Hebräer 4,14-16 | Invokavit | 09.03.2025
Einführung in den Hebräerbrief
"Werft euer Vertrauen nicht weg", - diese eindringliche Ermutigung aus Hebr 10,35 stand 2019 im Mittelpunkt des Dortmunder Kirchentags. Der Hebräerbrief
1. Verfasser
Den Verfasser (Vf.) des Hebräerbriefes identifizierte die Kirche über viele Jahrhunderte mit Paulus und begründete dies u.a. mit der Nennung (s)eines Mitarbeiters Timotheus
2. Adressaten
Die Adressierung „An die Hebräer“ ist eine vom Inhalt erschlossene Überschrift aus der Zeit der Sammlung urchristlicher Briefe. Die Adressaten sind dem Vf. persönlich bekannt (13,19). Die Gemeinde war in der Vergangenheit vorbildlich in der Nächstenliebe (6,10), sie erduldete einen schweren Leidenskampf, nahm den Raub ihrer Besitztümer hin und ertrug das Schicksal, dass sie zum „Schauspiel gemacht wurde“ (10,32-34). Die äußere Bedrängnis setzt den Gemeindegliedern zu. Sie sind verunsichert (13,9) und stehen in der Gefahr vom Glauben abzufallen (3,12f), schwerhörig (5,11), träge (6,12), müde und verbittert (12,12ff) zu werden, die Gottesdienste zu verlassen (10,25), ihre Zuversicht aufzugeben (10,35f), am Heil vorbeizutreiben (2,1) und von der himmlischen Ruhestatt Gottes ausgeschlossen zu werden (4,1). In diese Situation hinein schreibt der Vf. sein
3. »Wort tröstlicher Ermahnung« (13,22)
Diese Selbstbezeichnung steht in der antiken Synagoge
4. Abfassungszeit und Entstehungsort
Die Adressatengemeinde ist wohl in Rom beheimatet. Dafür sprechen die Grüße in 13,24 und die erste sicher datierbare Bezeugung des Hebr durch den in Rom entstandenen 1. Clemensbrief
5. Gliederung und wichtige Themen der exegetischen Interpretation
Einer Schlagzeile gleich stellt der Hebr in den Eingangsversen (1,1-4) das Wichtigste voran: Gott redet zu uns Menschen. An die Väter- und Müttergeneration des Volkes Israel erging Gottes Wort vorzeiten, vielfach und auf vielerlei Weise durch die Propheten. An die christliche Gemeinde erging es einmalig und abschließend im Sohn Gottes (1,2; 2,3). Mit diesen zwei Redeweisen Gottes sind zwei Ordnungen (διαθῆκαι) verbunden, in denen Gottes Heilsgeschichte und sein Verhältnis zu uns Menschen festgelegt ist. In drei Hauptteilen vergleicht der Hebr die Zeit Israels als Zeit der »ersten Ordnung« (πρώτη διαθήκη) mit der Zeit der christlichen Gemeinde als Zeit der »neuen Ordnung« (καινή διαθήκη). Der Vf. stellt Kundgabe, Dauer, Form, Mittlerschaft, Priestertum, Wirkungsweise und Zielsetzung der beiden Ordnungen gegenüber. Im Mittelpunkt steht die Haltung des »wandernden Gottesvolkes« gegenüber dem göttlichen Verheißungswort.
Der 1. Hauptteil (1,1-4,13
Im 2. Hauptteil (4,14-10,31
Im Zentrum des 3. Hauptteils (10,32-12,29
6. Theologische Eigenart
Die theologische Eigenart der Hebräerpredigt kennzeichnet vor allem seine für das Neue Testament einzigartige Hohepriesterlehre: Der Vf. verbindet das im Anschluss an Ps 2,7 formulierte Bekenntnis „Jesus ist der Sohn Gottes“ mit Ps 110,4b: „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“ (5,5-10; 7,3.20-22). Er knüpft dabei an atl. Kultussprache an und unterscheidet – wie das AT (Ex 25-27
Hervorzuheben ist ferner sein Glaubensverständnis. Martin Luthers Übersetzung der Glaubensdefinition in 11,1 ist berühmt: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Dies trifft Wesentliches, obwohl die neueren Auslegungen Luthers Übersetzung nicht mehr folgen: Glaube ist Feststehen bei Erhofftem, Überzeugtsein von der Realität der himmlischen Dinge, die man mit bloßen Augen nicht sieht. Glaube vertraut dem göttlichen Verheißungswort und gibt – auch in schweren Tagen – das Bekenntnis zu Jesus Christus nicht preis (3,12-14; 4,1-3; 10,22-25; 10,35-11,1
Literatur:
- Backhaus, Knut, Der Hebräerbrief (Regensburger Neues Testament), Regensburg 2009.
