Deutsche Bibelgesellschaft

Matthäus 21,1-11 | 1. Sonntag im Advent | 01.12.2024

Einführung in das Matthäusevangelium

Das MtEv gehört seit seiner Entstehung zu den wichtigsten Büchern des Neuen Testaments und hat die Geschichte der weltweiten Christenheit geprägt wie kein anderes Buch. Entsprechend anhaltend ist das Interesse daran auch in der wissenschaftlichen Forschung. Allerdings hat die Durchsetzung der Mk-Prioriät im 19. Jh. das MtEv als ältestes und apostolisches Evangelium in der historisch-kritischen Forschung zurückgestuft zu einer Parteischrift judenchristlicher Gemeinden, die gegenüber anderen frühchristlichen Milieus das Festhalten an einem wörtlichen Verständnis der Tora des Mose vertraten. Damit verbunden ist die Frage, ob sich die sog. „Gemeinde des Matthäus“ noch als Teil der jüdischen Glaubens- und Volksgemeinschaft verstand (bzw. von dieser noch als Teil derselben akzeptiert wurde) oder ob das Evangelium von einer eigenständigen Entwicklung der sich auf Jesus als Messias beziehenden Gemeinschaften ausgeht, wissend, dass dies mit einem Abweichen vom Weg der Mehrheit in Israel einhergeht. In diesem Fall wird das Evangelium als Versuch einer eigenen Orts- und Zeitbestimmung in Gottes Geschichte mit seinem Volk und den Völkern der Welt verstanden. Eine zentrale Rolle in der Entscheidung dieser Frage hat das jeweils vorausgesetzte Verhältnis des Evangelisten zur Tora. Gegen das in der gegenwärtigen Forschung vielfach vertretene Verständnis eines von Mt intendierten wörtlichen Praktizierens aller Toragebote spricht, dass die kirchliche Praxis sein Evangelium nie in dieser Weise verstanden oder praktiziert hat. Die Interpretation pro Tora würde also bedeuten, dass Mt in der Kirche von Anfang an gegen seine eigene Intention gelesen und gepredigt wurde. Die Folge ist eine weitere Aushöhlung des protestantischen sola scriptura.

1. Verfasser

Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.

2. Adressaten

Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.

3. Entstehungsort

Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl mit der Vergebung der Sünden εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν]; Gericht und Eingang ins Leben als wichtige Orientierungspunkte) und Ethik (6,1; 7,24; 25,40.45: die Betonung des Tuns/ποιέω) aus der besonderen Perspektive hinsichtlich des Verhältnisses zu den Traditionen Israels, dem jüdischen Volk in Vergangenheit und Gegenwart sowie der Tora. Das MtEv enthält einige der bekanntesten neutestamentlichen Texte, darunter die weltweit in allen Kirchen benützte Fassung des Vaterunsers und die Bergpredigt, aber auch problematische Texte wie die große Scheltrede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23), die antijüdische Voreingenommenheiten (z.B. Klischees über die Pharisäer) bis heute befeuern. Diese Gefahr bestand immer dann, wenn die Entstehungssituation des Evangeliums nicht reflektiert und die polemische Rhetorik einer Gemeinde in einer bedrängten Minderheitensituation, die gleichwohl selbstbewusst für ihre Botschaft eintrat, von einer sich über das jüdische Volk erhebenden christlichen Kirche bruchlos übernommen wurde. Das wirkte sich so unheilvoll aus, weil kein Evangelium im Lauf der Kirchengeschichte mehr gepredigt wurde als Matthäus. Dabei ist es vor allem der mt Redestoff, der für katechetische und homiletische Zwecke herangezogen wurde und wird, während im Erzählstoff die farbigeren Darstellungen bei Mk und Lk bekannter sind.

5. Besonderheiten

Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem; Passionsbericht und Auferstehung bilden den Abschluss. Einzelne Perikopen werden durch Schlüsselworte und gleichartige Formulierungen zu thematischen Erzählfäden verbunden, so dass sich die Gesamtsicht der mt Botschaft am besten durch wiederholtes und zusammenhängendes Lesen erschließt. Das macht es wahrscheinlich, dass das Evangelium von Anfang an für den gottesdienstlichen Gebrauch intendiert war. Herausragendes Merkmal sind die fünf großen Reden in den Kapiteln 5–7, 10, 13, 18 und 24f., die alle nahezu identisch abgeschlossen werden (7,28; 11,1; 12,53; 19,1; 26,1). Der biographisch-historische Rahmen ist durch die gleichlautenden Einleitungen in 4,17 (Ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς + Infinitiv als Einleitung in das öffentliche Wirken Jesu vor allem in Galiläa) und 16,21 (als Beginn der Passionserzählung mit dem Fokus auf Jerusalem) markiert. Auch die Passionsgeschichte, die weitgehend mit Mk parallel geht, ist als Erfüllung dessen dargestellt, was der Evangelist in Israels Heiligen Schriften an Vorausverweisen auf Jesus fand (26,54.56; 27,9).

Literatur:

  • Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
  • Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
  • Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
  • Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.

