Deutsche Bibelgesellschaft

1. Johannes 5,11-13 | 2. Sonntag nach dem Christfest | 05.01.2025

Einführung in den 1. Johannesbrief

Der Erste Johannesbrief ist von seiner Form her weder eindeutig ein Brief noch nennt das Schreiben überhaupt einen Verfasser bzw. Absender. Die traditionelle Bezeichnung erklärt sich vielmehr aus der schon in der frühen Kirche üblichen Zusammenschau des Schreibens mit dem Zweiten und dem Dritten Johannesbrief einerseits und dem Johannesevangelium andererseits. Viele der Einleitungsfragen zum 1 Joh sind von der näheren Bestimmung dieser Verhältnisse in starker Weise bestimmt. Die Forschungsmeinungen sind hier vielfältig. Ein klarer Konsens ist nicht in Sicht. Einigkeit herrscht aber weitgehend darüber, dass Evangelium und Briefe aufgrund ihrer ähnlichen Sprache und eng verwandter Themen auf ein gemeinsames Herkunftsmilieu verweisen. Die Rede von einer „johanneischen Schule“, innerhalb derer die genannten Schriften entstanden seien, bietet einen hilfreichen Rahmen, um in Anlehnung an einen ähnlich auch anderswo in der antiken Welt zu beobachtenden Lehrbetrieb sowohl die Nähe zueinander als auch Entwicklungsstufen und Differenzen der genannten Schriften zu verstehen und zu erklären. Dass das Evangelium vom Zebedaiden Johannes als dem geliebten Jünger und Augenzeugen geschrieben sei, wie es sich spätestens seit Ende des 2. Jh. als Überzeugung durchsetzt (vgl. Irenaeus von Lyon: Adv.haer. III 1,1) und dann auch für die Briefe angenommen wird, hält einer historisch-kritischen Rückfrage dagegen nicht stand. Denn zum einen ist die Zuschreibung des Evangeliums an den geliebten Jünger in Joh 21 als nachträglich hinzugefügte Verfasserfiktion zu werten. Zum anderen zeigt sich bei Papias von Hierapolis im ersten Drittel des 2. Jh. (vgl. die Fragmente, die Euseb in Hist.eccl. III 39 überliefert), dass er zwar einen Presbyter Johannes (s.u. 1.) kennt, diesen aber nicht mit dem Verfasser des Evangeliums gleichsetzt.

1. Verfasser, Abfassungssituation und zentrale Themen

Halten wir uns an den traditionell als „Ersten Johannesbrief“ überlieferten Text, so haben wir es mit einem anonymen Schreiben zu tun. Möglicherweise wurde es wie 2 und 3 Joh vom „Presbyter“ verfasst (der dort allerdings nicht den Namen Johannes trägt). Dafür sprechen enge sprachliche Berührungen und ähnliche Themen. Insbesondere die Abwehr falscher Lehren und die klare Abgrenzung von denen, die sie verbreiten, bestimmen die Abfassungssituation aller drei Schreiben, wenn auch in unterschiedlich starkem Maße. Gegen eine Autorschaft des Presbyters spricht vor allem, dass er sich in 1 Joh nicht als solcher zu Wort meldet, sondern seine Autorität in der Konfliktlage anders begründet: In den ersten vier Versen präsentiert er sich hier als Teil einer Gruppe („wir“) von Augenzeugen des offenbar gewordenen „Wortes des Lebens“; mehr noch haben diese Zeugen nicht nur gesehen, sondern auch gehört und mit Händen begriffen, was sie nun als Heil bringende Botschaft verkünden. Gleich zu Beginn klingen also die Themen der Fleischwerdung Christi und der Verlässlichkeit dieses Zeugnisses an, die im weiteren Text mehrfach wieder aufgegriffen werden.

