Deutsche Bibelgesellschaft

Römer 12,9-16 | 2. Sonntag nach Epiphanias | 19.01.2025

Einführung in den Römerbrief

1. Verfasser

Paulus diktierte dem Sekretär Tertius den Brief (vgl. 1,1 und 16,22: eigener Gruß des Tertius; keine Mitverfasser).

Paulus befindet sich an einem entscheidenden Punkt seiner langjährigen Missionsarbeit: Er will im Westen des Imperiums missionieren und plant eine Reise nach Spanien. Im Zusammenhang dieser Reise zu neuen potenziellen Missionsgebieten stellt er sich den römischen Christus-Gläubigen brieflich als Apostel der Nichtjuden vor und kündigt einen Aufenthalt in Rom an, bei dem er die römischen Christus-gläubigen Gemeindeglieder an seiner Evangeliumsverkündigung teilhaben lassen will. Außerdem hofft er auf Unterstützung bei seinen Reiseplänen. Zuvor will er aber die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, die die kleinasiatischen und griechischen Gemeinden aufgebracht haben, persönlich nach Jerusalem bringen, so dass sich sein Rombesuch noch verzögern wird.

2. Adressaten

Paulus schrieb den Brief an die „Berufenen Jesu Christi“, an „alle Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen“ in Rom (1,6f.).

Er spricht die Christus-gläubigen Adressaten nicht als „Gemeinde“ an (so in 1Kor 1,2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῳ). Die Exegeten schließen daraus, dass es in Rom in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s nicht nur eine, sondern mehrere Gemeinden – oft als Hausgemeinden oder auch als „Gemeinden in römischen Mietblocks“ bezeichnet – gegeben habe. Wichtig ist,

  1. 1.dass es sich bei den Adressaten nicht um Mitglieder einer paulinischen Gemeindegründung handelt,
  2. 2.dass die Christus-gläubigen Römerinnen und Römer ganz überwiegend sogenannte Heidenchristen waren, d.h. nicht zum „Volk Israel“ gehörten,
  3. 3.dass sie nur zu einem kleinen Teil Paulus persönlich bekannt waren (vgl. die Grußliste in Kap. 16), so dass der Römerbrief an eine wenig homogene, Paulus überwiegend unbekannte und ihm nicht verpflichtete Leserschaft gerichtet ist (Wischmeyer, Römerbrief, 445-447).

Daraus erklärt sich der sehr sachlich-theologische Gesamtduktus, der auch den ethischen Teil B des Briefes (Röm 12-14) bestimmt.

3. Entstehungsort und Entstehungszeit

Paulus schreibt nach Rom wohl im Jahr 56 aus Korinth (Röm 16,23; 1Kor 1,14; Apg 20,4).

4. Wichtige Themen

„Apostelamt des Paulus, Evangelium, Glaube, Gerechtigkeit Gottes, Juden und Griechen als Teilhaber an Gottes Gerechtigkeit, Israel, Verhältnis zum Imperium Romanum, Starke und Schwache, Mission des Paulus“ (Wischmeyer, Römerbrief, 429).

Besonders wichtig ist die Auslegungsgeschichte des Röm. Keine Exegese kann ohne eine Reflexion auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegungsgeschichte des Briefes auskommen. Der Röm war seit Erasmus und den Reformatoren – vor allem Luther, Melanchthon und Calvin – der Grundtext reformatorischer Theologie. Die „Rechtfertigungslehre“ entwickelte Luther maßgeblich aus seiner Lektüre des Galater- und Römerbriefes und seiner Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ vom Genitivus objectivus her: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt bzw. Bestand hat, d.h. die Gerechtigkeit, die nicht aus der Gesetzeserfüllung, sondern aus dem Glauben kommt. Damit wurde Röm zugleich zum bleibenden Streitobjekt zwischen reformatorisch-protestantischer und katholischer Auslegung. Neuerdings muss die Christologie des Röm, die das Heil an den Glauben an Christus bindet, in Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gesetzesverständnis neu diskutiert werden.

