Deutsche Bibelgesellschaft

Anforderungssituationen

(erstellt: Februar 2017)

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1. Begriff

Der Begriff „Anforderungssituation“ hat im Zusammenhang mit der bundesweiten Einführung der für alle Fächer gültigen Metastruktur „Kompetenzorientierung“ auch in der Religionspädagogik eine spezifische, wenngleich nicht unumstrittene Bedeutung gewonnen. Die grundlegende Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ (2003) erläuterte den Kompetenzbegriff als Disposition, „konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“ (Klieme, 2003, 72). Da Kompetenzen jeweils ein domänenspezifisches Profil besitzen, spiegeln sie „die grundlegenden Handlungsanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Domäne ausgesetzt sind“ (Klieme, 2003, 22). Entscheidend für die Entwicklung von domänenspezifischen Kompetenzmodellen und Aufgaben sei es, so Klieme, dass sich „jede Illustration oder Operationalisierung einer Kompetenz [...] auf konkrete Anforderungssituationen beziehen“ und eine „ausreichende Breite von Lernkontexten, Aufgabenstellungen und Transfersituationen umschließen“ müsse (Klieme, 2003, 72f.). „Der simultane Einsatz von Wissen und Können [spielt] bei der Bewältigung von Anforderungssituationen eine wichtige Rolle“ (Klieme, 2003, 78).

Ein erfolgreicher Kompetenzerwerb ist auf Lehr-Lern-Umgebungen angewiesen, in denen Schülerinnen und Schüler mit Anforderungssituationen konfrontiert werden und an ihnen Wissen und Können entwickeln: „Die Verknüpfung von Wissen und Können darf also nicht auf Situationen ‚jenseits der Schule‘ verschoben werden. Vielmehr ist bereits beim Wissenserwerb die Vielfalt möglicher Anwendungs-Situationen mit zu bedenken. Bedeutsam ist hier der Aufbau ‚domänenspezifischer Schemata‘. Dies sind in Anwendungssituationen erworbene Wissensstrukturen, die von den Lernenden (nicht von den Lehrenden!) auf Grund ihrer Lern-Erfahrungen solcherart verallgemeinert und systematisiert werden, dass sie künftig auch auf andere Situationen anwendbar sind“ (Klieme, 2003, 79).

Die Einsicht, dass „Kompetenzen in bestimmten Anforderungssituationen erworben werden und dann zur Erörterung neuer Probleme und Herausforderungen verwendet werden können“ (Benner/Schieder/Schluß/Willems, 2011, 41) wurde 2008 von Obst in die religionspädagogische Diskussion eingebracht. Obst sah in dem von Weinert entlehnten, auf „Problemlösefähigkeit“ beschränkten Kompetenzbegriff eine für die Religionspädagogik unangemessene Einengung und legte ihren Überlegungen ein erweitertes Verständnis von „Anforderungssituationen“ zugrunde: „Was dieser Begriff für den RU impliziert, wird nicht von der Psychologie oder Erziehungswissenschaft vorgegeben, sondern ist ausschließlich fachdidaktisch zu bestimmen“ (Obst, 2015, 180). Anforderungssituationen müssen daher „einer religionspädagogischen Kritik unterzogen werden“ (Obst, 2015, 187), da sie in spezifischer Weise von berufsbezogenen, mathematischen oder naturwissenschaftlichen Unterrichtskontexten zu unterscheiden sind. „Religiös bestimmte Anforderungssituationen gehen oft nicht auf wie eine mathematische Formel, entziehen sich einer Klassifizierung in ‚richtig‘ und ‚falsch‘, können nicht mit rationaler Plausibilität entschieden werden“ (Obst, 2015, 187). Vor allem dann, wenn es um elementare Fragen religiöser Orientierung, um den „einigen Trost im Leben und im Sterben“ (Heidelberger Katechismus Frage 1), geht, verfehlen sowohl der Begriff der „Problemlösefähigkeit“ als auch der der „Problembearbeitungskompetenz“ (so Benner/Schieder/Schluß/Willems, 2011, 18) die reflexive und diskursive Dimension, die im Religionsunterricht unabdingbar ist.

