
  • Omerzu, Heike, Die Tür zur Rettung steht offen (Der Kerkermeister von Philippi): Apg 16,19-40, in: R. Zimmermann u.a., Die Wunder der Apostel: Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2., Gütersloher Verlagshaus, 2017, 247-256.
  • Zmijewski, Josef, Die Apostelgeschichte, übersetzt und erklärt, Regensburg 1994.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese ernüchtert. Diese Geschichte erzählt nicht zuerst von der Kraft des Singens oder von der Wirksamkeit (gesungenen) Gebets. Vielmehr ist der Text literarisch ganz funktional konstruiert: Es geht darin weniger um die Befreiung der beiden Missionare Paulus und Silas, sondern vielmehr um die Bekehrung des Gefängniswärters. Kein musikalischer oder religiöser Enthusiasmus, keine Freiheitssehnsucht, keine missionarische Heldengeschichte nach dem Motto: Gefängnismauern sind dick – Gottes Kraft ist stärker. Sondern nüchterne Erzählstruktur und ein (vorläufiges) „happy end“ am Familientisch des Gefängniswärters – ist das eine anregende Predigtgrundlage? Die Exegese deckt meine widersprüchlichen Erwartungen an den Text auf und hilft mir dabei, diese Widersprüche zu erkennen, zu benennen und auszuhalten.

2. Thematische Fokussierung

Das Gefängnis von Philippi wird zum Ort des Gotteslobes und der Verkündigung des Gottesglaubens. Mit diesem Ort des Geschehens werden gewohnte Erwartungen von vornherein durchbrochen. Gebetet und verkündigt wird gerade an einem Ort, an dem es nicht erwartet wird. Was geschieht dann? Der Ort selbst, das Gefängnis samt seinem innersten Kerker, gerät ins Wanken und stürzt ein, das geschieht ganz unvermittelt. Damit ist Freiheit für die Gefangenen möglich – aber diese Erwartung wird ebenfalls durchbrochen. Die Freiheit besteht hier nicht in der Flucht aus dem zusammengestürzten Gefängnis. Es kommt ein Mensch in den Blick, von dem die Gefangenen nichts Gutes zu erwarten hatten. Aber auch der Gefängniswärter wird die – negativen – Erwartungen, die man an ihn haben muss, nicht erfüllen.

Die Geschichte lebt von „gebrochenen“ Erwartungen und Klischees: Singen befreit – aber wozu? Gottes Kraft ist stärker als Gefängnismauern – aber die Freiheit entsteht nicht durch einstürzende Kerker. Die „Guten“ werden zwar befreit – aber sie laufen nicht weg. Der vermeintlich „Böse“ wird nicht bestraft, sondern erst recht befreit. Was überzeugt den Gefängniswärter schließlich zum Glauben? Nicht die eingestürzten Mauern, sondern dass Paulus und Silas nicht weggelaufen sind. Schließlich ist auch das Schlussbild so nicht zu erwarten: Die – ehemaligen – Gefangenen sitzen mit dem Gefängniswärter und seiner Familie am Tisch, an einem höher gelegenen Platz, nicht mehr im „tiefen Kerker“ - und feiern die Taufe dieses Hauses.

Diese Geschichte voller Widersprüche, sogar Paradoxien, zeigt auch, wie göttliches (Erdbeben und darüber hinaus) und menschliches Handeln (Gebet, Dableiben, Zuwendung, Gemeinschaft) zusammenwirken.

3. Theologische Aktualisierung

Im Gefängnis zu sein ist eine biografische Katastrophe. Schon in einem Rechtsstaat, umso mehr in einer Diktatur. Zeugnisse für Widerstand, Glaubensstärke und Aufrichtigkeit in Gefangenschaft gibt es viele (Dietrich Bonhoeffer, Paul Schneider). Wenn ihre Geschichten genauer betrachtet werden, taugen sie nicht zu Heldengeschichten. Sie erzählen aber auch von der Kraft des Glaubens und des Gebets.

Wo sind schon einmal Mauern wirklich eingestürzt und haben echte Freiheit ermöglicht? Können wir darauf hoffen, dass unsere Gebete, unser Singen solche Kräfte freisetzen? Oder dass sie Gott dazu bewegen, Mauern zum Einstürzen zu bringen? War das nicht im Herbst 1989 in der DDR so, als Kerzen und Lieder stärker waren als Willkür und Gewalt? Oder bedienen solche Deutungen politischer Ereignisse wieder nur fromme Klischees?

Auch wenn die Pointe der Erzählung in Apg 16,23-34 gerade nicht in der äußeren Befreiung aus der Gefangenschaft liegt, berührt sie doch Erfahrungen von Unfreiheit und Freiheit auch in weltlicher und politischer Hinsicht. Sie stellt aber eben auch die Frage, was wir mit der gewonnenen Freiheit anfangen, wie wir als Befreite menschlich und mitmenschlich, eben: christlich, leben. Dazu gehört, wie in dieser Geschichte über die Taufe des Gefängniswärters, Vorurteile zu überwinden, Klischees aufzudecken und festgelegte Erwartungen zu überwinden.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Oder singen?

Trost und Hoffnung wäre in diesem Gottesdienst am Sonntag Kantate dann stärker durch Lieder, Musik, gemeinsames Singen und Zuhören zu vermitteln. Möglich wäre es, die Unterbrechungen und Brechungen der Predigterzählung auch in der Form der Predigt zum Ausdruck zu bringen (thematische Abschnitte, die durch Liedstrophen/Musik unterbrochen werden).

5. Anregungen

Die Predigt könnte die biblische Geschichte nacherzählen im Sinne einer genaueren Betrachtung der einzelnen Personen und/oder Situationen. Ich würde sie dazu in Abschnitte, die sich an der Erzählung orientieren, gliedern und jeweils eine Liedstrophe (oder auch mehrere) dazu setzen, in der emotional und geistlich das Thema des Abschnittes aufgenommen und vertieft wird. Die ausgewählten Liedstrophen sind Beispiele, die Grundstruktur lässt auch andere Musikstile und Formen (Gospel, Chorstücke, Orgelimprovisationen usw.) zu.

Vorschlag für eine Gliederung der Predigt mit Liedern:

  1. 1.VV 23-24, Im innersten Gefängnis  - EG 299, 1 (Aus tiefer Not) oder 366, 1-3 (Wenn wir in höchsten Nöten sein)
  2. 2.V 25 Singen und beten im Gefängnis – EG 302, 1 (Du meine Seele singe)
  3. 3.V 26 Einstürzende Mauern – Befreiung – EG 369, 1 und 6 (Wer nur den lieben Gott lässt walten)
  4. 4.VV 27-29 Das Schlimmste erwarten – und „enttäuscht“ werden – EG 382 (Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr)
  5. 5.VV 30-32 Rettung – 355, 1 (Mir ist Erbarmung widerfahren)
  6. 6.VV 33-34 Zuwendung und Gemeinschaft – EG 432 (Gott gab uns Atem)

Autoren

  • Prof. Dr. Heike Omerzu (Einführung und Exegese)
  • Susanne Ehrhardt-Rein (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500116

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