Totenklage (AT)
(erstellt: Februar 2007)
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→ Bestattung
1. Totenklage und Totenkult
Die Totenklage und ihre alttestamentlich belegten Ausdrucksformen (Leichenklage, Weheruf, Trauerriten; → Trauer / Trauerriten
Die Distanz des biblischen Schrifttums zu aufwändigen Bestattungsritualen und zum Totenkult hat verschiedene Ursachen. Auf der Ebene der persönlichen Frömmigkeit liegt sie u.a. in der nüchternen Hinnahme des → Todes
Die Praxis der Totenklage und ihre Ausdrucksformen gehörten ganz selbstverständlich und in Übereinstimmung mit der nordwestsemitischen Umwelt zur altisraelitischen Bestattungskultur, soweit sie sich allein auf den Akt der → Bestattung
2. Die Totenklage im Kontext der Totenbestattung und die Stadt- und Untergangsklagen
In der Hebräischen Bibel sind im Wesentlichen zwei verbale Formen der Totentrauer zu unterscheiden, die neben einer Anzahl von gestischen Trauerbräuchen im Kontext der Totenbestattung erwähnt werden: das Leichenlied und der Weheruf. Hinzu kommen die Stadt- und Untergangsklagen, die in Analogie zum Leichenlied stehen (→ Stadtklage
2.1. Totenklage und Leichenlied in 2Sam 1,11-27 und 3,31-34
Nachdem → Saul
Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der Erzählepisode vom Begräbnis von Sauls Heerführer → Abner
2.2. Das Leichenlied im Rahmen der Totenklage und die Spuren von Stadt- und Untergangsklagen im Alten Testament
Das Leichenlied (קִינָה qînāh) wird im rituellen Rahmen der eintägigen Totenklage (מִסְפֵּד misped) von Spezialistinnen (vgl. die Töchter und → Klagefrauen
In Analogie zur Totenklage wurden im alten Orient und nach Ausweis der → Klagelieder
2.2.1. Gattungsmerkmale des Leichenliedes sowie der Stadt- und Untergangsklage
Gattungstypische Stilmerkmale des Leichenliedes und der Stadt- bzw. Untergangsklage sind u.a. der Klagerhythmus von 3 + 2 Hebungen (→ Qina-Metrum
In thematischer Hinsicht sind der Gegensatz von Einst und Jetzt sowie das Lob und der Ruhm der Toten bzw. der zerstörten Städte bestimmend. Gerühmt wird z.B. in 2Sam 1,19-27
2.2.2. Zur Funktion der Leichenlieder im Kontext der Totenklage
Im Primärzusammenhang der Totenklage und der Bestattungsriten hatte das Leichenlied neben dem verbalen Ausdruck der Wertschätzung und der Trauer um die Verstorbenen wahrscheinlich auch die Funktion, die Trauergemeinde zur rituellen → Klage
2.2.3. Besonderheiten der Stadt- und Untergangsklage – die Klagelieder (Klgl 1, 2 und 4)
Die Stadt- und Untergangsklagen (→ Stadtklage
Vergleichbar damit führt Klgl 1,1
In thematischer Hinsicht stehen in diesen Klageliedern einerseits die Kriegsereignisse bzw. Kriegsfolgen (vgl. Klgl 1,3-7
Diese breite Thematisierung der Katastrophenereignisse und der entstandenen Not dient im performativen Nachvollzug des Klageliedes zum einen der Bewältigung des tiefen Traumas von 587 v. Chr. Zum andern öffnet das Bekenntnis, dass JHWH zu Recht die Katastrophe bewirkt hat (vgl. Klgl 1,5
2.3. Der Weheruf הוֹי im rituellen Kontext der Totenklage
2.3.1. Der Weheruf im Rahmen von rituellen Ausdrucksformen der Totentrauer
Unter den rituellen Ausdrucksformen der Totentrauer nehmen die vom Kollektiv geäußerten Weherufe eine Sonderstellung ein. Zwar stehen sie im Äußerungskontext verschiedener nonverbaler Gesten und Gebärden der Totentrauer wie z.B. das Umgürten des Sackgewandes (2Sam 3,31
Das Besondere der Weherufe (הוֹי hôj oder הוֹ hô) liegt jedoch darin, dass es sich um sprachliche Äußerungen im rituellen Rahmen von nonverbalen Trauergebärden anlässlich der Totenbestattung handelt, wie aus 1Kön 13,30
2.3.2. Die syntaktisch-semantischen Besonderheiten des Weherufs הוֹי gegenüber dem Angst- und Schmerzensruf אוֹי
Ein Sonderproblem ist die semantische und funktionale Unterscheidung des Weherufs הוֹי (hôj) gegenüber dem Angst- und Schmerzensruf אוֹי. (’ôj)
In linguistischer Hinsicht sind der Weheruf (הוֹי hôj oder הוֹ hô) und die nachfolgende Nennung der Betrauerten als emotional-affektiver Gefühlsausdruck der Totentrauer zu verstehen, der als expressive Sprechhandlung (vgl. Wagner, 1997, 300-302) weder eine Aussage (Prädikation) macht, noch in syntaktischer Hinsicht vom Vor- oder Folgetext abhängig ist. Auch stehen die Interjektion הוֹי hôj und die nachfolgende Personennennung unverbunden, d.h. aphrastisch nebeneinander. Ferner unterscheidet sich der Weheruf auch in lexikalischer Hinsicht von anderen expressiven Ausdrucksformen des Erschreckens (אֲהַהּ ’ǎhah / הָהּ hāh „ach!“; vgl. z.B. Ri 11,35
Nur der Angst- und Schmerzensruf אוֹי ’ôj weist außer in Num 24,23
3. Die metaphorische Verwendung der Toten- und Untergangsklage in der Schriftprophetie
Im prophetischen Schrifttum finden sich vielfältige Übertragungen der Leichen- und Untergangsklage sowie des Weherufs auf lebende Personengruppen der politischen Führung bzw. auf existierende Herrschergestalten und Herrschaftszentren. Die trauermetaphorische Rhetorik bezieht sich in der vorexilischen Schriftprophetie außer bei Amos überwiegend auf die judäischen Führungseliten und die Hauptstadt Jerusalem (vgl. unten 3.2.1 bis 3.2.4). Demgegenüber beschränken sich die exilisch-nachexilischen Schriften (vgl. unten 3.2.5) auf Übertragungen von Leichen- und Untergangsklagen auf die Nachbarvölker, wobei die Weherufe als etablierte Formen prophetischer Rede darin lediglich einen Nachhall finden.