Obst formuliert daher ihr Verständnis von Anforderungssituationen folgendermaßen: „Kompetenzen zielen auf den Umgang mit alltäglichen oder herausgehobenen Situationen, in denen der Einzelne sich zu konkreten Herausforderungen reflektierend und urteilend verhalten oder in denen er selbst handeln muss, und benennen daher Aspekte einer spezifischen Reflexions- und Handlungsfähigkeit. In solchen Situationen können sich z.B. Fragen stellen, die geklärt oder beantwortet werden sollen, Konflikte zeigen, die zu untersuchen sind, Dilemmata, die ein Urteil provozieren, Fälle, die entwirrt werden sollen, Aufgaben, die zu bearbeiten sind, oder auch Probleme, die gelöst werden müssen. → Kompetenzorientierter Religionsunterricht macht solche Handlungssituationen zum didaktischen Ausgangspunkt des Lernens“ (Obst, 2015, 186).

2. Strukturen

Der Begriff „Anforderungssituation“ unterstellt die allgemeine Erfahrung, dass sich jeder Mensch Zeit seines Lebens unterschiedlichen entwicklungsbezogenen, beruflichen, sozialen, politischen, aber auch genuin religiösen Herausforderungen ausgesetzt sieht, denen er nicht nur auf dem Wege impliziten, beiläufigen Lernens standhalten kann. Zwar kann er solchen Herausforderungen hin und wieder aus dem Wege gehen oder sie verleugnen, verdrängen oder überspielen, aber wenn er mit ihnen bewusst und konstruktiv umgehen und sich mit ihnen auseinandersetzen will, benötigt er bestimmtes Wissen, Bereitschaft, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Was solche Anforderungssituationen in religiöser Hinsicht ausmacht und welche im Unterricht als „didaktischer Widerhaken“ (Obst, 2015, 167) zur Sprache kommen sollen, ist jeweils fachspezifisch, also theologisch und religionspädagogisch zu bestimmen (Obst, 2015, 135). Obst arbeitet folgende Grundstrukturen heraus (Obst, 2015, 184-196):

  • grundlegende existenzielle Fragen (z.B. „Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?“, „Wie gelingt mein Leben?“, „Worauf kann ich vertrauen?“, „Was soll ich tun?“),
  • elementare Erfahrungen und Widerfahrnisse (in denen das Leben gefährdet ist, auf dem Spiel steht, zerstört wird oder in denen Glück, Liebe, Gelingen und Erfolg das Leben bereichern),
  • zentrale Strukturen des Christseins heute (Was bedeutet es, als evangelische Christinnen und Christen in einer pluralen Welt zu glauben und zu leben, grundlegende Kenntnisse über das Christentum und seine Geschichte, zentrale ethische Problemlagen der Gegenwart, in denen sich Christinnen und Christen bewähren müssen),
  • fundamentale Geltungsansprüche religiös pluraler Orientierungsangebote (die Frage nach dem, was sich als wahr und tragfähig für das eigene Leben erweist),
  • bedeutende religiöse Spuren und Traditionen im gesellschaftlich-kulturellen Umfeld (Spuren wahrnehmen, deuten und ihre Bedeutung für gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen einschätzen, Entwicklung einer kulturellen Partizipationsfähigkeit).

„Im kompetenzorientierten Religionsunterricht werden solche Anforderungssituationen didaktisch antizipiert und in die Form von Lernsituationen transformiert“ (Obst, 2015, 186). Es ist daher die entscheidende Aufgabe der Lehrperson, herausfordernde Fragestellungen zu identifizieren, denen Schülerinnen und Schüler im ‚wirklichen Leben‘ begegnen oder begegnen könnten. „Das bedeutet, dass der Unterricht insofern einen ‚Ernstfallcharakter‘ erhält, als er Lernanlässe schaffen oder bereitstellen muss, die sich durch Spannungen, Widersprüche, Unklarheiten, Dilemmata, Konflikte, kognitive Dissonanzen etc., das heißt durch einen spezifischen Aufforderungscharakter auszeichnen und zugleich eine möglichst hohe Nähe zur gelebten Religion aufweisen“ (Obst, 2015, 189).