5. Aktuelle Fragen

Besonderes Interesse gilt in den letzten Jahren der religiös-ethnischen Identität des Paulus und einer damit verbundenen Distanzierung besonders von der christlich-theologischen Römerbriefinterpretation von Luther bis zu Barth und Bultmann. Wieweit ist Paulus auch nach seiner Beauftragung durch den erhöhten Christus (Gal 1,1.15) Jude (Röm 9,1-5) und Pharisäer (so Paula Fredriksen) geblieben? Diese Frage ist nicht nur für die Paulusinterpretation, sondern auch für die Rekonstruktion der Anfänge der christlichen Kirche von bleibender Bedeutung und wird exegetisch neu justiert werden müssen.

6. Besonderheiten

Röm ist der umfangreichste und thematisch anspruchsvollste Brief des Paulus. In mehreren ausführlichen thematisch zentrierten Textabschnitten behandelt Paulus entscheidende Themen seiner Missionsverkündigung:

Teil A In 1,16-11,36 legt er in mehreren Schritten sein „Evangelium“ dar, das „Juden und Nichtjuden (1,16) gilt.

  1. 1.In Kap. 1,17-4,25 entfaltet er die Heilswirkung des Evangeliums vor dem Hintergrund der Ungerechtigkeit von Nichtjuden wie Juden. 3,21-31 ist das christologische Herzstück dieser Heilsbotschaft.
  2. 2.In Kap. 5-8 entwickelt Paulus dann Einzelaspekte seiner Christologie.
  3. 3.Kap. 9-11 ist ein eigener thematischer Traktat zum Verhältnis von Nichtjuden und Juden, der mit der Perspektive der Errettung von Nichtjuden wie Juden schließt und damit auch das Thema von 1,16 zum Abschluss bringt (11,26).

Teil B Von 12,1-15,13 stellt Paulus in einer reich gegliederten Paraklese (ermahnende Darlegung der Verhaltensformen in den Christus-gläubigen Gemeinden) Grundelemente gemeindlichen Verhaltens dar (darin: 13,1-7 zur „Obrigkeit“; 13,8-10 Liebe als Gesetzeserfüllung; Kap. 14 Starke und Schwache in der Gemeinde).

15,14-33 gelten der aktuellen Planung, Kap. 16 enthält ausführliche Grüße.

Literatur:

  • Fredriksen, P.: Paul, the Perfectly Righteous Pharisee, in: The Pharisees, hg. J. Sievers and A.-J. Levine, Eerdmans 2021.
  • Kleffmann, T.: Der Römerbrief des Paulus, Tübingen 2022 (theologisch-systematische Kommentierung des Röm).
  • Wischmeyer, O. / Becker, E.-M. (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen 32021; darin. Wischmeyer, O., Römerbrief, 429-469. Dort S. 468f. weiter kurz kommentierte Literatur.
  • Wolter, M.: Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8. EKKNF VI/1, Neukirchen-Vluyn 2014. Teilband 2: Röm 9-16. EKKVI/2, Neukirchen-Vluyn 2019.

A) Exegese kompakt: Römer 12,9-16

9Ἡ ἀγάπη ἀνυπόκριτος. ἀποστυγοῦντες τὸ πονηρόν, κολλώμενοι τῷ ἀγαθῷ, 10τῇ φιλαδελφίᾳ εἰς ἀλλήλους φιλόστοργοι, τῇ τιμῇ ἀλλήλους προηγούμενοι, 11τῇ σπουδῇ μὴ ὀκνηροί, τῷ πνεύματι ζέοντες, τῷ κυρίῳ δουλεύοντες, 12τῇ ἐλπίδι χαίροντες, τῇ θλίψει ὑπομένοντες, τῇ προσευχῇ προσκαρτεροῦντες, 13ταῖς χρείαις τῶν ἁγίων κοινωνοῦντες, τὴν φιλοξενίαν διώκοντες. 14εὐλογεῖτε τοὺς διώκοντας [ὑμᾶς], εὐλογεῖτε καὶ μὴ καταρᾶσθε. 15χαίρειν μετὰ χαιρόντων, κλαίειν μετὰ κλαιόντων. 16τὸ αὐτὸ εἰς ἀλλήλους φρονοῦντες, μὴ τὰ ὑψηλὰ φρονοῦντες ἀλλὰ τοῖς ταπεινοῖς συναπαγόμενοι. μὴ γίνεσθε φρόνιμοι παρ’ ἑαυτοῖς.