A) Exegese kompakt: Matthäus 21,1-11

1Καὶ ὅτε ἤγγισαν εἰς Ἱεροσόλυμα καὶ ἦλθον εἰς Βηθφαγὴ εἰς τὸ ὄρος τῶν ἐλαιῶν, τότε Ἰησοῦς ἀπέστειλεν δύο μαθητὰς 2λέγων αὐτοῖς· πορεύεσθε εἰς τὴν κώμην τὴν κατέναντι ὑμῶν, καὶ εὐθέως εὑρήσετε ὄνον δεδεμένην καὶ πῶλον μετ’ αὐτῆς· λύσαντες ἀγάγετέ μοι. 3καὶ ἐάν τις ὑμῖν εἴπῃ τι, ἐρεῖτε ὅτι ὁ κύριος αὐτῶν χρείαν ἔχει· εὐθὺς δὲ ἀποστελεῖ αὐτούς. 4τοῦτο δὲ γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν διὰ τοῦ προφήτου λέγοντος·

5εἴπατε τῇ θυγατρὶ Σιών·

ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι

πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὄνον

καὶ ἐπὶ πῶλον υἱὸν ὑποζυγίου.

6πορευθέντες δὲ οἱ μαθηταὶ καὶ ποιήσαντες καθὼς συνέταξεν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς 7ἤγαγον τὴν ὄνον καὶ τὸν πῶλον καὶ ἐπέθηκαν ἐπ’ αὐτῶν τὰ ἱμάτια, καὶ ἐπεκάθισεν ἐπάνω αὐτῶν. 8ὁ δὲ πλεῖστος ὄχλος ἔστρωσαν ἑαυτῶν τὰ ἱμάτια ἐν τῇ ὁδῷ, ἄλλοι δὲ ἔκοπτον κλάδους ἀπὸ τῶν δένδρων καὶ ἐστρώννυον ἐν τῇ ὁδῷ. 9οἱ δὲ ὄχλοι οἱ προάγοντες αὐτὸν καὶ οἱ ἀκολουθοῦντες ἔκραζον λέγοντες·

ὡσαννὰ τῷ υἱῷ Δαυίδ·

εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι κυρίου·

ὡσαννὰ ἐν τοῖς ὑψίστοις.

10Καὶ εἰσελθόντος αὐτοῦ εἰς Ἱεροσόλυμα ἐσείσθη πᾶσα ἡ πόλις λέγουσα· τίς ἐστιν οὗτος; 11οἱ δὲ ὄχλοι ἔλεγον· οὗτός ἐστιν ὁ προφήτης Ἰησοῦς ὁ ἀπὸ Ναζαρὲθ τῆς Γαλιλαίας.

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Übersetzung

1 Und als sie sich Jerusalem näherten und kamen nach Betfage zum Berg der Ölbäume (= Ölberg), da sandte Jesus zwei Jünger 2 und sagte ihnen: Geht in das Dorf, das gegenüber von euch, und ihr werdet rasch eine angebundene Eselin finden und ein Fohlen mit ihr. Nachdem ihr sie losgebunden habt, führt (sie) zu mir. 3 Und wenn einer etwas zu euch sagen sollte, könnt ihr ihm sagen, dass der Herr ihrer bedarf. Rasch aber wird er sie senden. 4 Dies aber ist geschehen, damit erfüllt wird das Gesagte durch den Propheten, wenn er sagt (Sach 9,9): 5 „Sagt der Tochter Zion:

          Siehe, dein König kommt zu dir,
                       sanftmütig und aufgesessen auf einem Esel
                       und auf einem Fohlen, Nachkomme eines Zugtieres.

6 Indem die Jünger so hingingen und taten, wie es ihnen Jesus befohlen hatte 7, führten sie die Eselin und das Fohlen und legten auf sie (Plural) die Obergewänder, und er setzte sich oben auf sie. 8 Aber der Großteil der Menge breitete ihre eigenen Obergewänder auf dem Weg aus, einige aber hieben Zweige von den Bäumen und breiten sie auf dem Weg aus. 9 Aber die Massen, die vor ihm hergingen und die ihm folgten schrien und sagten (Ps 118,25f.):

          Hosanna dem Sohn Davids!
                       Es sei gesegnet der Kommende im Namen des Herrn!
                       Hosanna (Ps 118,25) in den höchsten Höhen (Ps 148,1)!

10 Und als er nach Jerusalem hineinkam, war die ganze Stadt(bevölkerung) in Aufregung versetzt und sagte: „Wer ist dieser? 11 Aber die Massen sagten: „Dies ist der Prophet Jesus, der aus dem Nazareth Galiläas."