Im Fortgang des Textes spricht der Verfasser die intendierten Leserinnen und Leser mehrfach mit „Geliebte“ (ἀγαπητοί; vgl. 1 Joh 2,7; 4,11 u.ö. sowie 3 Joh 2.5) und „Kinder“ (παιδία/τεκνία; 1 Joh 2,7.18; 3,7.18 u.ö. sowie Joh 13,33) an. Die Beziehung scheint eng zu sein. Aus seiner Autoritätsposition heraus kann der Verfasser die Angesprochenen erinnern, bitten, ermahnen und belehren. Die Situation ist, wie oben schon angedeutet, ernst, denn es sind falsche Lehren in Umlauf, deren Befolgung den Verlust von Heil und Leben bedeuten würde. Da diese Lehren ihren Ursprung bei einstmals zur Gruppe Gehörigen genommen haben (vgl. 1 Joh 2,19), scheint die Verunsicherung besonders groß zu sein. Der Verfasser von 1 Joh begegnet dieser Herausforderung immer wieder mit definitorischen Sätzen der Form „Wer… (ὁ + Partizip), der…“ oder „jeder, der…, …“, die Klarheit schaffen sollen. Das führt zu einer gewissen Eintönigkeit in der Sprache. Die Gedankenführung bleibt dabei aber im Fluss und einmal getroffene Feststellungen werden durch neue weiterinterpretiert. So kann z.B. die in 1 Joh 3,24 ausgedrückte wechselseitige Immanenz „Wer seine Gebote hält, bleibt in ihm und er in ihm“ in 1 Joh 4,15 mit einer anderen Bedingung im Vordersatz verknüpft werden (4,15: „Wer bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er bleibt in Gott“; vgl. auch 4,16) oder aus dem Bleiben in Gott gefolgert werden: „Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht“ (3,6).

Eine klare Gliederung des Textes anhand von Themenbereichen ist schwierig. Schlüsselwörter, wie „(ewiges) Leben“ oder „Liebe/lieben“ verteilen sich über den gesamten Text, andere, wie „Licht (und Finsternis)“ (1 Joh 1,5–2,11), „Zeugnis/bezeugen“ (1 Joh 1,2; 4,14; 5,6–11) etc. bilden zwar erkennbarere Cluster, bleiben aber immer auch mit dem übrigen Text vernetzt. Ein wichtiges Anliegen ist das ethische Verhalten: Aufforderungen, wie die Gebote zu halten (1 Joh 2,3–8; 3,22–24; 4,21–5,3), einander zu lieben (1 Joh 3,11.14.23; 4,7.11f.) und die Gerechtigkeit zu tun (1 Joh 2,29; 3,7–10), begegnen mehrfach, führen allerdings selten zu einer konkreteren Handlungsanweisung (abgesehen vielleicht von 1 Joh 3,16f.). Christologisch ist zentral, Jesus als den Christus zu bekennen, der im Fleisch gekommen ist und aus Gott ist (1 Joh 2,22; 4,2f.; vgl. auch 1,1f.).

2. Gattung, Zeit und Ort

Aufgrund der vielen direkten Ansprachen des Verfassers an die Adressierten hat 1 Joh zweifellos Ähnlichkeiten mit einem Brief, auch wenn es weder einen typischen Briefanfang noch -schluss gibt. Der Text ließe sich aber auch als stark paränetisch profilierte Homilie einordnen. So, wie in den Eingangsversen der Anfang des Johannesprologs anklingt, tauchen auch im weiteren Textverlauf immer wieder Passagen auf, die an Aussagen aus dem Johannesevangelium erinnern. Ob diese Ähnlichkeiten sich einer direkten Abhängigkeit (und damit einer zeitlichen Vorordnung des Evangeliums) verdanken oder sich aus dem gemeinsamen Gedankengut der johanneischen Schule erklären, zählt zu einer der meistumstrittenen Fragen in der Johannesforschung. Wenn man das Johannesevangelium kennt, fällt es schwer, 1 Joh zu lesen, ohne solche Bezüge herzustellen. Andererseits muss man sie nicht zwingend voraussetzen. In jedem Falle bietet 1 Joh nicht einfach Wiederholungen, sondern lässt ein eigenes theologisches Profil erkennen: So ist z.B. in 1 Joh 2,1 Jesus Christus der „Fürsprecher“ (παράκλητος), nicht wie in Joh 14,26 (u.ö.) der Geist; zu „wissen“ wird gegenüber dem „Glauben“ nicht so kritisch abgesetzt wie im Evangelium, nur in 1 Joh spielt die Salbung (χρῖσμα) eine wichtige Rolle, nur in 1 Joh 2,2 und 4,10 wird Jesus als ἱλασμός bezeichnet. Die Entstehungszeit von 1 Joh ist aufgrund fehlender Indizien im Text, die sich diesbezüglich auswerten ließen, wiederum nur in Relation zur Entstehung des Johannesevangeliums zu bestimmen. Datiert man dieses mit der Mehrheit der Forschung in den Bereich der Jahrhundertwende vom 1. zum 2. Jh., dann wird 1 Joh in unmittelbarer zeitlicher Nähe anzusiedeln sein. Als Ort der johanneischen Gemeinden (oder der „Schule“) ist Ephesus die wahrscheinlichste Wahl, auch wenn sich dazu in 1 Joh selbst erneut keine eindeutigen Hinweise finden. Immerhin weist die altkirchliche Tradition deutlich in diese Richtung.