- Gräßer, Erich, An die Hebräer, Band 1-3 (EKK XVII 1-3) Zürich-Neukirchen, 1990-1997, Göttingen 2016.
- Long, Thomas G.: Hebrews (Interpretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching), Louisville/Kentucky 1997.
- Michel, Otto, Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen 71975.
- Rose, Christian, Der Hebräerbrief (Die Botschaft des Neuen Testaments); Neukirchen/Göttingen/Leiden 32023.
- Schunack, Gerd, Der Hebräerbrief (ZBK.NT 14), Zürich 2002.
A) Exegese kompakt: Hebräer 4,14-16
Gibt es einen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes?
Übersetzung
14Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, (nämlich) Jesus, den Sohn Gottes, so lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. 15Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitleiden könnte mit unseren Schwachheiten, sondern (einen solchen,) der ganz in der gleichen Weise versucht worden ist (, wie wir versucht werden), (dies jedoch) ohne Sünde. 16So lasst uns nun mit getroster Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen erlangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
a) Der Hebräer wählt plerophore Redeweise, um die Einzigartigkeit Jesu, des Sohnes Gottes, zu betonen: „Wir haben einen großen Hohenpriester« (ὁ ἀρχιερεύς μέγας). Ähnlich heißt es in 13,20 von Jesus: Er ist der »große Hirte der Schafe« (ὁ ποιμήν τῶν προβάτων ὁ μέγας).
b) Jesus kann „mitleiden mit unseren Schwachheiten“ (V.15). Jesu Sym-Pathie (συμπαθῆσαι) meint das konkrete Miterleiden der Schwachheiten, der die Gemeinde in der Bedrängnis ausgesetzt ist. Diese Schwachheiten meinen nicht alltägliche Verfehlungen, sondern die Gefahr des Abfalls und der Resignation. Jesus war selber mit »Schwachheit« behaftet, er kannte die Versuchung, dem Leiden auszuweichen, aber erlag ihr nicht. So vermag er mit den Unwissenden und Irrenden mitzuleiden (5,2.7f). Er kann ihnen in der Gefahr des Abfalls „rechtzeitige Hilfe“ erweisen (vgl. 2,18).
2. Literarische Gestaltung und Kontext
Die Perikopenverse bilden ein Scharnier zwischen dem ersten Hauptteil (1,1-4,13) und dem mit 4,14 beginnenden zweiten Hauptteil der Predigt (4,14-10,31). In den drei Versen nimmt der Prediger Gedanken des ersten Hauptteils auf und nennt zugleich zentrale Themen des zweiten. Vom Hohenpriester Jesus war schon mehrfach die Rede (2,17; 3,1–6). Der Verfasser bereitet nun vor, was er im Blick auf das Hohepriestertum Jesu ausführlich darstellen wird: Zunächst nennt er die Bedingungen für das irdische Hohepriestertum, denen Jesus gerecht wird (5,1–10). Anschließend beschreibt er Person (7,1–28) und Werk (8,1-10,19) des himmlischen Hohenpriesters Jesus.
3. Theologische Akzente der Perikopenverse
Die Hebräerpredigt geht über viele Kapitel der Grundfrage nach: Gibt es für das angefochtene wandernde Gottesvolk einen verlässlichen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes? Über viele Kapitel hinweg und mit immer neuen Worten wird der Prediger nicht müde, diese Frage zu beantworten: Ja, es gibt einen verlässlichen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes. Jesus, der Sohn Gottes und himmlische Hohepriester, hat die Himmel durchschritten und hat durch seine Selbsthingabe im himmlischen Allerheiligsten für die Glaubenden einen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes eröffnet.