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.1 Die Ortslage Betfage (nur hier sowie Mk 11,1 / Lk 19,29 im NT) am Ostabhang des Ölberges markiert in frühjüdischer Zeit die religionsgesetzliche Grenze für Jerusalem, d.h. ab Betfage gelten die besonderen Reinheitsvorschriften für Jerusalem. Der Ort liegt an der antiken Verbindungsstraße von Jericho nach Jerusalem und damit an der Route, die die galiläischen Pilger nahmen, wenn sie zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem kamen. Etwa 1km vor Betfage liegt Betanien, wo Jesus mehrfach zu Gast war (vgl. Mt 21,17; 26,6; Joh 11,1.18; 12,1). Das gegenüberliegende Dorf ist nicht bestimmbar. Sieht man Jesus noch auf dem Weg nach Betanien, wie es manche Kommentare tun, dann wäre Betfage der Ort, wo sich die Esel befinden.

V.3 ὁ κύριος αὐτῶν „ihr Herr“ – diskutiert wird, ob damit Gott gemeint ist, oder der eigentliche Besitzer der Tiere, den man sich in der Begleitung Jesu vorstellt, oder – und das ist am wahrscheinlichsten –  Jesus als königlicher Messias, der sein Königsrecht (vgl. 1Sam 8,16) ausübt (auch Gen 49,10f. und Jes 1,3 klingen mit ihren jeweiligen Kontexten an).

V.5 Zum Zitat aus Sacharja: Im ersten Teil ersetzt der Evangelist (oder seine Vorlage) die Anrede „Freue dich sehr, Tochter Zion“ Sach 9,9 mit der Anrede „Sagt der Tochter Zion“ aus Jes 62,11. Beide Verse verbindet die Anrede an Jerusalem als „Tochter Zion“, die 28-mal in der Bibel vorkommt (vor allem bei Jesaja, Micha, Jeremia und in den Klageliedern, bei Sacharja auch schon in 2,14). In beiden Fällen, Jes 62,11 und Sach 9,9, ist Gott der Sprecher und es geht um eine Heilsankündigung, die Freude und Jubel hervorbringen soll. In Jes 62,11 lautet die Fortsetzung „Siehe, deine Rettung kommt“, wobei das hebr. Wort für Rettung jēscha‘ eng mit dem Namen von Jesus, Jehōschua‘ verbunden ist (ein hebr. Wortspiel mit dem Namen von Jesus und dem Verb jāscha‘ „retten“ liegt auch Mt 1,21 zugrunde).

„Dein König kommt zu dir“ (σοι): dieses „zu dir“ kann auch, entsprechend dem hebräischen Text, als „für dich“ übersetzt werden.

„sanftmütig und auf einem Esel reitend“ – während der hebr. Text vier Aussagen über den messianischen Zionskönig macht („ein Gerechter“, „ein Geretteter“, „ein Armer/Demütiger“ und einer, der auf einem Esel reitet), reduziert Matthäus auf zwei: er übernimmt für das hebr. „arm“ die ungewöhnliche Septuaginta-Interpretation „sanftmütig“ und er verändert die Aussage über den Esel als Reittier: der hebr. Text spricht von einem Eselhengst, dem „Sohn einer Eselin“, d.h. ein männliches Tier, während Mt 21,2 eine Eselstute (vgl. das attributive Partizip δεδεμένην und das Possessivpronomen αὐτῆς) voraussetzt, die ein Fohlen bei sich hat: ὁ / ἡ πῶλος; „Fohlen“, kann im Griech. bei vielen Tierarten verwendet werden und mit männlichem oder weiblichem Artikel verwendet werden, d.h. Stutenfohlen oder Hengstfohlen; dasselbe gilt in V. 5 für ὁ / ἡ ὄνος „Esel“ / „Eselin“). Das Fohlen ist aufgrund von V.5, „Sohn eines Lasttieres“, wohl als männlich vorzustellen. Der Esel ist hier nicht „als königliches Reittier“ (so Gesenius18, 365) vorzustellen (die einzige Belegstelle bei Gesenius ist Sach 9,9), sondern als Reit- und Lasttier der einfachen Menschen, welches wie diese schutzbedürftig ist (Ex 23,4.12; Dtn 22,4). Die im Kontext davidischer Krönungsprozessionen genannten Reittiere sind dagegen Maultiere (= Nachkommen einer Pferdestute und eines Eselhengstes), wobei die davidischen Prinzen auf männlichen Maultieren (2Sam 13,29; 18,9) ritten, während die weibliche Form allein in 1Kön 1,33.38.44 vom Reittier Davids gebraucht ist, auf das er seinen Nachfolger Salomo setzen ließ.