Literatur:

  • EKK: Hans-Joachim Klauck, Der erste Johannesbrief, Neukirchen-Vluyn 1991.
  • NTD: Theo K. Heckel, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, Göttingen 2019.
  • Joachim Kügler, Der erste Johannesbrief, in: Martin Ebner/Stefan Schreiber (Hg.), Einleitung ins Neue Testament, Stuttgart 32020, 542–553.561–564.

A) Exegese kompakt: 1 Johannesbrief 5,11–13

11καὶ αὕτη ἐστὶν ἡ μαρτυρία, ὅτι ζωὴν αἰώνιον ἔδωκεν ἡμῖν ὁ θεός, καὶ αὕτη ἡ ζωὴ ἐν τῷ υἱῷ αὐτοῦ ἐστιν. 12ὁ ἔχων τὸν υἱὸν ἔχει τὴν ζωήν· ὁ μὴ ἔχων τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ τὴν ζωὴν οὐκ ἔχει.

13Ταῦτα ἔγραψα ὑμῖν, ἵνα εἰδῆτε ὅτι ζωὴν ἔχετε αἰώνιον, τοῖς πιστεύουσιν εἰς τὸ ὄνομα τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ.

1. Johannes 5:11-13NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

11a Und dies ist das Zeugnis,

11b dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat.

11c Und dieses Leben ist in seinem Sohn.

12a Wer den Sohn hat, hat (auch) das Leben.

12b Wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht.

13a Dies habe ich euch geschrieben,

13b damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt,

13c denen, die glauben an den Namen des Sohnes Gottes.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 13 τοῖς πιστεύουσιν: Der Dativ greift etwas umständlich das ὑμῖν vom Anfang des Verses wieder auf; ein Partizip im Nominativ wäre grammatisch einfacher (so u.a. im Codex Alexandrinus und in einer Korrektur des Codex Sinaiticus), die Formulierung entspricht aber in auffälliger Weise einer identischen Formulierung in Joh 1,12 (s. dazu unten 4.). Zweifellos ist sie als lectio difficilior ursprünglich.

V. 13 lässt insgesamt eine große Ähnlichkeit mit dem ersten Buchschluss des Johannesevangeliums, Joh 20,31f., erkennen, die in manchen Handschriften durch entsprechende Textveränderungen noch deutlicher herausgestellt wird.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der Text erscheint auf den ersten Blick leicht verständlich und eingänglich. Die relativ kurzen Deklarativ-Sätze enthalten keinerlei Spezialtermini, sondern vielmehr gebräuchliche Alltagswörter, die zugleich auch zum häufig genutzten Vokabular der johanneischen Schriften gehören. V. 12b ist die fast identische Negation von V. 12a, bietet in den beiden Hauptsätzen aber eine chiastische Wortstellung (ἔχει τὴν ζωήν / τὴν ζωὴν οὐκ ἔχει). Bei aller Einfachheit ist der Text also stilistisch nicht anspruchslos. Durch die mehrfache Wiederholung verschiedener Wörter (u.a. 6x Formen von „haben“; 5x „Leben“) vermittelt er eine gewisse Eindringlichkeit.

3. Historische Einordnung

So, wie eine Gliederung des 1 Joh insgesamt nicht leicht zu erstellen ist, gestaltet sich auch die Perikopenabgrenzung für 1 Joh 5,11–13 schwierig. Sie ist nach hinten deutlich leichter, auch wenn in manchen Übersetzungen (z.B. Luther 2017) V. 13 vom Vorhergehenden abgesetzt und mit diesem Vers der Schlussabschnitt von 1 Joh eingeleitet wird. V. 13 ist aber vielmehr selbst ein Abschlusssatz (zur Ähnlichkeit mit dem ersten Buchschluss in Joh 20,31f. s.o.). Möglicherweise sind die sich anschließenden Verse 1 Joh 5,14–21 ein erst nachträglich angefügter Anhang, wodurch 1 Joh 5,13 im uns vorliegenden Text nun als Überleitung fungiert. Tatsächlich eignet sich der Vers als Briefabschluss aber deutlich besser als 1 Joh 5,21. Für die Predigt kann der Text somit gut mit 5,13 enden, zugleich wird damit aber auch deutlich, dass in der Formulierung „Das habe ich euch geschrieben“ noch einmal das Ganze des Textes von 1 Joh und nicht nur das unmittelbar Vorausgehende in den Blick kommt.

