Deutsche Bibelgesellschaft

Jesaja 51,4-6 | Altjahrsabend | 31.12.2024

Einführung in das Buch Jesaja

1. Endgestalt des Buches

Das Jesajabuch ist mit seinen 66 Kapiteln das längste Prophetenbuch der Bibel. Die masoretische und griechische Fassung weisen im Wesentlichen Übereinstimmungen, nur in bestimmten Fällen Abweichungen voneinander auf. Die berühmte Jesajarolle aus Qumran (1Q Jesa) zeigt dabei eine Nähe zur Septuagintafassung. Umstellungen oder längere fehlende oder „überschüssige“ Textpassagen gibt es in der Septuaginta-Fassung nicht.

Das gesamte Buch wird laut Jes 1,1 dem Propheten Jesaja, Sohn des Amoz (wohl nicht zu verwechseln mit dem Propheten Amos), zugeschrieben. Selbst die Texte ab Jes 40 und Jes 56, die man gemeinhin Deutero- bzw. Tritojesaja zuweist, stehen den Redaktoren der Bibel zufolge in der Autorität oder in der „Nachfolge“ des Propheten Jesaja.

2. Kompositions- und Redaktionsgeschichte

Der Kern des Jesajabuches geht auf den gleichnamigen Propheten zurück, der im 8. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem wirkte. Spätestens die Kapitel ab Jes 40 werden aber einem zweiten Propheten zugerechnet, den man Deuterojesaja nennt. Bernhard Duhm hat in seinem Kommentar von 1892 alle Kapitel ab Jes 56 einem dritten Propheten, also Tritojesaja, zugeschrieben. Die klassische Jesaja-These geht also von Protojesaja oder Erstem Jesaja (Jes 1–39), Deuterojesaja oder Zweitem Jesaja (Jes 40–55) und Tritojesaja oder Drittem Jesaja (Jes 56–66) aus.

Im Zuge der redaktionsgeschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts ist der Kernbestand bei allen drei Teilen teilweise auf wenige Kapitel geschrumpft. Der Großteil wird späteren Ergänzern, Fortschreibern oder Redaktoren zugewiesen. Das hat zwei Folgen: Zum einen kann man nur einen kleinen Teil der Schrift „mit Sicherheit“ dem Propheten Jesaja oder Deuterojesaja zuweisen, während der überwiegende Teil des Buches Jesaja von unbekannten Redaktoren etc. verfasst wurde. Zum anderen gibt es eine stärkere Orientierung am „Sitz im Buch“, d.h. man kann die Texte meist nicht einem ganz bestimmten Zeitpunkt zuweisen, dafür aber die Stelle, in der der Text vorkommt, aus dem Buch heraus begründen. Die Texte des Jesajabuches sind keine zufällige Sammlung von Einzelworten, sondern eine – wie auch immer geartete – Komposition oder bewusste Gestaltung. Auf diese Weise kann man die theologischen Debatten, die Aktualisierungen und Anpassung der alten Prophetenworte an die jeweils neue Zeit nachvollziehen.

Allerdings gibt es bis heute die Ansicht, ein Großteil der Texte von Jes 1–29 ginge auf den historischen Propheten Jesaja zurück und man könne die unterschiedlichen, teils auch widersprüchlichen Texte auf Verkündigungsphasen des Propheten zurückführen. Bei Deuterojesaja hat man Ähnliches versucht. Aber auch hierbei gilt, dass diese Forschungsrichtung in den Teilabschnitten und im Jesajabuch als Ganzes eine bewusste und absichtliche Gestaltung des Buches erkennt.

3. Historische Kontexte

Deuterojesaja ist unabhängig von Protojesaja entstanden und später damit verbunden worden. Über die Einzelheiten und den Zeitpunkt ist man sich uneins. Deuterojesaja galt klassisch als exilischer Prophet, da er von der Erweckung des Kyros spricht. Es gibt aber auch die Auffassung, dass der Kern frühnachexilisch ist und größere Abschnitte auch nach dem Wiederaufbau des Zweiten Tempels (515 v. Chr.) verfasst worden sind. Mit dem Ende des Exils und dem Wiederaufbau des Tempels lassen sich die Freudentexte, von denen Jes 40–55.60–62 voll sind, gut erklären.

