Deutsche Bibelgesellschaft

1. Einleitung zur Bibelkunde des Neuen Testaments

Systematik der Schriften des Neuen Testaments

Das Neue Testament ist eine Sammlung von 27 ganz unterschiedlichen Schriften. Sie lassen sich aufgrund ihres literarischen Charakters in drei Gruppen einteilen. Zur ersten Gruppe gehören die vier Evangelien, die Darstellungen der irdischen Wirksamkeit Jesu Christi bieten, und die Apostelgeschichte des Lukas, die von den ersten Jahrzehnten der Ausbreitung des Christentums in der griechisch-römischen Welt berichtet. Daneben finden sich 21 Briefe und eine Apokalypse (Offenbarung des Johannes).

Bei den Briefen stehen die 14 dem Apostel Paulus zugeschriebenen Briefe voran, die der Länge nach geordnet sind. Eine Ausnahme bildet allein der lange Zeit umstrittene Hebräerbrief, der trotz seines Umfangs am Ende des Corpus Paulinum steht. Die übrigen 7 Briefe werden unter der Sammelbezeichnung Katholische Briefe überliefert. Martin Luther weicht in seiner Übersetzung des Neuen Testaments bei den Briefen von der kanonischen Reihenfolge der Alten Kirche ab und stellt Hebräer- und Jakobusbrief vor den Judasbrief. Diese drei Briefe und die Offenbarung des Johannes waren für ihn aus theologischen Gründen von niederem Rang.

Die Reihenfolge Evangelien – Apostelgeschichte/Briefe – Offenbarung ist Ergebnis des Kanonisierungsprozesses und wird gelegentlich als Spiegel der christlichen Heilsgeschichte (Jesus von Nazaret – Werden und Zeit der Kirche – Endzeitereignisse) gedeutet.

Die Bezeichnung Neues Testament

Die Bezeichnung der neutestamentlichen Schriften als „Neues Testament“ lässt sich erst bei den Kirchenvätern des 3. Jh. nachweisen (Tertullian, Origenes). Die Schriften, die den „Neuen Bund“ (vgl. 1Kor 11,25; Lk 22,20) bezeugen, werden zum „Neuen Testament“ (Doppelbedeutung von διαθήκη/diathēkē – Bund, Testament). Bei dieser Entwicklung vom theologischen Begriff zur Bezeichnung eines Corpus von Schriften wird eine gewisse Rolle gespielt haben, dass Paulus in 2Kor 3,14 von der „Verlesung des Alten Testamentes“ bzw. „(der Schriften) des Alten Bundes“ spricht: „Indessen ist ihr [der Söhne Israels KMB] Sinn verstockt worden; denn bis auf den heutigen Tag liegt dieselbe Decke auf der Verlesung (der Schriften) des Alten Bundes, und sie wird nicht abgetan, weil sie nur in Christus weggenommen wird.“ Damit beschreibt Paulus zugleich das hermeneutische Prinzip, nach dem die frühen Christen ihre Heilige Schrift, die jüdische Bibel (meist in Gestalt der Septuaginta [LXX]), gelesen haben. Sie verstanden die Bibel konsequent vom Christuszeugnis her und auf das Christuszeugnis hin (vgl. Joh 5,39.45-47).

Erst diese Interpretation, die die gängigen Auslegungsmethoden ihrer Zeit nutzt, macht die jüdische Bibel zum Alten Testament. Das beschreibt sowohl eine Kontinuität als auch eine Diskontinuität. Für die Autoren des Neuen Testaments ist der Gott Jesu Christi selbstverständlich derselbe Gott, der an den Vätern und dem Volk Israel gehandelt hat und in der jüdischen Bibel spricht. Sie leben aber zugleich aus der Erfahrung, dass sich dieser Gott in Jesus Christus neu und endgültig offenbart hat (vgl. Joh 1,18; Hebr 1,1). Eben deshalb kann die jüdische Bibel für sie nur recht verstanden werden, wenn sie im Lichte dieser maß-gebenden Offenbarung gelesen und interpretiert wird.

Die Sprache des Neuen Testaments

Die Schriften des Neuen Testaments sind auf Griechisch abgefasst worden. Die Autoren bedienen sich dabei der Koine (ἡ κοινὴ διάλεκτος/hē koinē dialektos – die gemeinsame Sprache), d. h. der hellenistischen Gemeinsprache, die zu ihrer Zeit im römischen Reich gesprochen wurde. Die einzelnen Schriften unterscheiden sich in ihrer sprachlichen Qualität voneinander. Dabei entsprechen die Verschiedenheiten wohl Unterschieden der ethnischen Herkunft und des Bildungsgrades der Autoren. Auch die je unterschiedliche Traditionstreue dürfte eine Rolle gespielt haben (so lehnt sich Lk bewusst an die Sprache der LXX an). Am sorgfältigsten formulierten die Verfasser des lk Doppelwerkes (Evangelium und Apostelgeschichte) und des Hebräerbriefes. Eine Besonderheit stellt die Offenbarung des Johannes dar, deren Autor vermutlich als Muttersprache Aramäisch sprach und das Griechische nur gelegentlich benutzte.