Dem entspricht in gewisser Weise, dass die Abgrenzung der Perikope nach vorn schwierig ist: „Und dies ist das Zeugnis“ macht klar, dass auf Vorangegangenes Bezug genommen wird. Um die μαρτυρία geht es bereits ab 1 Joh 5,7 in intensiver Weise. Aber auch schon zu Beginn des Textes in 1 Joh 1,1f. spielt das Bezeugen (μαρτυρεῖν) dessen, „was von Anfang an war“ (Ὃ ἦν ἀπʼ ἀρχῆς) und was die Zeugen gesehen, gehört, betastet und verkündigt haben „vom Wort des Lebens“ (περὶ τοῦ λόγου τῆς ζωῆς), eine wichtige Rolle. Mit „Leben“ ergibt sich eine weitere zentrale Verbindung zwischen dem Textanfang und seinem Abschluss, insgesamt aber auch zum Anfang des Johannesprologs Joh 1,1–4: Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος … ἐν αὐτῷ ζωὴ ἦν.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Durch sein fünffaches Auftreten ist „Leben“ zweifellos das wesentliche Schlüsselwort des Predigttextes. Zweimal wird es als „ewiges Leben“ charakterisiert, eine wirkliche Differenz zur einfachen Nennung lässt sich aber nicht ausmachen. „Leben“ ist das, was Gott „uns“ bereits gegeben hat (V. 11a), es ist zweifellos mehr als das biologische Am-Leben-Sein. Das Leben ist in seinem Sohn (V. 11c; vgl. Joh 1,4!) und daher „hat“, wer den Sohn „hat“, auch das Leben bzw. umgekehrt (V. 12). V. 13 schärft dann nochmals ein, dass die Angesprochenen wissen sollen, dass sie das ewige Leben „haben“. Um die Vermittlung einer Gewissheit, dieses Leben tatsächlich zu haben, scheint es dem Verfasser angesichts der mehrfachen affirmativen Wiederholungen vor allem zu gehen. Dennoch verweist er mit V. 12b auch auf die Möglichkeit, dass man den Sohn und damit das Leben nicht haben könnte. Wie kann man also Sicherheit gewinnen? Wie „hat“ man den Sohn und das Leben?

Ich sehe zwei Spuren der Zusicherung, die der Text legt. Zum einen ist der mehrfache Verweis auf das Zeugnis wichtig. Am Anfang reiht sich der Verfasser von 1 Joh ausdrücklich in die Gruppe der Augen-, Ohren- und Berührungszeugen ein, die den fleischgewordenen Logos, den Gottessohn, erlebt haben. Aber nicht nur Menschen zeugen für Jesus als dem von Gott gesandten Sohn, sondern Gott selbst (1 Joh 5,9) sowie der Geist, das Wasser und das Blut (1 Joh 5,7f.). Damit kommt einerseits nochmals die Menschwerdung in den Blick (Wasser und Blut, „durch“ und „in“ denen Jesus laut 1 Joh 5,6 gekommen ist, sind die wesentlichen Lebenssäfte des Menschen; vgl. Joh 19,34). Ebenso lassen sich die Verse 1 Joh 5,7f. aber auch als Anspielung auf Taufe und Abendmahl verstehen. Hier können auch die Nachgeborenen, die Jesus eben nicht mehr wie die Zeugen vom Anfang sehen, hören und berühren können, möglicherweise anknüpfen, wenn es darum geht, sich konkret vorzustellen, wie man Jesus und das Leben „haben“ könnte.