Ein Teil der Texte aus Tritojesaja (wie auch einzelne Zusätze im übrigen Jesajabuch) stammt sogar aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Das Jesajabuch hat einen vorexilischen Kern. Der Großteil der Texte entstammt jedoch der exilischen, vor allen Dingen aber der nachexilischen Zeit. Das Jesajabuch diskutiert die Frage, wie es mit dem Zion und der (Gottes-)Herrschaft weitergeht.

4. Wichtige Themen

Zion durchzieht das Jesajabuch wie kein zweites Thema. Neben z. B. Jes 1,21–26; 2,1–5; 37,33–38; 49,14–52,10; 54,1–17; 65 und 66 sind die drei großen Kapitel Jes 60–62 zu nennen. Die Rettung des Zions vor den Assyrern, selbst wenn es sie historisch gesehen wohl so nicht gegeben hat, ist der Kern des vorexilischen Jesajabuches. Mit Deuterojesaja und den Ereignissen um den Messias Kyros (vgl. Jes 45,1) und den Fall Babylons werden dieser Erzählung weitere Zion-Texte hinzugefügt, die Jhwhs Rückkehr zum Zion (Jes 52,8) als Beginn einer neuen Zeit feiern. Nach der Rückkehr Jhwhs zum Zion – man mag dabei an die Wiedererrichtung des Tempels denken – wird die Diaspora als das Volk im Exil aufgefordert zurückzukehren. Und am Ende kommen dann auch die fremden Völker (Jes 60).

5. Besonderheiten

Texte von Leid und Schmerz über die Vergangenheit und Gegenwart der Verfasser finden sich in den anderen Prophetenbüchern fast überall. Dass aber diesen Texten hoffnungsvolle Texte gegenüberstehen und in Deuterojesaja deutlich überwiegen, zeigt eine gewisse Sonderstellung des Jesaja-Buches an. Es ähnelt dabei den Psalmen, wenn hier auf einen Klagepsalm (z.B. Ps 22) ein Psalm größter Zuversicht folgt (Ps 23).

Literatur:

  • Hermisson, H.-J., 2017, Deuterojesaja. Jesaja 49,14–55,13, BK XI/3, Göttingen.
  • Höffken, P., 1998, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66, NSK.AT 18/2, Stuttgart.

A) Exegese kompakt: Jesaja 51,4-6

4הַקְשִׁ֤יבוּ אֵלַי֙ עַמִּ֔י וּלְאוּמִּ֖י אֵלַ֣י הַאֲזִ֑ינוּ כִּ֤י תוֹרָה֙ מֵאִתִּ֣י תֵצֵ֔א וּמִשְׁפָּטִ֔י לְא֥וֹר עַמִּ֖ים אַרְגִּֽיעַ׃ 5קָר֤וֹב צִדְקִי֙ יָצָ֣א יִשְׁעִ֔י וּזְרֹעַ֖י עַמִּ֣ים יִשְׁפֹּ֑טוּ אֵלַי֙ אִיִּ֣ים יְקַוּ֔וּ וְאֶל־זְרֹעִ֖י יְיַחֵלֽוּן׃ 6שְׂאוּ֩ לַשָּׁמַ֨יִם עֵֽינֵיכֶ֜ם וְֽהַבִּ֧יטוּ אֶל־הָאָ֣רֶץ מִתַּ֗חַת כִּֽי־שָׁמַ֜יִם כֶּעָשָׁ֤ן נִמְלָ֨חוּ֙ וְהָאָ֨רֶץ֙ כַּבֶּ֣גֶד תִּבְלֶ֔ה וְיֹשְׁבֶ֖יהָ כְּמוֹ־כֵ֣ן יְמוּת֑וּן וִישֽׁוּעָתִי֙ לְעוֹלָ֣ם תִּֽהְיֶ֔ה וְצִדְקָתִ֖י לֹ֥א תֵחָֽת׃ ס

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Übersetzung

V.4 Schaut auf mich, mein Volk,

mein Volk, höre mir zu!

Denn Weisung wird von mir ausgehen

und mein Recht wird ein Licht den Nationen sein.

In einem Augenblick …

V.5 … ist meine Gerechtigkeit nahe,

es tritt hervor mein Recht

und meine Arme werden die Nationen richten.

Auf mich warten die Inseln

und auf meinen Arm harren sie.