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Übersetzung

9 Die Liebe sei ungeheuchelt. Verabscheut das Böse, hängt dem Guten an. 10 In der Bruderliebe seid einander herzlich zugetan. In der Ehrerbietung kommt einander zuvor. 11 In eurer Tätigkeit seid nicht träge. Im Geist seid brennend. Dem Herrn dient. 12 In Hoffnung seid fröhlich, in Trübsal geduldig, im Gebet beharrlich, 13 an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmend, die Gastfreundschaft übend.

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

In VV.9–13 fehlt das finite Verb, Paulus beschränkt sich auf das Partizip Präs. („[seid] verabscheuend …). In V.18 setzt er zweimal den Infinitiv an der Stelle des Imperativs (χαίρειν, κλαίειν).

2. Beobachtungen zur literarischen Gestaltung

Paulus formuliert eine lockere Folge von „apodiktisch formulierten Exempeln“ des Verhaltens innerhalb der Gemeinden und des individuellen Verhaltens (Lohse, Römerbrief, 345). V. 9 ist eine allgemeine Regel, die Paulus als Überschrift setzt und in V. 21 abschließend wiederholt. Von V. 10–11a an werden ethische Haltungen und fromme Verhaltensweisen (11b–13) aufgereiht. In VV.14–16 kombiniert Paulus Imperative im Plural, Infinitive (s.o.), Partizipia Präs. und einen abschließenden Imperativ Plural (γίνεσθε).

Sehr sorgfältige stilistische Gestaltung: V.9a.10.12 Anapher, V.9b.14.15 Antithese. Die apodiktische Reihung (ohne „und“) erzeugt eine starke suggestive Wirkung: bitte laut auf Griechisch lesen! Ich habe jeweils die Wortstellung des Paulus beibehalten: Die nominalen Umstandsbestimmungen stehen jeweils voran, so dass eine sich auftürmende Leiter von Begriffen entsteht (in der Bruderliebe, in der Ehrerbietung …). Daher empfehle ich für die Predigt, meine Übersetzung zu benutzen, denn bei aller (deutschen) Schönheit der Lutherübersetzung sind die Dynamik und die Wucht des Paulusstils bei Luther nicht abgebildet.

3. Kontext und historische Einordnung

12,9–16 ist der zweite Teiltext der allgemeinen Paränese des Röm, die von 12,1–13,14 reicht. Vorangehende Texteinheiten: 12,1f. fungiert als Überschrift. Paulus mahnt zur „Erneuerung des Denkens“. In 12,3–8 wiederholt Paulus das Bild vom Leib und den Gliedern aus 1Kor 12, hier nicht nur auf die Charismen, sondern auf alle Dienste in der Gemeinde bezogen. Folgende Texteinheiten: 12,17–21, die Fortsetzung unseres Perikopentextes. Die apodiktische Mahnungskette wird fortgesetzt, aber stilistisch aufgebrochen (VV. 17 und 21 wiederholen die Antithese Gutes – Böses, V. 20 enthält ein langes Schriftzitat. Kap. 13 enthält mehrere Texteinheiten: 1–7 (Umgang mit Behörden), 8–10 (Gebot der Nächstenliebe), 11–14 (eschatologische Zeitansage).

Paulus schreibt mit Vorsicht und Diplomatie an die ihm persönlich unbekannte römische Gemeinde (nicht eine von Paulus gegründete ekklēsia am Ort, sondern ein Verbund verschiedener Vereinigungen Christus-gläubiger Männer und Frauen, Judenchristen und – überwiegend – Heidenchristen), die er nicht gegründet hat und deren Hilfe er für seine Spanienmission in Anspruch nehmen will. Daher formuliert er besonders sorgfältig und bleibt immer allgemein, ohne auf mögliche Situationen in Rom einzugehen. Die Kap. 12 und 13 sind so etwas wie ein kleines Kompendium der allgemein gültigen neuen Ethik der Christus-Gläubigen (anakaiōsis tou noos: Erneuerung des ethischen Denkens 12,2).