Jesus, der Hohepriester, eröffnet durch seine Selbsthingabe im himmlischen Allerheiligsten für die große Schar der Söhne und Töchter (2,10) den Zugang zu Gott (3,7 – 4,11). Der Sohn Gottes und himmlische Hohepriester wurde wie wir Menschen versucht (2,18), ohne jedoch der Sünde zu erliegen. Er leidet mit uns Menschen mit (2,17). So kann er helfen und retten. Davon ist der Verfasser fest überzeugt und ermahnt deshalb hier und in zwei Abschnitten des zweiten Hauptteils (5,11–6,12; 10,19–31), mit fester Zuversicht am Bekenntnis zu Jesus Christus festzuhalten (3,6.14). Er hält dazu an, den Gottesdienst als Vorwegnahme der endzeitlichen Gottesgemeinschaft zu verstehen (10,25) und schon jetzt zum Thron der Gnade hinzuzutreten. Könnte das nicht unseren Gottesdiensten eine neue Tiefendimension geben? Was wir in jedem Gottesdienst und im Leben der Gemeinden miteinander feiern, ist Vorwegnahme himmlischer Gottesgemeinschaft. Ermutigend und tröstlich für die angefochtene und versuchte Gemeinde ist, dass wir nicht nur am Sonntag Invocavit es dem Psalmbeter gleichtun und auf Gottes Zusage vertrauen dürfen: „Wenn wir ihn anrufen, dann hört er uns“ (Ps 91,15)
Wie stellt sich der Verfasser das vor? Sein Weltbild und seine Gedankengänge lassen sich in einer Skizze zusammenfassen und veranschaulichen.
Gottes Schöpfungshandeln hat im Anbeginn gemeinsam zwei »Welten« (Äonen auch „All“ genannt: 1,2b; 2,8), die gegenwärtig-sichtbare Welt und die kommend-unsichtbare Welt, hervorgebracht (1,2b; in 11,3 übersetzt LÜ2017 singularisch: die Welt). Die irdisch-gegenwärtige Welt bezeichnet er als »irdisch-gegenwärtige Zeit« (9,9) oder als »das Bewegliche« (12,27). Sie umfasst die Erde (1,10; 8,4; 11,13.38; 12,25.26) und die Himmel (1,10; 11,12; 12,26) der vergänglichen Schöpfung, die der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind. Unsere Augen sehen die sichtbare Erde und den Himmel am Firmament (sky). Sie sind Teil des beweglichen Äons, der am Ende aller Tage vergehen und ersetzt werden wird durch die jetzt schon bei Gott existierende himmlische Welt. Diese umschreibt der Hebr mit verschiedenen Wendungen als zukünftige Welt (2,5; 6,5), als Zeit der richtigen Ordnung (9,10), als unerschütterliches Gottesreich (12,28) oder einfach nur als das Unerschütterliche (12,27). In dieser himmlischen Welt (heaven), von deren Existenz der Glaube fest überzeugt ist (11,1) und die nur mit den Augen des Glaubens geschaut werden kann (2,8; 11,3), befinden sich die himmlischen Himmel (4,14; 7,26; 8,1; 9,23; 12,23.25). Im obersten Himmel (9,24) befindet sich das himmlische Vaterland (11,8–16) als verheißenes ewiges Erbe (9,15). Auch der himmlische Zion (12,22) und das himmlische Jerusalem (12,2; himmlische Stadt: 11,10.16; 12,22; 13,14) mit dem himmlischen Heiligtum als von Gott geschaffene Realität sind dort verortet.