Nicht alles und jedes religiös Bedeutsame und Aktuelle kann und soll im Religionsunterricht zur Sprache kommen. Vielmehr verdienen nur solche Anforderungssituationen eine didaktische Würdigung, an denen größere fachbezogene Zusammenhänge erschlossen und zentrale bereichsspezifische Kompetenzen erworben werden können. Mit diesem – der bildungstheoretischen Didaktik entlehnten – Prinzip der Exemplarität ergeben sich Schnittstellen zum Elementarisierungs-Ansatz (→ Elementarisierung), auch wenn eine Synchronisierung der Anforderungssituationen mit den elementarisierenden Fragerichtungen (elementare Wahrheiten, elementare Strukturen, elementare Erfahrungen, elementare Zugänge, elementare Lernformen) (Schweitzer, 2012, 242f.) auf erhebliche konzeptionelle Schwierigkeiten stößt (ausführlich Obst, 2015, 104-106). Gleichwohl beruht die Beschreibung der Anforderungssituationen (siehe oben) bereits auf Überlegungen, die eine Verknüpfung mit Aspekten des Elementarisierungsansatzes geradezu erfordern, so z.B. bei den grundlegenden existenziellen Fragen, den elementaren Erfahrungen und Widerfahrnissen oder der strittigen Wahrheitsfrage. „Damit kann der kompetenzorientierte RU auf ein bewährtes didaktisches Suchraster zurückgreifen, das aber insofern zugespitzt wird, als die elementaren Dimensionen als Herausforderungen interpretiert und situativ inszeniert werden“ (Obst, 2015, 192).

Die didaktische Spitze der Arbeit mit Anforderungssituationen liegt darin, dass die traditionelle Perspektive des Unterrichtenden verändert wird. Letztere geht davon aus, dass „die Sache“ des Religionsunterrichts und ihre Bedeutung von der theologischen Wissenschaft vorab festgestellt wird, die Didaktik deren Elementarisierung übernimmt und die Praktiker dann die methodische und mediale Vermittlung der „Sache“ an die Schülerinnen und Schüler inszenieren (Zimmermann/Lenhard, 2015, 116;61). Dieses Vermittlungsparadigma stößt auf erhebliche konzeptionelle und praktische Probleme. Wenn Anforderungssituationen die → Unterrichtsplanung initiieren und strukturieren, ändert sich die Perspektive: Das, was sich als lebensbedeutsam und tragfähig für die Ausbildung eines religiös fundierten Verständnisses der Wirklichkeit und für das eigene Lebens- und Handlungskonzept erweist, wird von vornherein in kontextuellen Bezügen erfragt, ermittelt und muss sich dort bewähren. Deshalb stehen Schülerinnen und Schüler als Subjekte des Lernens im Mittelpunkt des Unterrichts; sie bringen ihre religiösen Erfahrungen, Deutungen, Positionen und Konstrukte in den Unterricht ein, arbeiten sich an fremden oder widerständigen Sichtweisen konstruktiv ab und erwerben in dieser Auseinandersetzung theologisches Wissen und Fähigkeiten. Wie ein solches Planungsmodell aussehen kann, erläutert Obst ausführlich (Obst, 2015, 168; im Überblick 164-178; ausführlich 178-264).

Anforderungssituationen 1

3. Rezeption

Es ist interessant, dass der Begriff der Anforderungssituationen vornehmlich von Fachvertreterinnen und Fachvertretern mit einem hohen Interesse an der Praxis des Religionsunterrichts aufgegriffen wurde, während sich die stärker theorieorientierte Religionspädagogik eher zögerlich bis kritisch verhielt. Offenbar erweist sich die Arbeit mit Anforderungssituationen als didaktisch durchaus fruchtbar, weil sie die Gegenstände des Religionsunterrichts mit dem Leben der Schülerinnen und Schüler verbindet und eine innovative, das kompetenzorientierte Lernen fördernde Unterrichtskonzeption unterstützt.

Auf unterschiedlichen Ebenen ist der Begriff inzwischen breit verankert. Die Rezeption reicht von unterrichtlichen Planungsmodellen (Möller, 2014; Hahn, 2014; Rupp, 2011) über Lehrwerke (Das Kursbuch Religion, 2015; reli plus, 2015; Sensus Religion, 2013), religionspädagogische Zeitschriften (Religion 5-10, 2011ff.), unterrichtspraktische Materialien und Beispiele (Michalke-Leicht, 2013; Gnandt, 2013, Arnhold/Karsch, 2014; Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014) bis hin zu Kerncurricula (Kirchenamt, 2010; Niedersächsisches Kultusministerium, 2009) und Didaktiken anderer Fächer (May, 2011; Wilhelm, 2012).