V.7 καὶ ἐπεκάθισεν ἐπάνω αὐτῶν – „und er setzte sich auf sie“: die meisten Kommentare sehen hier ein Problem, indem sie das Possessivpronomen αὐτῶν (Genitiv Plural) auf die beiden Tiere beziehen statt auf die voranstehenden Obergewänder (τὰ ἱμάτια). So soll der unsinnige Eindruck erweckt werden, dass Jesus gleichzeitig auf beiden Eseln saß (die Parallelberichte Mk 11,2.5; Lk 19,30.35; Joh 12,14 gehen alle nur von einem „Fohlen“ aus; Markus und Lukas ergänzen, dass auf ihm noch nie jemand geritten sei). Die matthäische Doppelung soll diesen Interpretationen zufolge zeigen, wie sehr dem Evangelisten an einer wörtlichen Erfüllung der alttestamentlichen Texte lag. Das gibt der Text aber nicht her. Selbst wenn αὐτῶν auf die beiden Tiere zu beziehen wäre (wofür nichts spricht), dann ist immer noch von einer Art constructio ad sensum auszugehen (vgl. GGNT § 265; zudem ist ein Beispiel für ein plurales Possessivpronomen bezogen auf ein Subjekt im Singular im nachfolgenden V.8 zu finden), d.h. der Reiter sitzt natürlicherweise auf einem der beiden Tiere (ganz ähnlich ist Gen 31,34 in der LXX formuliert: Rahel setzt sich „auf die Satteltaschen“ in denen sie die Götterfigurinen ihres Vaters versteckt hatte, obwohl anzunehmen ist, dass sie im Sattel saß und nicht unnatürlicherweise auf beiden Satteltaschen, wodurch sie das Versteck ja gerade verraten würde). Ob Matthäus vermitteln will, Jesus habe auf dem Jungtier (wie in den Parallelberichten) oder auf dem Muttertier gesessen, lässt sich vom Text her nicht entscheiden. Sachlich spricht mehr für das Muttertier, dem das Fohlen folgt (dafür spricht auch, dass Esel erst nach mehreren Jahren überhaupt reitfähig sind).

V.8 Mt verwendet das seltene Verb στρωννύω „ausbreiten“ (6-mal im NT) in diesem Vers gleich zweimal: 1. für das Ausbreiten der Kleider und 2. für das Ausstreuen der Zweige. Im NT dominiert der erste Gebrauch, indem das Verb abgesehen von dieser Stelle immer im Zusammenhang mit Textilien (Gewänder oder Sitzpolster) verwendet wird, vgl. Mk 11,8; 14,15; Lk 22,12; 9,34, dasselbe gilt für die Septuaginta (ἡ στρωμνή ist das „Bett“ oder „Lager“, s. Gen 49,4; Ps 6,7; Jud 13,9 vgl. 12,15 u.ö.). Für die zweite Verwendung mit Pflanzen s. Spr 15,19, wo „Dornen ausgestreut sind auf den Wegen der Faulen“, was eine Art Gegenbild zum Ausbreiten von Zweigen als Huldigungsgestus darstellt. Beide Gesten sind (ohne das Verb) auch sonst bezeugt: zum Auslegen eines „roten Teppichs“ in Gestalt von Kleidern für den König s. 2Kön 9,13, zur Begrüßung des siegreichen Feldherrn (der in dem Fall zugleich Hohepriester war) mit Palmzweigen s. 1Makk 13,51.

Zum Abhauen der Zweige von den Bäumen: Bei Matthäus wird dies als eine spontane Reaktion geschildert, ausgelöst durch den dem Esel reitenden Jesus; bei Lukas fehlt dieses Element, Markus lässt die Menschen Laubbüschel oder Gräser von den Feldern holen (11,8b) und Johannes macht daraus eine formale Einholung des Königs durch die Jerusalemer Bevölkerung mit Palmzweigen (Joh 12,13).

V.9 Zur Begrüßung des Herrschers mit Lobgesängen und Segenswünschen s. 1Makk 13,51; 2Makk 10,7 und den Bericht des Josephus über den Einzug von Titus nach Antiochien (Jüdischer Krieg VII 102f.).

ὡσαννά ist die Wiedergabe des hebräischen Bittrufs hōschī‘āh nā’ aus Ps 118,25 (außerdem in 2Kön 19,19), den die LXX präzise mit σῶσον δή „hilf doch!“, „rette doch!“ wiedergibt. Allerdings zeigt die matthäische Einfügung τῷ υἱῷ Δαυιδ (so noch einmal in 21,15, vgl. 2Kön 19,34, wo Gott verspricht, Jerusalem zu retten [lehōschī‘āh] um Davids willen), dass dieses Wort in frühjüdischer Zeit vom Bittruf zu einem Akklamations- und Heilsruf geworden ist. Psalm 118 gehört zu den Hallelpsalmen (Ps 113–118), die zum festen Bestand der jüdischen Liturgie im Tempel gehörten. Der zweite Teil des Psalms (118,19–26) beschreibt ein Einzugsritual zu einem Tempelfest. Im Hosanna-Ruf ist zudem ein Anklang an den Namen von Jesus erkennbar, da hōschī‘āh eine Verbalform von jāscha‘ „retten“ ist; aus demselben Wortstammt ist auch Jehōschua‘ = Jesus gebildet (vgl. auch oben zu V.5 und Jes 62,11).

εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι κυρίου – „Es sei gesegnet der Kommende im Namen des Herrn!“: dieser Halbvers aus Ps 118,26 findet sich in allen vier Evangelien als Willkommensruf beim Einzug Jesu (Mk 11,9; Lk 19,38; Joh 12,13), dazu in Mt 23,39 par. Lk 13,35 in Bezug auf die Parusie. In Mt 21,42 ist zudem noch Ps 118,22f. zitiert, was die Bedeutung dieses Psalms für die matthäische Passionserzählung deutlich macht. V.10 ἐσείσθη „erschüttert werden“, ist eine Aorist Passiv-Form von σείω „erschüttern“. Von den Evangelisten verwendet nur Matthäus das Verb, jeweils als Passivformulierung in 27,51 (vgl. das Nomen dazu in 27,54) und 28,4 im Kontext von Epiphanieschilderungen, so dass diese Assoziation auch hier mitschwingen kann. Es kommt zwar ‚nur‘ ein galiläischer Prophet, aber dieser ist der Immanuel, d.h. mit ihm erscheint Gott selbst bei seinem Volk, darum ist „die ganze Stadt“ in Aufruhr. Damit verweist der Evangelist zurück auf die Aufregung am Anfang, die „ganz Jerusalem“ befallen hatte, als die Kunde eines neugeborenen Königs in ihr laut wurde (Mt 2,3).

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der zeichenhafte Einzug Jesu nach Jerusalem wird von allen vier Evangelisten berichtet und bildet den Auftakt zur Passionsgeschichte. Das von Markus vorgeprägte Wochenschema beginnt mit diesem ersten Einzug in Jerusalem („Palmsonntag“), während Johannes von mehreren Besuchen in Jerusalem weiß. Matthäus beschreibt von 21,1–17 den ersten Tag, 21,18 beginnt ein zweiter Tag; eine weitere Zeitangabe in 26,1 verweist auf den Mittwoch. Der erste Tag besteht aus zwei Einheiten: der Einzug (21,1–11) und die sog. Tempelreinigung (21,12–17) mit Vertreibung der Händler und Heilung der Kranken. Während die Hohepriester und Schriftgelehrten sich über sein Verhalten empören, jubeln ihm die Kinder weiter mit „Hosanna, dem Sohn Davids“ zu (21,15). Bei Markus und Matthäus steht unmittelbar vor dem Einzug nach Jerusalem die Heilung des blinden Bartimäus (Mk) bzw. von zwei Blinden (Mt) in Jericho, die Jesus zweimal als „Sohn Davids“ um Erbarmen anflehen. Matthäus verstärkt die davidischen Bezüge in seinem Einzugs- und Tempelreinigungsbericht, zugleich entpolitisiert er die Formulierung aus Mk 11,10 („gelobt sei das kommende Königsreich unseres Vaters David“).

3. Historische Einordnung

Historisch spricht nichts dagegen, dass Jesus seinen Einzug in Jerusalem in einer Weise inszeniert hat, die an die Zeichenhandlungen der biblischen Propheten erinnerten. Dass er in Jerusalem die Entscheidung suchte, ist einerseits historisch wahrscheinlich (vgl. Lk 13,32f.), für die Leser des Matthäus zudem ab 16,21; 20,17 bereits erzählerisch vorbereitet. Dass die synoptische Passionsgeschichte eine dramaturgische Straffung darstellt, die Ereignisse mehrerer Jerusalembesuche in Jesu letzte Woche drängt, ergibt der Vergleich mit dem Johannesevangelium, dessen Zeitangaben bezüglich des Wirkens Jesu den Vorzug gegenüber den Synoptikern verdienen. Historisch plausibel stellt Matthäus dar, dass die Jerusalemer von dieser Inszenierung überrascht sind (V. 10) und erst einmal nachfragen müssen, wer dieser Umjubelte eigentlich ist. Dabei ist in Erinnerung zu rufen ist, dass Jerusalem in diesen Jahren immer wieder den Einzug messianischer Gestalten erlebt hatte (vgl. Apg 5,35–37: die Aufzählung von Lukas ist zwar nicht chronologisch, aber der Sache nach richtig; zu diesen messianischen Einzügen und den mit dem Ölberg verbundenen eschatologischen Erwartungen s. Küchler, Jerusalem 797–800).