V.6 Hebt zum Himmel eure Augen auf

und schaut auf die Erde von unten her!
Denn der Himmel löst sich auf wie Rauch,

und die Erde verrottet wie ein Kleid,

und ihre Bewohner sterben dahin wie die Mücke,

aber mein Heil wird ewig sein

und meine Gerechtigkeit wird nicht zu Ende gehen.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.4: zu וּלְאוּמִי (und mein Volk) hat die Septuaginta βασιλεῖς (Könige), die Versionen bieten dann jeweils eine am Hebräischen orientierte Verbesserung; das letzte Wort   אַרְגִּֽיעַ (ich tue in einem Moment) gehört wahrscheinlich zum folgenden V.5: אַרְגִּֽיעַ קָר֤וֹב צִדְקִי (meine Gerechtigkeit wird augenblicklich nahe sein).

V.6: zu תֵחָֽת (חתת ni.: eigentlich „zerschlagen sein“) schlägt Gesenius18 ein Wort mit gleichem Stamm aber anderer Bedeutung („zu Ende gehen“) vor.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der Text entstammt einer Rede, die schon in V.1 beginnt. Dort findet sich ebenfalls schon ein Ich, wobei der Sprecher anfangs nicht klar benannt wird: Ist es der Gottesknecht, der zuvor in Jes 50,4–9 geredet hat? Ist es der Prophet Deuterojesaja oder der Buchprophet Jesaja? Während in V.1 und V.3 von Jhwh in der 3. Person die Rede ist, hat der Sprecher laut Selbstaussage (V.2) Abraham gerufen. Die Berufung Abrahams geschah aber durch Jhwh selbst (vgl. Gen 12,1). In Jes 51,5 f. scheint auf jeden Fall Jhwh zu sprechen, da die Gerechtigkeit nahe ist, das Recht hervortritt, des Sprechers Arme die Nationen richten werden, auf ihn die Inseln warten, sein Heil ewig sein und seine Gerechtigkeit nicht zu Ende gehen wird.

Das Volk soll in V.4 auf den Sprecher schauen, da von ihm Weisung (תוֹרָה) ausgehen werde und sein Recht ein Licht für die Nationen werde. Ein Vorgriff auf Jes 60,1–3, dort wird Zion selbst zum Licht und die Nationen und Völker kommen zu ihr kommen.

Ab V.6 mischen sich aber auch Gedanken ein, die die Vergänglichkeit der Menschen in den Blick nehmen. Himmel und Erde werden vergehen, die Bewohner wie Mücken dahinsterben. In V.7 f. werden diese Überlegungen weiter durchdacht, ehe mit Jes 51,9 das sogenannte Imperativgedicht beginnt, das letztlich die Rückkehr Jhwhs zum Zion (Jes 52,7 f.) vorbereitet. Das heißt, Jes 51,(1)4–6(8) hat einen Sprecher, der Jhwh selbst sein kann, der sich dann aber von Jes 50,4–9 (Gottesknechtslied in 1. Sg.) und vom Imperativgedicht (Jes 51,9–52,2) abhebt, da hier wie dort Jhwh selbst gerade nicht der Sprecher ist.

3. Textgenese

Wer Sprecher von Jes 51,1–8 ist, lässt sich nicht ohne Weiteres feststellen. Ob in Jes 51,4 z.B. Jhwh selbst spricht, hängt davon ab, wie man V.1–3 erklärt. Nimmt man V.3 heraus, wo von Jhwh in der 3. Sg. die Rede ist, gehört auch V.4 zu dieser Jhwh-Rede. Dagegen kann man auch V.2 herausnehmen (Jhwh spricht von sich in der 1. Sg.), so dass in V.1 und V.3 von Jhwh in der 3. Person die Rede ist. Dann fällt Jhwh als Sprecher aus, und der Gottesknecht könnte als Sprecher infragekommen.

Wenn aber in V.4 Jhwh nicht der Sprecher ist, muss man ihn wiederum für V.5 annehmen: Jes 51,5f. kann nur von Jhwh gesprochen sein. In diesem Fall ließe sich V.5 als Fortschreibung ansprechen, die auch für die Einfügung von V.2 verantwortlich ist.

V.6 bietet mit dem Ende des Himmels und der Erde und der Vergänglichkeit der Bewohner etwas Neues, das der strahlenden Zukunft (vgl. z.B. V.4: von mir wird Weisung ausgehen und mein Recht wird ein Licht für die Nationen sein) auch gleich wieder ein Ende bescheinigt. Es liegt daher nahe, dass V.6 eine Fortschreibung zu V.5 ist.