3.1. Die rhetorische Grundfunktion der Trauermetaphorik in der Schriftprophetie
Die übertragenen Verwendungen des Leichenliedes, der Untergangsklage und der Weherufe in den prophetischen Reden lassen sich in ihrer Funktion nur unzureichend erfassen, wenn man sie lediglich isoliert und auf Einzeltexte bezogen in Betracht zieht. Denn die übergreifende Funktion dieser Trauermetaphorik liegt insbesondere in der vorexilischen Schriftprophetie darin, die politischen Krisen, Zusammenbrüche und Katastrophen, die die Propheten als → Tag JHWHs
Die Rhetorik der Toten- und Untergangstrauer verfolgt das Ziel, diejenigen zur Besinnung zu rufen und auf ihre Verantwortung aufmerksam zu machen, die in den Augen der Propheten die Krisenentwicklungen durch ihr korruptes, opportunistisches und gemeinschaftswidriges Herrschaftsgebaren (vgl. bes. die Weheworte in Am 6,1-7
3.2. Die Trauermetaphorik in den einzelnen Prophetenbüchern
Diese Grundfunktion der prophetischen Trauermetaphorik ist zunächst exemplarisch an einschlägigen Jesajatexten zu beleuchten (3.2.1) und in Exkursen an ihren unterschiedlichen Ausprägungen in der vorexilischen Schriftprophetie weiter zu bestätigen (3.2.2), um einen abschließenden Blick auf ihre Abwandlungen in exilisch-nachexilischer Zeit zu werfen (3.2.3).
3.2.1. Trauermetaphorik, Tag-JHWH-Erwartung und gerichtsmetaphorische Sprache bei Jesaja – ein paradigmatischer Zusammenhang
Am umfassendsten ausgeprägt ist die übertragene Verwendung der Toten- und Untergangsklage in protojesajanischen Texten (→ Jesaja
Jes 1,21-26. Mit der transfigurierten Stadtklage über Jerusalem in Jes 1,21-26
Jes 2,12-16. JHWHs Einschreiten wird anschließend in Jes 2,12-16
Jes 3,13-15. Im folgenden Abschnitt Jes 3,13-15
Jes 5,1-6. In Jes 5,1-6
Auf diesem gerichtsmetaphorischen Hintergrund der Fortsetzung des Tag-JHWH-Diskurses in Jes 3,13-15
Sieben Weherufe in Jes 5,8-12.18-23; 10,1-4a. Denn in den sieben Weherufen von Jes 5,8-12
Damit nehmen die prophetischen Weherufe nicht nur allgemein die Situation der Untergangstrauer vorweg. Zugleich wird damit auch die persönliche Totenklage im Voraus über diejenigen erhoben, die in der zeitnah erwarteten Untergangskatastrophe selbst umkommen werden. Das geht konzis aus dem 7. Wehewort in der Reihe, Jes 10,1-4a
Zudem bildet dieses 7. Wehewort die Klimax des ganzen Tag-JHWH-Diskurses von Jes 1,21
Jes 10,28-34; 11,1-5. Aus den Schlussstücken in Jes 10,28-34
In historischer Hinsicht dürfte es sich bei diesem Truppenvorstoß um leichte assyrische Kampfeinheiten gehandelt haben, die Jerusalem um 701 v. Chr. von Norden her angriffen, um den aufständischen König → Hiskia
Dabei rechnete der Prophet in Jes 11,1-5
Jes 22,1-14. Eine Bestätigung dieser Interpretation liefert die zeitnahe Rückschau Jesajas auf die Belagerung Jerusalems um 701 in Jes 22,1-14
Dieses bildsprachliche Ineinander von Trauer- und Gerichtsmetaphorik im Kontext der Naherwartung eines von JHWH gewirkten Unheilstags (→ Prophetische Redeformen
3.2.2. Die Trauermetaphorik bei Micha und Amos
1. Micha. Wie bei Jesaja steht auch bei → Micha
Auch wenn im ältesten Teil des Michabuches (Mi 1-3) nicht explizit von einem zeitnah erwarteten Tag JHWHs die Rede ist, so wird dennoch auch die alte Michaschrift – vergleichbar mit Jes 1,21-26
Dabei steht die Darstellung dieses Truppenvorstoßes der impressionistischen Schilderung in Jes 10,28-32
Wie der Tag-JHWH-Diskurs Jesajas schließt auch Micha im Wehewort von Mi 2,1-3
2. Amos. Im → Amosbuch
Der Text Am 5,1-3