Der Hinweis der „Menschenmengen“ (V.8f.11), der Einziehende sei „der Prophet Jesus, der aus Nazareth in Galiläa“ (V.11) zeigt an, dass es sich hier um die Pilgerscharen aus Galiläa handelt, unter denen Jesus seine Wunder getan und die er ins Staunen versetzt hat (vgl. Mt 9,33b). Unter ihnen wurde er als „Sohn Davids“ angeredet (vgl. Mt 9,27; 12,23) und dieser Ruf eilte ihm voraus (vgl. die Heilung der beiden Blinden in Jericho, 20,30f., auf dem Weg nach Jerusalem). Ihre Auskunft gilt also der Jerusalemer Stadtbevölkerung, die Jesus nicht kennt.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Zwei ineinander verwobene Erzähllinien von Matthäus kommen in der Einzugsperikope zusammen: Jesus reitet als der erwartete Nachkomme Davids, der „im Namen des Herrn“ zu seinem Volk kommt, in seine Stadt ein und auch dieses Geschehen ist in der Schrift bereits vorgezeichnet: das Sacharja-Zitat ist das erste Erfüllungszitat seit 13,35 (das eng mit 13,13–15 zusammengehört). Damit macht der Evangelist deutlich: so wie das Kommen Jesu in die Welt (die Geburtsgeschichten haben die höchste „Dichte“ an dieser matthäischen Zitierform) Teil eines von Gott bestimmten Weges war, so auch seine Predigt (13,35 in freier Aufnahme von Ps 78,2: „ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an verborgen war“) und seine schließliche Ablehnung durch Gottes Volk und damit verbunden sein gewaltsamer Tod: der „Passionsbogen“ geht von 21,4f. zu 26,54.56. Damit ist Jesu Tod keine überraschende Katastrophe, kein Scheitern und auch nicht die Folge individuellen Fehlverhaltens, sondern ein notwendiges Geschick, das „so geschehen muss“ (26,54). Jesus reitet – anders als der Sacharjatext aussagt – auf einem weiblichen Tier in die Stadt, womit er den Bezug auf Salomo noch verstärkt (s. oben zu V.6), weil allein von diesem gesagt wird, dass er auf einem (weiblichen) Maulesel zur Krönung geführt wurde. Bedenkt man, dass die Etymologie des Namens Salomo mit Schalom/Frieden zu tun hat, dann ist hier Jesus als der wahre Friedenskönig gekennzeichnet, der Salomo hätte sein können/sollen. Der Jubel der Festpilger ist also berechtigt: hier kommt der, der Frieden bringt und eine Herrschaft aufrichtet, die alle Völker in dieses Heil einschließen will. Zwar anders als sie es erwarten, aber Matthäus entwertet diesen Jubel nicht.

Besonders das Sacharja-Zitat (nur bei Matthäus und – weniger prononciert – in Joh 12,14) ist wichtig, weil es erahnen lässt, was Jesus in diesen Versen gefunden haben mag: denn bei Sacharja ist es der König selbst, der sich für seine Herde opfert (vgl. Sach 12,10, zitiert in Joh 19,37; Sach 13,7, zitiert in Mt 26,31; Mk 14,27; vgl. auch Sach 11,12f.). Entsprechend kann Jesus seinen Weg vorgezeichnet gesehen haben, zumal in Verbindung mit der ihm zugeschriebenen oder von ihm aktiv angenommenen Rolle des jesajanischen Gottesknechts (vgl. Mt 12,17–21). Der Weg durch das Leiden hindurch wird so als der eigentliche Königsweg offenbar (21,5; der Königstitel für Jesus wird vor allem im Kontext der Passion gebraucht 27,11.29.42 und steht darum betont über dem Kreuz 27,37). Die Art und Weise, wie Jesus seinen Einzug in Jerusalem zum Todespassa gestaltete, lässt erahnen, dass er sich als diesen Königsknecht sah, dessen „Blut des Bundes“ (Mt 26,28; Mk 14,24) zum Lösegeld für viele ausgegossen werden sollte (Jes 53,12, vgl. Sach 13,1).

5. Theologische Perspektivierung

Die Einzugsgeschichte mit dem „Hosanna dem Sohn Davids“ wird oft mit dem Ruf der „Menschenmengen“ (27,20) „Er soll gekreuzigt werden“ (27,23) in der Weise kontrastiert, dass damit die Wankelmütigkeit des jüdischen Volkes („von Hosianna zu ‘Kreuzige ihn!“) und seine feindselige Haltung Jesu gegenüber abgebildet sei. Gerade das Wechselgespräch zwischen der Stadtbevölkerung und den einziehenden Pilgergruppen (Mt 21,10f.) macht jedoch deutlich, dass Matthäus hier unterscheidet. Darum sollte es die Predigt vermeiden, diese antijudaistische Interpretation (die nach wie vor in vielen Köpfen ist) aufzunehmen – und falls doch, dann nur, um sie richtig zu stellen. Gerade als Adventspredigt sollte der Jubel über den, der kommt, im Vordergrund stehen.

Der Schwerpunkt liegt dann auf den beiden alttestamentlichen Zitaten und den in ihnen verborgenen Hoffnungen, die sich erst rückblickend erschließen: so wie bei Jesu Geburt noch nicht klar war, wie sich durch dieses Kind das Heil der Welt verwirklicht, so haben auch die jubelnden Festpilger noch nicht verstanden, wer hier als sanftmütiger König in seine Stadt einzieht. Erst von Ostern her wird rückblickend deutlich, dass mit ihm einer gekommen ist, der einen anderen, tieferen Frieden brachte: Einen Frieden, der nicht auf dem Sieg über die Feinde und nicht auf dem Tod und Leiden anderer basiert, sondern auf der Bereitschaft dieses Messiaskönigs, für sein Volk zu leiden. Er erweist die Hingabe für andere als den wahrhaftig königlichen Weg, um aus der Vergeltungsspirale zur Vergebung und damit zur Versöhnung zu finden.