4. Historische Einordnung

Wenn die Rückkehr Jhwhs zum Zion (Jes 52,7–10) zu den älteren Texten Deuterojesajas gehört und das Imperativgedicht (Jes 51,9–52,2*) diese Rückkehr vorbereitet, dann ist das, was in V.4 geschildert wird, in zeitlichem Abstand entstanden. Denn dass des Sprechers Recht ein Licht für die Nationen ist, gehört derselben Zeit wie Jes 60 an. Wenn man Jhwh als Sprecher annimmt, so scheint es, als habe jegliche weltliche Herrschaft den Anspruch verwirkt, sich um das Recht und Gerechtigkeit kümmern zu können – weil sie eben ungerecht war. Diese grundsätzliche Zurückhaltung gegenüber Herrschaft kann sich zur Zeit der Perser entwickelt haben. Spätestens aber mit der Diadochenzeit, als Palästina mal von den Ptolemäern, mal von den Seleukiden beherrscht wurde, scheint man von weltlicher Herrschaft nicht mehr viel erwartet zu haben, so dass man allein auf Jhwh hoffen konnte.

5. Schwerpunkte der Interpretation

Der Anspruch der Botschaft ist nicht allein auf das Gottesvolk oder einen Ort beschränkt, sondern wird hier für alle Nationen geöffnet. Das Recht wird dabei nicht gebeugt, um die anderen Nationen zu unterdrücken, sondern strahlt auch für sie. Das Recht ist allgemein und weltweit gültig, selbst dann, wenn Himmel und Erde vergehen werden (vgl. Mk 13,31).

In Röm 1,17 und 3,21 wird davon gesprochen, dass die Gerechtigkeit Gottes erschienen ist. Die Ankündigung aus Jes 51,4–6 findet für Paulus ihre Erfüllung in Jesus Christus.

6. Theologische Perspektivierung

Interessant erscheinen die Fragen, was denn das Recht Jhwhs ist, wie seine Gerechtigkeit aussieht und wie sie sich von der der weltlichen Herrschaft unterscheidet.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese klärt und vertieft zunächst diffuse Wahrnehmungen am Text und legt Wege an, die für die Predigterarbeitung gegangen werden können: Was ist Gottes Gerechtigkeit? Was bedeutet die Ausweitung von Israel auf die Völker? Wie kontrastieren erlebte Situation und Erwartung?

An zwei Stellen verwirrt die Exegese aber auch, wo beim Ersteindruck Gewissheit zu herrschen schien: Ist hier die Frage, wer genau spricht, so gewichtig? Beim Lesen erscheinen die Verse als eine Aussage Gottes, die der/ein Prophet übermittelt. Entsprechend sind dann die aufscheinenden Züge Charakterisierungen Gottes und seines Wirkens. Die andere Verwirrung ist die zeitliche Zuordnung: Ist Gottes Gerechtigkeit vor allem eine Kritik an bestehenden (späten) Rechtszuständen, oder wie beim ersten Lesen empfunden eine Hoffnung für das Gottesvolk im Exil? Durch die Zuordnung der Perikope zum Altjahrsabend hat das Thema „Zeit“ ein besonderes Gewicht.

2. Thematische Fokussierung

Hervorragend und hilfreich ist, dass die Exegese den Fokus klar auf das Thema der Gerechtigkeit Gottes legt. Recht und Gerechtigkeit, Weisung – als Orientierung – und die Verknüpfung von Gerechtigkeit und Heil sind grundlegende „Menschheitsthemen“. Die möglichen Entstehungssituationen können eine Kontrastfolie für Fragen und Wahrnehmungen der Gegenwart sein. Das Pathos mancher Sprachbilder in der Perikope entspricht der Bedeutung der Themen, ist aber gebrochen, teils durch die aktuelle Luther-Übersetzung (V.4 „meine Leute“ statt bisher „ihr Menschen“), teils durch die bedrängenden Zerstörungsaussagen in V.6.