Die zweite Spur der Zusicherung des Lebens liegt im Selbstverständnis derer, die sich zur in 1 Joh angesprochenen Gemeinschaft zugehörig fühlen, als von Gott Gezeugte. Sechs Mal begegnet diese Formulierung (1 Joh 2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18) als eine Art Eigenbezeichnung der Gruppe und wird flankiert durch die mehrfache Anrede als „Kinder“ (τεκνία/παιδία). Die Antwort auf die Frage, wie Gott Leben gibt und warum es bereits da ist, ist auf metaphorischer Ebene daher ganz einfach: Er hat die so Angesprochenen gezeugt, so wie es auch im Johannesprolog von den Kinder Gottes gesagt wird (Joh 1,12f.). Die metaphorische Aussage zieht ihre Argumentationskraft aus dem Sinnbereich der Zeugung: Hier wird Leben erst einmal (und grundsätzlich und unverlierbar) gegeben ohne das Zutun oder irgendeine Leistung derer, die gezeugt werden. Im Denkrahmen der johanneischen Schriften lässt sich das jedoch nur erkennen, indem man an den von Gott gesandten Sohn glaubt (ihn „hat“). Dann „hat“ man auch das (wahre) Leben – schon in diesem Leben. Alle anderen (vgl. 1 Joh 5,12b) bleiben von diesem Leben (vorerst?) ausgeschlossen. Der 1 Joh kennt hier keine Grauzonen, es gibt nur ein Entweder-oder. Das, was die anderen für Leben halten mögen, verdient aus johanneischer Perspektive diesen Namen nicht. Damit wird eine scharfe Grenze gezogen, die sowohl der Selbstprüfung, aber wohl noch mehr der Stärkung der Gruppenidentität der johanneischen Gemeinschaft dient. In der heutigen Lebenswelt, in der wir in Kontexten leben, in denen der christliche Glaube zunehmend zu einer Randerscheinung und einer Sache des privaten Lebens geworden ist, wirkt eine solche Aussage schnell sektiererisch und befremdlich.

5. Kurzcharakteristik des Textes

Gott hat das Leben gegeben, schon jetzt und ewig. Von dieser Gewissheit will der Text die Lesenden überzeugen: Sie „haben“ das Leben, indem sie den Sohn „haben“ bzw. an ihn glauben. Sie können sich des Lebens gewiss sein, weil es (1.) zuverlässige Zeugen dafür gibt, dass in Jesus (in Wasser und Blut) dieses Leben wirklich gekommen ist und durch ihn (und in Taufe und Abendmahl) weitergegeben wird, und weil sie (2.) als Glaubende wissen können, dass sie von Gott gezeugt sind, der ihnen anfänglich und unverlierbar dieses Leben gegeben hat und sich in eine Beziehung zu ihnen gesetzt hat.

Die Herausforderung für die Predigt besteht m.E. darin, diese Gewissheit eines schon jetzt präsenten, von Gott in besonderer Weise qualifizierten Lebens, angesichts der aktuellen Lebenserfahrungen von Menschen plausibel zu machen. Nicht die Abgrenzung zu anderen, die das Leben „nicht haben“ sollte dabei den Duktus der Predigt bestimmen. Es gilt vielmehr, das von Gott gegebene Leben ins Zentrum zu stellen und im Gegensatz zur nach innen gerichteten Pragmatik des Predigttextes nach der Strahlkraft dieses Lebens nach außen, in die Welt hinein zu fragen.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Ich finde es herausfordernd, über ein biblisches Buch zu predigen, das selbst Merkmale einer Predigt hat. Kann ich als Prediger heute in die Rolle des Briefverfassers von damals schlüpfen bzw. wie weit darf ich das? Ich habe, wie er, eine Gemeinde vor mir, die ich gut kenne. Auch ich möchte diese immer wieder dazu ermutigen, ihrem Glauben zu trauen.  Ist es nicht anmaßend, wenn ich als Prediger versuche, dem Prediger aus vergangener Zeit gleichsam auf die Finger zu schauen, um zu sehen und dann erklären zu können, wie er damals seine Zuhörer zu packen wusste?

Andererseits ist diese Situation auch reizvoll. Ich kann mich durch die Predigt eines biblischen Autors inspirieren lassen in meinem Predigen, bei aller Distanz und mit allem Respekt. Er spricht zu seinem „Zielpublikum“ damals, das in seinen grundsätzlichen Fragen zu Leben und Glauben mit meinem heutigen viele Gemeinsamkeiten hat. Denn was der johanneische Prediger wirklich beherrscht, gerade auch in diesem Abschnitt, ist, die „basics“ des Glaubens kurz und eingänglich auf den Punkt zu bringen: Gott gibt Leben, das Leben ist in seinem Sohn, und wer den Sohn hat, hat das Leben. Punkt.