Literatur

  • Hengel, Martin u. Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum, Geschichte des frühen Christentums 1, Tübingen 2007, 551–555.
  • Hossfeld, Frank-Lother u. Erich Zenger: Psalmen 101–150, HThKAT, Freiburg 2008, 309–336 (zu Psalm 118).
  • Küchler, Max: Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, OLB IV/2, Göttingen 2007, 790–810.913–942.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem ist mir durch ihre Doppelpräsenz im Kirchenjahr (am Ersten Advent in der matthäischen Fassung, am Palmsonntag in der johanneischen Version) sehr vertraut. Dementsprechend war ich gespannt, ob mir die Exegese neue Zugänge zu dieser Perikope eröffnet. Und das hat sie getan. So war mir neu, dass die Eselsstute in der Geschichte nicht primär die Funktion hat, Jesus in Kontrast zu einem römischen Herrscher darzustellen. Vielmehr dient die Wahl des Esels – sowohl mit Blick auf die Geschichten um den König David als auch unter Rückgriff auf den Propheten Sacharja – dazu, Jesus als „Sohn Davids“ und damit als den lang ersehnten messianischen König davidischer Herkunft kenntlich zu machen. Dennoch steckt in der Wahl des Reittiers ein Hinweis darauf, dass Jesu Königtum von besonderer Art ist, nur eben anders als gedacht: Es ist das mit dem Symbol des Esels assoziierte Sacharjawort und der damit eingespielte Vorstellungshorizont dieses biblischen Buches, die Jesus als sanftmütigen und opferbereiten König kennzeichnen und klar machen, dass hier mit gängigen Vorstellungen eines machtvoll und durchsetzungsstark agierenden Messias gebrochen wird.

Dass der Evangelist Jesus auf ein weibliches Reittier setzt wie einstmals König Salomo (vgl. 1Kön 1, 33-44), um damit einerseits die Sohn-David-Typologie zu verstärken, andererseits aber auch einen Überbietungs- bzw. Erfüllungsanspruch mitzutransportieren, war mir neu. Erst Jesus wird sich – so die Anmutung von Mt 21 – als der Friedenskönig erweisen, der Salomo seinem Namen nach hätte sein können.

Interessant fand ich überdies, dass sich durch die Exegese mein Bild der Menschenmenge differenziert hat, die in der Geschichte vorkommt. Bisher erschien mir diese Menge eher als eine opake Masse. Nun unterscheide ich Jünger und galiläische Pilger, die vor und hinter Jesus einhergehen, Kleider und Zweige ausbreiten und Hosianna rufen.  Daneben die Jerusalemer Stadtbevölkerung, die herausgefordert und neugierig auf das Spektakel reagiert. Wegen des Hinweises auf Mt 21,15 sehe ich sogar Kinder in diesem Geschehen – jene Kinder, die auch Stunden, nachdem Jesus in Jerusalem eingeritten ist, immer noch (aus Übermut oder echter Begeisterung) Hosianna rufen.

2. Thematische Fokussierung

An welcher Stelle lässt sich der Predigttext „packen“? Welche Anknüpfungspunkte bietet er für eine Predigt im hier und heute? Verschiedenes ist möglich:

Man könnte zum einen auf das inszenatorische Moment von Jesu Ankunft in Jerusalem fokussieren, also der symbolträchtigen Wahl einer Eselsstute nachgehen und sie ins Verhältnis setzen zu anderen Ankunftsszenarien bzw. den entsprechenden Inszenierungen. Das könnten biblische Szenen (König Salomo) sein oder Szenen aus unserer alltäglichen Lebenswelt (Wie betritt ein neuer Schüler am ersten Schultag den Klassenraum? Wie stellt sich die neue Klinikdirektorin vor?). Natürlich ließe sich genauso das Eintreffen von Politikerinnen oder religiösen Amtsträgern bei Staatsbesuchen in den Blick nehmen – oder Stars auf dem roten Teppich.

Ein anderer Ansatzpunkt könnten die Reaktionen der Menschen auf Jesu Ankunft sein und hier insbesondere der freudige, laute (und, wie die Exegese deutlich gemacht hat, keineswegs irrtümliche) Jubel, der die Geräuschkulisse der Geschichte bildet. Aus welchen nachvollziehbaren, aber zugleich auch verstörenden Gründen jubeln Menschen bestimmten Personen zu? Wann war mir zuletzt nach „Hosianna“ zumute?

Und um noch eine Deutung aufzugreifen, die sich traditionell mit dieser Geschichte verknüpft – dem Transfer des Geschehens ins Innere des religiösen Subjekts: Wie ist das mit der Ankunft Jesu im Leben jedes und jeder Einzelnen? Wie vollzieht sie sich? Welche Reaktionen löst sie aus? Schon Luther hat in seiner Wittenberger Predigt über diesen Text am 3. Dezember 1531 formuliert: „Das sind lauter feurige, liebliche, süße Worte, die uns zur Freude erwecken sollen, da sie unsern König aufs allerfreundlichste abmalen, so dass das Menschenherz fröhlich werden und jauchzen muss, zumal wenn es seiner bedarf.“ Und Paul Gerhardt dichtete 100 Jahre später „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir, o aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier?“ (EG 11,1).