Das Heilige und das Allerheiligste werden durch einen »Vorhang« voneinander getrennt (für das irdische Heiligtum: Ex 26,33; Hebr 9,3; für das himmlische: 6,19; 10,20). Das Innerste des himmlischen Allerheiligsten ist der Ruheort Gottes, die katapausis (3,7ff), in deren Mitte der »Thron Gottes« steht (4,16; 8,1; 12,2). Dort wird die ewige Sabbatfeier stattfinden (4,9). Das Weltbild veranschaulicht, was der Prediger meint, wenn er vom himmlischen Hohenpriester aussagt, er habe die Himmel durchschritten. Die Wendung beschreibt den Weg Jesu in der himmlischen Welt bis hinein ins himmlische Allerheiligste. Er wird für seine Schwestern und Brüder zum Vorläufer (6,19f) und geht ihnen voran durch den Vorhang hindurch zum Ort der Ruhestatt Gottes. Dort sitzt er zur Rechten Gottes (8,1; 12,2) und hält bis zum Tag seiner nahen bevorstehenden Parusie (9,28; 10,37) Fürsprache für die Glaubenden (7,25; 9,24). Wie einst die Wüstengeneration steht die christliche Gemeinde am himmlischen Berg Zion vor den Toren des himmlischen Jerusalems und erwartet mit getroster Zuversicht das Offenbarwerden der himmlischen Welt. Diese Zuversicht wird für die Glaubenden zum Anker der Seele im himmlischen Allerheiligsten (6,19f). Unterwegs auf der Erde, verankert im Himmel. Das ist die tröstliche Botschaft für die angefochtene Gemeinde. Der Verfasser ermutigt sie, der Resignation zu widerstehen und am Bekenntnis zu Jesus Christus festzuhalten (3,1; 4,14; 10,23).
4. Theologisch-homiletische Perspektiven
Thomas Großbölting, Professor für Neuere und Neuste Geschichte, hat im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Universität Münster die Entwicklung des Glaubens und der Kirchenbindung in Deutschland seit 1945 untersucht und die Erkenntnisse 2013 in dem Buch »Der verlorene Himmel« zusammengefasst. Seit der Veröffentlichung hat sich die Entwicklung der Säkularisierung und Entfremdung von der Kirche rasant weiterentwickelt. Ja, für viele Menschen scheint der Himmel leer und verloren. Der Hebräerbrief bietet dem angefochtenen und/oder entfremdeten Gottesvolk einen Kontrastentwurf: Mag sein, vor Augen liegt uns eine gottferne Realität, in der der Himmel verloren scheint und in der Menschen ihr Gottvertrauen verloren, abgeschnitten oder eingeschlossen haben. Wir werden Entfremdungs- und Säkularisierungsprozesse nicht einfach aufhalten oder umkehren können. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir als glaubende Menschen aller Konfessionen mit getroster Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade (4,16), an der verheißenen Hoffnung festhalten (6,19), die gottesdienstlichen Versammlungen nicht verlassen, sondern einander zur Liebe und zu guten Taten anspornen (10,25). Im Glauben schauen wir in die himmlische Welt und sehen den Ort, an dem wir ganz in die Nähe Gottes gelangen (vgl. 11,1). Deshalb: „Werft Eure Zuversicht nicht fort, denn auf Euch wartet Großartiges“ (10,35), auch wenn Exzellenzcluster wohlbegründet weltimmanente Phänomene beschreiben. Der Glaube wird diese Erkenntnisse nicht ignorieren können, aber sie müssen nicht die letzte Wirklichkeit bedeuten, denn „treu ist der, der die Verheißung gegeben hat“ (Hebr 10,23)
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Wo berühren sich Himmel und Erde? Durch die Exegese der Perikopenverse wird bei mir diese Frage aufgeworfen. Dass Jesus Christus für uns Menschen den Weg in die unmittelbare Nähe Gottes bereitet hat, mit uns mitleidet und so rechtzeitige Hilfe ist, ist theologisch gesehen nichts Neues. Die Exegese der Hebräerpredigt hat aber durch das Bild „unterwegs auf der Erde, verankert im Himmel“ neue Dimensionen eröffnet, wie dieser Weg in die unmittelbare Gottesnähe aussehen kann. Dort, wo Himmel und Erde sich berühren, kommen Mensch und Gott sich näher. Die Exegese betont, dass dies im Gottesdienst und im Leben der Gemeinden geschieht. Dort wird der Glaube gestärkt und unsere Seele im Himmel verankert. Für die Predigt stellt sich daher die Frage: Wie sieht diese Berührung von Himmel und Erde konkret aus?