Haben die Menschen das damals so nehmen können? Können es meine Zuhörer heute? Einfach formulierte Antworten waren und sind attraktiv. Allerdings ist einfach Formuliertes nicht automatisch auch einfach Gedachtes, schon gar nicht einfach zu Verstehendes. 1 Joh zeigt mir das wieder einmal. Eine schnelle Antwort auf die Grundfragen des Glaubens sind die Formulierungen des Predigttexts sicher nicht. Sie wirken auf mich nicht wie plakative Slogans, wie ich sie aus der Politik kenne. Vielmehr provozieren sie in ihrer Klarheit zunächst einmal neue Unklarheiten: Was ist es wirklich, dieses „Leben schlechthin“, das mir im Glauben zugesagt ist? Wie kann ich darüber sprechen, ohne vage zu bleiben?

Es geht darum, über eine Predigt zu predigen, um sie für meine Zuhörer verstehbar zu machen. Gleichzeitig darf ich nicht den Anschein erwecken, es besser zu können oder zu wissen als mein biblisches Gegenüber. 

2. Thematische Fokussierung

So kann ich auch Gemeinsamkeiten zwischen der Hörerschaft damals und heute zum Thema machen: Waren es offenbar falsche Lehren, vor denen 1 Joh als Bedrohung für das Seelenheil der Gläubigen warnt, so sieht Zweifel an dem, was zu glauben ist und geglaubt werden kann, für meine Predigthörer anders aus. Sie wissen ja selbst, was sie zweifeln lässt, aufgrund von Erfahrungen in bestimmten Lebenskrisen, aber auch durch die intellektuelle Auseinandersetzung mit der biblischen Botschaft: „Kann man so etwas heute überhaupt noch glauben?“ ist doch eine Frage, die gerne als Rückmeldung auf Predigten kommt. Das gelegentlich schemenhaft Wahrgenommene des Glaubens in Spannung mit der klaren Ansage des 1 Joh möchte ich ansprechen.

Denn die Heilsgewissheit des 1 Joh erscheint wie ein Fremdkörper im Umfeld meiner Predigthörer. Sie leben, je nach Situation, in einem multireligiösen, areligiösen oder gar antireligiösen Umfeld. Der klare Aufbau der Argumentation in der Perikope: Gott gibt Leben, das Leben ist in seinem Sohn, und wer den Sohn hat, hat das Leben – provoziert Vergleiche mit den einfachen Antworten bestimmter religiöser Gruppen und Strömungen unserer Zeit. Der Verfasser von 1 Joh ist kein Fundamentalist oder Radikaler im heutigen Sinne, das werde ich deutlich zu machen haben. Allerdings sind „Fundament“ und „Verwurzelung“ seine Themen. Ich werde also ansprechen müssen, dass meine Glaubensgewissheit zunächst einmal meine ist und nicht für alle anderen gleich sein muss und kann. 1 Joh muss sich der heutigen Pluralität innerhalb der christlichen Gemeinschaft, der unterschiedliche Ausprägung der von ihm proklamierten gemeinsamen Basis stellen. Kann diese Basis in eine ähnlich klar strukturierte Argumentationsführung auch in einer Predigt heute gegossen werden? Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall.

Dass der Verfasser des 1 Joh schon zuvor an seine Gemeinde geschrieben hat (und ich höre heraus, dass er das wiederholt getan hat), ist für mich Inspiration, Kontinuitäten in der Glaubensgeschichte zum Thema zu machen. Die gab und gibt es auf dem persönlichen Glaubensweg, wie auch in der Entwicklung der Kirche selbst. Der Autor kann auf selbst Erlebtes als Zeitzeuge Jesu zurückgreifen (oder hat zumindest diesen Anspruch). Sind wir nicht auch eine Art „Zeitzeugen“, wenn wir uns unserer jeweiligen Glaubensbiografie einmal genauer anschauen? Wir haben ja auch schon sehen, hören und mit Händen greifen dürfen, wie Gott sich in dieser Welt manifestiert. Dies auch authentisch zu bezeugen, dazu kann die Predigt ermutigen. Das schließt nicht aus, dass wir auch in vielen Momenten an der Situation unserer gegenwärtigen Welt leiden, weil dieses Leben gerade nicht erfahrbar wird.