3. Theologische Aktualisierung

Wir haben es im christlichen Glauben immer von Neuem mit einer grundlegenden und vertrackten Aufgabe zu tun. Diese Aufgabe lautet: Wie bekommen wir ein auf Stärke und Machtfülle abhebendes Gottesbild (das nicht nur religionsphänomenologisch seine Berechtigung hat, sondern auch in weiten Teilen der biblischen und nicht zuletzt unserer liturgischen Tradition präsent ist) mit dem genauso im Christentum verankerten Verständnis überein, dass das Wesen der göttlichen Macht in Selbstaufgabe, Opfer und Leidensbereitschaft besteht? Neben der Passionszeit ist es ist v.a. das Weihnachtsfest, an dem diese Frage aufbricht. Im Advent und mit Blick auf den Predigttext Mt 21,1–11 stellt sich das Problem in seiner christologischen Gestalt: Wie gehören der in göttlicher Autorität agierende Wundermann und messianische Davidssohn mit dem sanftmütigen, leidensbereiten Gottesknecht zusammen als der uns Jesus in der Geschichte ebenfalls präsentiert wird? Während die traditionelle Dogmatik diese Frage mit fein ziselierten (aber heute nicht mehr unbedingt überzeugenden) Denkfiguren zu beantworten versucht, loten die Evangelien die Spannung narrativ aus bzw. präsentieren sie wie im Fall des Predigttextes in symbolisch verdichteten Bildern (Wahl der Eselin als Reittier!). Das scheint mir gerade ihre Stärke zu sein.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Auch im Proprium des ersten Advents finden sich die eben schon erwähnten unterschiedlichen Vorstellungen göttlicher Macht. So wird die Gemeinde im Wochenpsalm zwar aufgefordert, die Tore der Welt ›sperrangelweit‹ zu öffnen, damit  der „König der Ehre“ einziehe. Aber dann ist es doch (nur?) der galiläische Prophet Jesus, der durch dieses Tor kommt, noch dazu auf einer Eselsstute, an die sich ein mutmaßlich verängstigtes Fohlen presst. Das sind schon erhebliche Kontraste. Aber Kontraste prägen ja die Adventszeit insgesamt, man denke nur daran, wie der Wunsch nach Besinnung und Einkehr im Advent regelmäßig im Strudel der vorweihnachtlichen Geschäftigkeit und Festvorbereitungen unterzugehen droht.

Es gibt gleich mehrere Kirchenlieder, die die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem aufgreifen. Interessanterweise transportieren sie sehr unterschiedliche Stimmungen und spiegeln damit auf ihre Weise die Gegensätze wider, die diese Geschichte prägen. Das Stimmungsspektrum reicht vom fröhlichen und familiengottesdiensttauglichen „Jesus zieht in Jerusalem ein“ (EG 314), über das (meinem Eindruck nach) selten gesungene und ernstere „Nun jauchzet all ihr Frommen“ (EG 9) bis zum verinnerlichten „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11), das gleichzeitig eins der Wochenlieder für dem Ersten Advent ist. Auch das beliebte Lied „Tochter Zion“ (EG 13) greift die Predigtperikope auf. Hier steht der Jubel im Vordergrund.

5. Anregungen

Gottesdienste am Ersten Advent sind oft Familiengottesdienste. Wenn dort überhaupt gepredigt wird, dann anders, kürzer, narrativer, bezogen auf die Lebenswelt der Kinder. Die interessieren sich bekanntlich für Tiere. Und so spricht viel dafür, die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem aus der Perspektive der Eselsstute (oder sogar ihres Fohlens?) zu erzählen, zumal sich der symbolische Gehalt dieses Reittiers in der Exegese als äußerst vielschichtig herausgestellt hat. Falls sich die Eselin gut in den heiligen Schriften auskennt, ließen sich auf diese Weise auch die Bezüge zu David, seinem Sohn Salomo und dem Sacharjabuch einbauen. Wem diese Idee zu abgegriffen ist, könnte auch versuchen, die Einzugsgeschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen. Kinder werden zwar nicht eigens in Mt 21,1–11 erwähnt, sind aber durch den Kontext der Perikope im Geschehen präsent.

Für Predigten, die sich an Erwachsene richten, könnte es gut sein, das von der Exegese eingeführte Stichwort vom „Königsweg“ aufzugreifen. Dieses geflügelte Wort zielt ja auf so etwas wie „den richtige Weg“ oder ein „sinnvolles Vorgehen“. Dies ließe sich in verschiedene Richtungen ausbuchstabieren. Was ist der „Königsweg“ in der Adventszeit? Was ist der Königsweg mit Blick auf unser Gottesbild? Und schließlich: Was ist – religiös gesprochen – der Königsweg für Gott, um die Menschenherzen für sich zu gewinnen und zum Jubeln zu bringen?

Autoren

  • Prof. Dr. Roland Deines (Einführung und Exegese)
  • Dr. Kathrin Mette (Praktisch-theologische Resonanzen)

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