2. Thematische Fokussierung
Die Exegese fokussiert die Fragen, ob es für das angefochtene wandernde Gottesvolk einen verlässlichen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes gibt und, falls dies zu bejahen ist, wie dieser Weg aussieht (Vgl. Theologische Akzente der Perikopenverse). Die Antwort auf die erste Frage erscheint simpel: Jesus Christus, der jeglicher Versuchung widerstehen konnte, hat uns Menschen durch seine Selbsthingabe den Weg in die himmlischen Himmel zum Thron der Gnade, also zur unmittelbaren Gottesnähe, bereitet. Der Weg zu Gott ist für den Menschen dank Jesus Christus daher geebnet. Die zweite Frage, wie dieser Weg zu Gott aussieht, eröffnet neue Horizonte mit Blick auf eine Predigt: Durch das Festhalten an dem Bekenntnis zu Jesus Christus liegt ein „Anker der Seele“ (vgl. Einführung, Gliederung), der in den Himmel reicht. Dabei handelt es sich um den Himmel (heaven), den wir im Glauben schauen. Glauben bedeutet daher nach Hebr „verankert im Himmel“ zu sein. Für die Menschen auf Erden heißt dies konkret, dass sie der Resignation widerstehen, Gott vertrauen und am Glauben festhalten sollen. Wie aber können Menschen dies erreichen und so in die unmittelbare Nähe Gottes gelangen? Wie passiert es, dass Himmel und Erde sich berühren und Glauben gestärkt wird? Die Hebräerpredigt beantwortet diese Frage: Im Gottesdienst berühren sich Himmel und Erde, weil hier die Vorwegnahme der endzeitlichen Gottesgemeinschaft vollzogen wird. Dadurch wird der Glaube gestärkt und wir werden im Himmel verankert. Glaubensfördernde Predigten und Gottesdienste, die uns Menschen die Verbindung zu Gott spüren lassen, spielen daher eine wichtige Rolle. Es ist außerdem zu fragen, wie der Text dabei hilft, gegenwärtig die Verbindung von Gott und Mensch im Leben der Predigthörenden spürbar werden zu lassen.
3. Theologische Aktualisierung
Das Weltbild des Hebräerbriefes ist für moderne Menschen ziemlich fremd. Die Vorstellung des Durchschreitens der himmlischen Himmel und der Fürsprache Jesu für die Glaubenden vor Gottes Thron der Gnade lässt sich nur schwer mit der gegenwärtigen Lebenswelt in Verbindung bringen. Es ist daher für die Predigt zu überlegen, wie der Glaube und die Zuversicht müde gewordener Christ:innen so gestärkt und belebt werden können, dass ihr Glaubensanker bis in den Himmel reicht. In der Bildsprache des Hebr könnte man auch fragen: Wo berühren sich Himmel und Erde, Gott und Mensch? Denn da, wo Gott uns nahekommt, wird der Glaube gestärkt.
Die Hebräerpredigt sieht erstens den gegenwärtigen Gottesdienst als Vorwegnahme der endzeitlichen Gottesgemeinschaft. Der Gottesdienst wird so zur Verbindung zwischen Himmel und Erde. Er ist ein Ort, an dem wir Menschen die Nähe Gott spüren, der Glaube gestärkt wird und wir Hilfe bei Zweifeln und verlorenem Gottvertrauen erfahren. Für den Gottesdienst und die Predigt bleibt daher zu bedenken, wie Predigende und Liturg:innen eine glaubensfördernde Atmosphäre und Sprache gestalten können.