Dieser Kontrast sollte auch adressiert werden: Heilsaussagen über Gott und seine Gerechtigkeit, dazu umfassende Zerstörungsaussagen über Menschen, (physischen) Himmel und Erde, denen die unzerstörbare Gerechtigkeit gegenübersteht. Konkret: V.6 kann die Frage wecken: welchen Sinn Gottes ewige, unzerstörbare Gerechtigkeit hat, wenn alles andere zerstört ist und alle Menschen gestorben sind. Als Antwort kann die Predigerin / der Prediger prüfen, ob die Aussage: Auch angesichts von Leid und Zerstörung bleibt Gottes Gerechtigkeit eine Quelle der Hoffnung, trägt. Aus der Heilsaussage sollte durch V.6 keine Unheilsansage werden.

Ausgehend von der Exegese ergeben sich so (mindestens) drei Linien für die Predigtentwicklung:

  1. 1.Was bedeutet Gottes Gerechtigkeit?
    Antworten auf diese Frage können in Zusammenschau zwischen alt- und neutestamentlichen Aussagen entwickelt werden. Schon die Perikope deutet an, dass es nicht um Aussagen von Stärke oder materieller Perfektion geht. Wie am Ende der Exegese angedeutet, kann (und sollte m. E.) sehr stark die von Christus gebrachte Gerechtigkeit dargestellt werden. Sie hängt mit Glauben und Zusammenleben, der Suche nach dem Wohl der und des Nächsten und dem gemeinsamen Kampf gegen Leid und Benachteiligung zusammen.
    Die Exegese legt es auch nahe, eine Gegenüberstellung biblisch-göttlicher und weltlich-menschlicher Konzepte von Gerechtigkeit einzubeziehen. Sie ist nicht leicht, da Kurzschlüsse oder eine zu grobe Schwarz-Weiß-Malerei vermieden werden müssen. Aber die vielen defizitären Umsetzungen, Leiden und Ungerechtigkeit weltweit, Machtmissbrauch oder Unterdrückung im Namen fragwürdiger Konzepte, und Würde, Liebe und Freiheit im Konzept göttlicher Gerechtigkeit (auch die Umwertung von Stärke) könnten Predigtthemen sein.
  2. 2.Welche Erfahrungen mit Gerechtigkeit haben die Hörenden?
    Am Altjahrsabend des Jahrs, in dem das 75jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert wurde (und einer Reihe anderer Nachkriegsordnungen) könnte auf den (Zu-)Stand von Recht und Gerechtigkeit 2024 geblickt werden. EfP entsteht (wie alle Kommentare) mit einigem Vorlauf zur Predigtsituation. Aber zu erwarten steht, dass weiter über einen völkerrechtswidrigen und in vielem unmenschlichen Krieg Russlands gegen die Ukraine, über die Gerechtigkeitsvorstellungen im US-Präsidentschaftswahlkampf und stark auch über Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern nach dem Terroranschlag der Hamas im Oktober 2023, den israelischen Reaktionen darauf und der Einmischung aus Libanon, Iran und Jemen im Jahresverlauf 2024 zu reden sein wird. Das letzte Thema ist heikel aber besonders naheliegend, da der moderne Staat Israel und das Gottesvolk eng verbunden sind. Aber auch Themen der Gerechtigkeit im Umgang mit der Natur (Wortassoziation: Inseln, die durch den Klimawandel unterzugehen drohen und [V.5] auf Gott hoffen) oder postkoloniale Gerechtigkeit sind aktuell.
  3. 3.Wie wirkt Gottes Gerechtigkeit angesichts der eschatologischen Dimension im Text?
    U.a. V.4 „gar bald“, V.5 „ist nahe“ und der beschriebene Kontrast in V.6 enthalten ein endzeitliches Drängen. Wie stellt sich dann noch einmal Gottes verheißene Gerechtigkeit dar? Die Stellen zum leidenden Gottesknecht im Umfeld des Predigttextes enthalten Leid, Schmach, Zerstörung, Entwürdigung und anderes, dem die Aussagen zu Recht, Gerechtigkeit, Heil, Licht und Stärke im Predigttext kontrastieren. Die Theodizeefrage gehört in diesen Kontext und sollte in der Predigt aufgenommen werden.

Fragen zur Rolle des atl. Israels als Gottesvolk und seiner Inanspruchnahme der Gottesaussagen und -zusagen sind dagegen ebenso wie Überlegungen zu Gerechtigkeitsvorstellungen anderer Religionen so komplex, dass sie hier vermutlich die Predigt überfrachten würde.