4. Theologische Perspektivierung

Paulus verbindet vier ethische Perspektiven, erstens die ganz allgemeine Grundlage Christus-förmiger Ethik: das Gute und die Agape. Daneben steht zweitens ein lockerer Katalog Christus-förmiger mitmenschlicher Verhaltensformen: Bruderliebe, Ehrerbietung, Gastfreundschaft, Arbeit, praktische Unterstützung. Drittens entwirft Paulus einen Katalog geistlich-frommer Verhaltensformen: Gebet, Segnen, leben mit Geistesgaben. Viertens mahnt Paulus eine psychologische Haltung an, die Einheit, gegenseitige emotionale Anteilnahme und Zurücknahme der eigenen Person umfasst. In V. 18 kommt noch das Stichwort „Frieden halten“ (eirēneuontes) hinzu. Lohse weist darauf hin, dass diese Paränese offen ist. Es geht nicht um neue ethische Regeln oder Normen, sondern um Möglichkeiten, die Paulus anbietet.

Besonders wichtig ist, dass Paulus in diesem Text, der auf jeden Fall gut vorgelesen werden muss, einen menschenliebenden spirit formuliert und seine Empfehlungen den Römern wie eine Initialzündung mitteilt. Er setzt weder auf eine ethische Reglementierung noch auf mögliche Sanktionen, sondern eröffnet neue Formen des Zusammenlebens und eines einheitlichen Christus-förmigen Lebensstils, die jeweils individuell oder gruppenbezogen erweitert werden können. Angesichts von Gesetzesregeln einerseits und ethischen philosophischen Tugendsystemen andererseits ist diese paulinische Ethik geradezu umwerfend offen. Das muss in der Predigtvorbereitung dargestellt werden.

Literatur

  • E. Lohse, Der Brief an die Römer. Meyers Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 4, Göttingen 2003.
  • O. Wischmeyer / E.-M. Becker, Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, UTB 2767, Tübingen 32021.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Exegetische Beobachtungen

Die exegetischen Überlegungen evozieren das Bild von Leitern. Man könnte dieses Bild weiterassoziieren: Paulus benutzt in Röm 12 Worte wie Säulen. Die Übersetzung in der exegetischen Reflexion löst dieses Bild aus und eröffnet gedankliche Räume. Worte wie Stahlträger – würde man in der neuzeitlichen Architektur heute vielleicht sagen. Paulus vermisst mit Worten die tragenden Elemente für ein neues Gebäude, in dem die zukünftigen Generationen von Christinnen und Christen geistig wohnen können.

Ich lerne aus der Exegese, dass die Wucht der Sprache das Gewicht des Anliegens unterstreicht, und ich lerne, dass die präsentische und substantivische Anlage dieser Säulenkonstruktion von Worten seinen Adressaten den Grundriss der neuen Lebens-Anlage erkennbar macht. Könnte man diese präsentische Sprache mit der Sprache Jesu in den Gleichnissen vergleichen, in denen die Gegenwart des Reiches Gottes im Hier und jetzt als erlebbar proklamiert wird?

In anderen Worten drückt diesen Gedanken von der Gegenwart Gottes im Leben der Menschen der Wochenspruch des 2. Sonntags nach Epiphanias aus, wo es heißt: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“ (1. Joh. 1,16).

Auch die Metapher des Lichts, die diesen Sonntag beherrscht, lässt sich auf das Bild eines neuen Lebensgebäudes beziehen: Denn Licht in der Dunkelheit ermöglicht eine Raumwahrnehmung, schafft Räume.

2. Theologische Fokussierung

Paulus kennt unterschiedlich regulierte Systeme des Zusammenlebens. Er kann also vergleichen.