Zweitens betont die Exegese, dass Gottesgemeinschaft über den Gottesdienst hinaus im gesamten Leben der Gemeinden zu finden ist. Auch hier berühren sich Himmel und Erde. Für die Predigt könnten Predigende daher der Frage nachspüren, wo konkret dies im Leben ihrer Gemeinde geschieht. Zu denken ist da an das bekannte Lied Da berühren sich Himmel und Erde, in welchem es um das Verhalten der Menschen auf Erden geht. Im Fokus stehen die Liebe, die Überwindung von Hass, Neuanfang und Frieden als Momente im Leben, wo Himmel und Erde sich berühren. Um dabei nicht nur bei „großen Worten“ stehen zu bleiben, ist zu überlegen, wie sich Liebe, Neuanfang und Frieden konkret vor Ort zeigen. Angesichts der politischen Lage kann nur schwierig vom Weltfrieden gepredigt werden. Es gibt aber genügend Beispiele von liebevollen Momenten und friedlichen Lösungen. Sollten diese schwierig zu finden sein, kann im Sinne des Hebr („Wort tröstlicher Ermahnung“) von Neuanfängen und Chancen auch mit Blick auf die Entfremdungs- und Säkularisierungsprozesse (ohne bloß von sinkenden Zahlen zu predigen!) gepredigt werden. Das Bild vom Anker, der bis in den Himmel reicht, hat tröstlichen Charakter. Wenn wir fest im Glauben stehen, reicht die Ankerkette vom Himmel bis auf die Erde. Ein fester Anker ist nicht so einfach zu lösen – auch wenn es am anderen Ende („unterwegs auf der Erde“) etwas stürmischer und ungemütlicher wird.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Invocavit, der erste Sonntag der Passionszeit, steht im Zeichen des Widerstands gegen die Versuchung. Durch den Widerstand Jesu, der „ganz in der gleichen Weise versucht worden ist“ (Vgl. 4,15), ist der Weg in die unmittelbare Gottesnähe für uns Menschen bereitet. Als Schriftlesung bietet das Evangelium der »Versuchung Jesu« (Mt 4,1-11) den narrativen Hintergrund des Perikopentextes. Es geht darum, die Gottesferne zu überwinden, sich ganz und gar auf Gott zu verlassen, mit Zuversicht der Verheißung Gottes zu vertrauen und so – mit den Bildworten der Hebräerpredigt ausgedrückt – „unterwegs auf der Erde, verankert im Himmel“ zu sein. Die Verbindung zwischen Himmel und Erde wird durch den Leitvers verstärkt: „Wenn wir ihn anrufen, dann hört er uns“ (Ps 91,15). Diese Botschaft soll uns zu Beginn der Passionszeit trösten und stärken. Gott ist ansprechbar. Himmel und Erde, Gott und Mensch sind sich nahe. Wir Menschen sind durch die Hebräerpredigt tröstlich dazu ermahnt, am Glauben festzuhalten und unser Gottvertrauen nicht zu verlieren. Dieses Gefühl wird durch weitere liturgische Elemente, wie dem Wochenlied „Eine feste Burg ist unser Gott“ (EG 362) untermalt.
5. Anregungen
Die Exegese hat uns den abstrakt anmutenden Perikopentext in eine Bildsprache übersetzt.
Predigende sollten sich jedoch entscheiden, welches Bild sie für ihre Gemeinde fruchtbar machen wollen, um die Predigt klar zu strukturieren und nicht mit Bildern zu überladen. Möglich wäre es, das Bild von Himmel und Erde mit einer Liedpredigt über das Lied „Da berühren sich Himmel und Erde“ zu verbinden.
Das Bild vom festen Anker der Seele im himmlischen Allerheiligsten (6,19) ist tröstlich und zugleich überraschend, denn ein Anker ankert auf dem Grund der Gewässer und nicht in der Luft. Aber gerade zeigt sich die besondere Verbindung der Botschaft vom „wandernden Gottesvolk auf der Erde“ mit der Zusage, dass die endgültige Heimat der Glaubenden im himmlischen Jerusalem wartet (11,10; 12,22; 13,14u.ö.). Die Ankerkette mit ihren zahlreichen Gliedern reicht von der Erde bis in den Himmel. Eine Ankerkette kann jedoch brechen oder den Halt verlieren. Beim Schnorcheln mit einer Tauchermaske habe ich das selbst entdeckt. In der Unterwasserwelt des Mittelmeeres habe ich auf dem Meeresboden einen Anker erspäht, dessen Kette nicht mehr zu einem Boot reichte, sondern losgerissen auf dem Grund des Meeres trieb. Da kamen mit einem Mal die Fragen, die uns so sehr umtreiben: Was bedeutet dies für das Bild des festen Ankers, der eigentlich doch hält, auch wenn es am anderen Ende der Kette stürmisch wird? Ist es in diesen Tagen zu stürmisch für die Kirche und unseren Glauben? Treibt die Ankerkette der Gemeinden lose umher oder sind wir noch fest verbunden mit dem Anker im Himmel? Die Ermutigung des Hebräerbriefes schenkt Halt: »Werft euer Vertrauen nicht weg, denn ihm ist eine großartige Belohnung versprochen« (10,35).
Autoren
- Prof. em. Dr. Christian Rose (Einführung und Exegese)
- Melina Racherbäumer (Praktisch-theologische Resonanzen)
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