Die Entstehung des Kanons

Der Kanon des Neuen Testaments ist in der uns vertrauten Gestalt erstmals im Jahre 367 durch den Bischof Athanasius von Alexandria in seinem 39. Osterfestbrief fixiert worden. Die Anfänge der Kanongeschichte reichen allerdings bis in das 2. Jh. zurück. So scheint bereits der 2Petr eine Sammlung von Paulusbriefen vorauszusetzen (2Petr 3,15f.; vgl. IgnEph 12,2). Aber erst der Kirchenvater Justin zitiert in der Mitte des 2. Jh. neutestamentliche Schriften (die Evangelien) als „Schrift“ neben dem Alten Testament. In ihnen hörte er die autoritative Stimme des auferstandenen Herrn.

Den ersten abgeschlossenen Kanon hat Markion (um 160) geschaffen. Er bestand aus einem von allen „jüdischen Spuren“ gereinigten Lukasevangelium und 10 Paulusbriefen. Markion, der die Identität von Schöpfer- und Erlösergott leugnete, wollte so seine Theologie stützen. Die weitere Entwicklung ist von z. T. langwierigen Diskussionen um die kanonische Anerkennung einzelner Schriften geprägt. So wurde der Hebr in der Westkirche erst gegen Ende des 4. Jh. als paulinisch und kanonisch angesehen. In der Ostkirche war die Offenbarung des Johannes lange umstritten.

Einige Quellen zählen Schriften zum Kanon, die heute zu den Apostolischen Vätern gerechnet werden (z. B. Hirt des Hermas, Barnabasbrief). Für die Ostkirche beendete Athanasius diese Unsicherheit. Die Westkirche folgte ihm seit dem Beginn des 5. Jh.

Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften/Pseudepigraphie

Ein wesentliches Argument in der altkirchlichen Diskussion, ob eine Schrift kanonisch sei oder nicht, war die Frage nach ihrer apostolischen Verfasserschaft. Alle Schriften, die Eingang in den Kanon des Neuen Testaments gefunden haben, werden traditionell Aposteln oder deren Schülern zugeschrieben. Die historisch-kritische Exegese hat nachgewiesen, dass diese Zuschreibung nur für die authentischen Paulusbriefe aufrecht erhalten werden kann. Sieben Schriften des Neuen Testaments sind ursprünglich anonym abgefasst worden (Hebr, 1Joh, Evangelien und die Apostelgeschichte). Die Offenbarung nennt den Autor Johannes (Apk 1,1.4.9). 2Joh und 3Joh sind von einem „Presbyter“ (Ältesten) geschrieben worden (2Joh 1,1; 3Joh 1,1), der den Adressaten offensichtlich unter diesem Titel bekannt war. Alle anderen Schriften des Neuen Testaments benutzen fiktive Verfasserangaben, d. h. die Autoren nehmen die Autorität von Aposteln und anderen führenden Personen der frühen Kirche für ihre Werke in Anspruch. Dieses Phänomen wird als Pseudepigraphie bezeichnet.

Die unter dem Namen anerkannter Autoritäten schreibenden Autoren des Neuen Testaments stellen keine Einzelerscheinung in der antiken Literaturgeschichte dar. In der hellenistischen Philosophie gibt es einen breiten Strom pseudepigrapher Werke. Auch die biblische Tradition kennt das Phänomen. So nimmt Dtn bewusst die Autorität des Mose in Anspruch und da Salomo wegen 1Kön 5,9-14 als der Weisheitslehrer schlechthin galt, wurden eine ganze Reihe von Weisheitsschriften unter seinem Namen verfasst (u. a. Spr, Weish).

Entstehungssituation der pseudepigraphen Schriften

Alle pseudepigraphen Schriften des Neuen Testaments sind in einer Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung im frühen Christentum entstanden (ca. 60-120). Die Generation der Apostel und ersten Zeugen lebte nicht mehr und damit brach die Frage auf, wie die Kontinuität zu den durch sie gelegten Grundlagen erhalten werden könne. Es kam zu ersten größeren Konflikten mit den lokalen Behörden. In den eigenen Reihen traten verschiedene Lehrmeinungen auf, die jeweils den Anspruch erhoben, rechte Interpretation der Tradition zu sein. Damit war die Frage nach der Identität der christlichen Gemeinden gestellt, die die Bestimmung des Verhältnisses zur heidnischen Umwelt einschloss. Zudem trat immer stärker ins Bewusstsein, dass die Parusie des Herrn auf sich warten ließ, die Gemeinden sich also auf eine längere innerweltliche Existenz einstellen mussten. Die Autoren der pseudepigraphen Schriften bemühten sich in dieser Situation, die Stimme und Autorität der Apostel und ersten Zeugen neu und verbindlich zur Sprache zu bringen. Indem sie im Namen der Autoritäten schrieben, begründeten sie den Anspruch, eine verbindliche Neuinterpretation der Tradition angesichts der neu aufgebrochenen Probleme vorzulegen.

In dieses Anliegen ordnen sich auch die ursprünglich anonymen Schriften des Neuen Testaments ein. Besonders deutlich wird das bei den Evangelien, die versuchen, mittels einer Erzählung des grundlegenden Anfangs in Jesus Christus, dessen Bedeutung für die aktuellen Probleme der Gemeinden aufzuzeigen (vgl. vor allem Lk 1,1-4; Joh 20,30f.!).

Digitale Bibelkunde

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Die Texte auf dieser Seite sind mit freundlicher Genehmigung übernommen aus:

Cover der Bibelkundes des Neuen Testaments von Klaus-Michael Bull

Bull, Klaus-Michael: Bibelkunde des Neuen Testaments. Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter. Überblicke – Themakapitel – Glossar, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Aufl. 2018.

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