3. Theologische Aktualisierung

Vieles ist bereits gesagt: Gerechtigkeit Gottes gemäß dem Evangelium Jesu Christi, Erfahrungen von Recht und Unrecht, Hoffnung und die Ausweitung der Zusagen vom Gottesvolk auf die ganze Welt sind mögliche thematische Spuren und Aspekte. Der Predigttext ist in diesem Sinne umfassend Zuspruch und kaum Anspruch – außer, sich zu diesem Gott zu bekennen und sich an seine Botschaft zu halten. Da unsere Gegenwart stark von der Suche nach einer „rechtsförmigen“ Gerechtigkeit geprägt ist, sollte gut reflektiert werden, was religiöse Aussagen sind und was politisch-ethische – und natürlich, welche Überschneidungen für die Hörenden hilfreich sind beim Gang aus dem Alten ins Neue Jahr.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Am Altjahrsabend klingt eine prophetische Zukunftsaussage besonders stark. Zumal wenn sie mit einem Blick auf die (voraussichtlich) zahlreichen Unvollkommenheiten, auf Leiden und Ungerechtigkeit im zu Ende gehenden Jahr verbunden ist. Insofern kann dem Text eine vergewissernde, ermutigende Funktion zukommen.

Von den anderen Texten des Gottesdienstes erscheint nur die Epistellesung Röm 8,31b-39 (Heilsgewissheit) unmittelbar anschlussfähig. Der Predigttext ‚antwortet‘ auf den Psalm 121,1-8, allerdings in einer Weise, die noch einmal neu den Unterschied zwischen menschlichen Sicherheits- und Rechtsvorstellungen und Gottes Heil und Gerechtigkeit deutlich werden lässt. Zum Evangelium Mt 13,24–30 (Unkraut unter dem Weizen) müssen komplexere Brücken geschlagen werden. Ebenso erfordert die alttestamentliche Lesung Pred 3,1–15 erhebliche ‚Vermittlungsarbeit‘, (vielleicht aufgrund der Unterschiede zwischen weisheitlicher und prophetischer Religiosität?).

Interessant wäre es vermutlich, hier dem Angebot des Gottesdienstbuches zu folgen und Texte zwischen Altjahrsabend und Neujahrstag zu tauschen – Jos 1,1–9 bietet auf den ersten Blick auch viele Anknüpfungspunkte (ähnlich vielleicht Lk 4,16–21).

Die Wochenlieder zum Altjahrsabend, EG 58 Nun lasst uns gehen und treten und das laut EKD-Statistiken beliebteste Lied des EG: 65 Von guten Mächten, transportieren gut das latente Predigtthema des Unterschieds zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit, verbunden mit einer starken Hoffnungsaussage. Es legt sich nahe, Lieder wie EG 262/263 Sonne der Gerechtigkeit (trotz des Kontrastes zur Tageszeit) aufzunehmen, aber vielleicht auch EG 428 Komm in unsre stolze Welt oder EG 268 Strahlen brechen viele, die die Besonderheiten von Gottes Maßstäben zeigen? EG 165 Gott ist gegenwärtig passt gut zur Abendstimmung und zugleich zur Machtaussage des Predigttextes; von den Abendmahlsliedern könnten EG 225 Komm, sag es allen weiter oder EG 229 Kommt mit Gaben und Lobgesang die kraftvolle Aussage des Predigttextes unterstützen; aus dem Weihnachtskreis könnte EG 27 Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich gut den Gottesdienst eröffnen – zumal wenn „klassisch“ EG 44 O du fröhliche ihn schließt. Aus den Kirchentags-, Lobpreis- und Ergänzungsliedern gibt es ebenfalls eine Fülle passender Lieder, z.B. EG.E 30 Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen oder Vater diene Liebe – immer in der Gefahr, menschliche / menschlich leistbare und göttliche Gerechtigkeit unmittelbar in eins zu setzen.

5. Anregungen

Die Predigt könnte gut den prophetischen, verkündigenden und zusagenden Impuls des Textes aufnehmen – zumal wenn der Blick auf das zu Ende gehende Jahr sehr gemischte Gefühle zurücklässt. Vielleicht stärker als sonst muss sich die Predigerin / der Prediger der Frage stellen, wie die Zusagen der Perikope zur eigenen Welterfahrung stehen – und hoffentlich eine Stärkung des eigenen, dann bekannten Glaubens entdecken.

Autoren

  • Dr. Alexander Weidner (Einführung und Exegese)
  • Dr. Andreas Ohlemacher (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500085

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