Er kennt den mit religiösen Regeln durchorganisierten Alltag eines frommen Juden. Hier geht es um die Beobachtung und Einhaltung präziser Verhaltensvorschriften, die von den Speisen bis zum Umgang mit Menstruation und Geburt den Verlauf des Tages, der Monate und der Jahre regeln und auf genaue Einhaltung pochen. In seinem neuen christlichen Denkensystem bezeichnet er dieses Haus der Regularien als „Das Gesetz“, das jeden, der er befolgen will, in Übertretungen verwickelt und die Aufmerksamkeit auf die eigene Person fokussiert.

Zur Vorbereitung auf die Predigt könnte man die Türhüter-Parabel von Franz Kafka noch einmal lesen, in der ein Mann vor einer Türe auf den Einlass wartet, um „in das Gesetz“ zu gelangen. Er wartet ein Leben lang vor einer Türe, die sich bei seinem Tode vor ihm für immer schließt.

Es könnte sein, dass Franz Kafka im Einklang mit Paulus mit dieser Parabel die Ausweglosigkeit fassen möchte, die einen Menschen ergreift, wenn er versucht, das ganze Leben – in der Hoffnung, die göttlichen Räume zu erlangen – regelhaft zu gestalten. Der Raum hinter der Türe bleibt verschlossen.

Paulus kennt noch ein zweites ethisches System. Das ist das römische Gesetz, das unterschiedliche Klassen von Menschen kennt – zum Beispiel die mit dem römischen Bürgerrecht und die übrigen. In den Zeiten, in denen Paulus schreibt, wird das römische Recht sehr im Sinne der herrschenden Klasse ausgelegt. Korruption und Willkür sind an der Tagesordnung.

Paulus baut für die Gemeinde in Rom in seinem Brief ein neues Gebäude. Seine Worte sollen es tragen. Auch die neue Gemeinde in Rom, so lese ich in den exegetischen Überlegungen, setzt sich aus unterschiedlichen Herkünften und Lebensstilen zusammen, mit ähnlichen Fragestellungen wie heute.

Die Predigt könnte die unterschiedlichen Rechtssysteme mit den ethischen Ordnungen vergleichen, in denen wir uns heute bewegen: in einem Land, in dem Menschenrechte und Bürgerrechte gelten (sollen), für jeden gleich. In einem Land, in dem seit den großen Flüchtlingsbewegungen immer mehr Rechtsvorstellungen, Lebensstile und Kulturen aufeinanderstoßen und einander zum Teil ausschließen.

Auch Paulus lebte gleichzeitig in unterschiedlichen rechtlichen und ethischen Systemen und baut in Röm 12 ein geistiges Gebäude, das alles, was er bisher durchlebt hat – das Verlassen des jüdischen Gesetzes, Gefängnis nach römischen Gesetzen – hinter sich lässt.

In diese Situation hinein konstruiert Paulus der römischen Gemeinde einen großen geistigen Hoffnungsraum für die Zukunft. Keine Regeln und keine Gesetze!

Es geht um Haltungen, die diesem Raum einen Halt geben. Es gibt keine Klassen und keine Hierarchien. Es gibt keine einzelnen Regeln. Paulus setzt auf die Freiheit des Einzelnen und auf die Fantasie der Liebe, die jede und jeder entwickeln kann.

Und diese Fantasie der Liebe wird aus unterschiedlichen Quellen gespeist: Die Aufmerksamkeit wird auf die Beziehung zu den anderen Menschen gelenkt, in der Zuordnung zueinander versteht sich jeder und jede als „Unterstützer“ und „Unterstützerin“ des anderen. Ich wähle dieses Wort, weil im Adverb „unter“ die tragende und zugleich dienende Haltung steckt, die die Menschen einander angedeihen lassen in dieser neuen Weltordnung, in der das „oben“ nur für Gott gedacht ist.

Autoren

  • Prof. em. Dr. Dr. h.c. Oda Wischmeyer (Einführung und Exegese)
  • Prof. em. Johanna Haberer (Praktisch-theologische Resonanzen)

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