Wohl kaum wird vermeidbar sein, dass V. 12b Irritationen unter den Predigthörern auslöst. Wer sind die, die das „Leben“ nicht haben? Wie kann Gott in seiner Liebe überhaupt zulassen, dass es solche Mitmenschen auch gibt? Fast könnte man hier als Glaubender ein schlechtes Gewissen bekommen. Die eigene Glaubensgewissheit stellt mich nicht über andere; dass ich glauben kann, ist unverfügbares Geschenk. Die Predigthörer werden sich wohl fragen, wer diese „Anderen“ sind. Ich werde dazu Stellung nehmen müssen, aber eben nur in dem Sinne, dass Gott hier allein entscheidet und seine Entscheidungen uns verschlossen bleiben müssen. Ich bin mir bewusst, dass so zu argumentieren theologisch berechtigt, für meine Gemeinde aber nicht zwangsläufig schlüssig ist. Diese Undurchschaubarkeit Gottes spreche ich an, und auch dass nur so Gott, in seiner Souveränität, Gott sein kann.

3. Theologische Aktualisierung

Ich denke, die Predigt kann Beispiele aufgreifen, selbst erlebte oder mir erzählte, wie wir zu Zeugen wurden, dass Gott in Christus ganz in dieser Welt ist. Hier möchte ich bewusst die Grenze zwischen den ersten Zeugen damals und uns heute verschwimmen lassen.

Die prägnanten Formulierungen zum Leben in Christus in 1 Joh müssen selbst Leben jenseits des rein Deklarativen gewinnen. Sie sind ja nicht dazu gedacht, gerahmt und übers Bett gehängt, sondern mit Geist gefüllt zu werden. Mir fällt dazu das Beispiel Konfirmationsspruch ein. Dieser ist ja auch knapp formuliertes „Statement“, bedingt durch den besonderen Moment, an dem er uns zugesprochen wurde, aber auch durch seine Vorgeschichte, wie und mit welcher Absicht er für uns ausgewählt wurde (oder wir ihn selbst auswählen durften.) Er erinnert an eine wichtige Station meiner persönlichen Glaubensreise, war Zeitzeuge dieses Moments. Gleichzeitig entwickelt er, einmal wieder herausgeholt, eine eigene Kraft, lässt mich einen „roten Faden“ im Leben vermuten oder fest daran glauben. Der Konfirmationsspruch hat so eine besondere deklaratorische Qualität.

Die Gewissheit, im Glauben an Christus das (ewige) Leben zu haben, möchte ich präsentisch thematisieren, also in dem Sinne, dass das ewige Leben jetzt schon beginnt. Mein dadurch so besonders erfüllt gewordenes Leben will aber geteilt sein. So, denke ich, kann auch der problematisch empfundene Aspekt der Menschen, die das Leben nicht haben, integriert werden. Leben in Christus ist Auftrag und macht mich großzügig, mit wem immer ich in Berührung komme.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Die Perikope ist Predigttext ganz zu Beginn des Kalenderjahres. Dadurch kann beides angesprochen werden: die Gewissheit, das Leben zu haben, aber auch die Vorstellungen darüber, was „das Leben“ eigentlich wirklich ist, oder wie ich es mir vorstelle, gerade jetzt, mit dem ganzen neuen Jahr noch vor mir.

Hier hilft der Text zu verdeutlichen, dass zum Jahresanfang das im 1 Joh angesprochene Leben nicht erst gesucht werden muss, gleichsam als Neujahrsvorsatz. Vielmehr ist es einfach schon da. Dieses Geschenk Gottes verstehe ich als geschenkte Beziehung, die mir schon in die Wiege gelegt oder Teil meiner geistlichen DNA ist. Mit diesem Bild möchte ich das „von Gott Gezeugt-Sein“ in der johanneischen Theologie verständlich machen und so den Blick in das gerade begonnene Jahr schärfen.

5. Anregungen

Das bewusste Thematisieren des Aspekts, dass ich über eine Predigt Predigender bin, kann Inspiration sein, die Predigt als Dialog oder Briefwechsel mit dem Verfasser von 1 Joh zu gestalten, in dem wir dann beide auch über unsere Gemeindemitglieder sprechen, über deren Fragen, Zweifel und Bedenken.

Autoren

  • Prof. Dr. Ulrike Kaiser (Einführung und Exegese)
  • Johannes Wittich (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500088

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