Dabei zeigt sich, dass „Anforderungssituationen“ einen diskursiven Prozess auszulösen vermögen, der auch zu Präzisierungen und Erweiterungen des Begriffs führt. So konkretisieren Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel dessen unterrichtspraktische Bedeutung nicht nur durch 20 instruktive Beispiele, sondern auch durch grundsätzliche Überlegungen (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 7-15): „Stellen Sie sich einen Zug vor. Die ‚Anforderungssituation‘ ist der Motor, der den Zug der Kompetenzorientierung in Fahrt bringt. Er bestimmt die Route oder den Fahrplan und er macht es möglich zu kontrollieren, ob der Zug an seinem vorgesehenen Ziel angekommen ist“ (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 7). Anforderungssituationen können sich daher „im Lernprozess auf fünffache Weise fruchtbar machen lassen:

  1. 1.Sie dienen der Rückbindung an die Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler und damit auch deren Motivation.
  2. 2.Sie können dazu dienen, Voreinstellungen und Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zu diagnostizieren.
  3. 3.Sie definieren die Kompetenzen, die in einer Unterrichtssequenz aufzubauen sind.
  4. 4.Sie dienen als Fokus für einen schrittweisen Kompetenzaufbau, bei dem neues Wissen, neue Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen sich mit alten verbinden können.
  5. 5.Sie können dazu dienen, die in einer Unterrichtssequenz erworbenen Kompetenzen abzuprüfen“ (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 9).

Die Autorinnen bestimmen zudem acht Kriterien für die Auswahl und den unterrichtlichen Einsatz von Anforderungssituationen (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 10f.) und ordnen diesen ein auf konstruktivistischen Prinzipien basierendes Lernkonzept zu:

  1. 1.Wirklichkeitsnähe, Lebensrelevanz und Anwendungsbezug,
  2. 2.Disziplin- oder Fächerübergriff,
  3. 3.Fokus auf dem Aneignungsprozess bei sukzessivem Kompetenzaufbau,
  4. 4.Didaktischer Ausgangspunkt für die Planung einer Unterrichtssequenz,
  5. 5.Variable Stellung und Funktion im Unterrichtsprozess,
  6. 6.Induktives, entdeckendes Lernkonzept,
  7. 7.Im Sinne eines konstruktivistischen Lernens unterschiedliche, selbst gesteuerte Aneignungswege, individualisiertes Lernen, Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an der Planung, Mitverantwortung für Kompetenzerwerb,
  8. 8.Alters- und unterrichtsgemäße Reduktion und Elementarisierung bei anspruchsvollem Lernpotential.

4. Kritik

Die Kritik an Anforderungssituationen als „didaktischem Schlüsselprinzip des Unterrichts“ (Obst, 2015, 243) wird in der Regel nicht isoliert, sondern als Teilaspekt einer grundsätzlichen Problematisierung des kompetenzorientierten Religionsunterrichts (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht) vorgetragen (Lenhard, 2015; Obst, 2015, 130-152). Generell wird unterstellt, dass sich Anforderungssituationen auf das handlungsorientierte Lösen von Problemen beschränken und damit das Wesentliche im Religionsunterricht verfehlen (Dressler, 2010, 526). Der didaktischen Nutzung von Anforderungssituationen wird ein begrenztes Recht zugesprochen, zugleich wird aber in Frage gestellt, ob diese unterrichtlich das leisten, was sie zu versprechen scheinen.

Schweitzer (2014, 27; dazu Obst, 2015, 180) etwa vermutet, dass sich bei einem solchen Religionsunterricht Langeweile einstellen werde, weil das Artikulationsmuster immer auf dasselbe hinausliefe: „Finde den religiösen Aspekt oder Hintergrund!“ Schweitzer dürfte allerdings einem Missverständnis aufgesessen sein, denn Anforderungssituationen stellen die religiös bedeutsame Herausforderung von vornherein in den Mittelpunkt des Unterrichts.

Schröders Kritik (2014; dazu Obst, 2015, 148-152) zielt auf eine generelle „Depotenzierung“ (Schröder, 2014, 181) des kompetenzorientierten Religionsunterrichts als „Chiffre für prozess- und schülerorientierte Didaktik“ (Schröder, 2014, 189). Allerdings bezweifelt Schröder, dass man damit dem Desiderat guten Unterrichts näher komme. Insbesondere die zentralen Elemente der Kompetenzorientierung, die „curricular und didaktisch erforderlichen Anforderungssituationen“, verlören den Bezug zu konkreten Schülererfahrungen, neigten zur „Dekontextualisierung“ (Schröder, 2014, 190) und würden „den Schülerinnen und Schülern als ihre vermeintlich eigenen übergestülpt“ (Schröder, 2014, 190). Damit gehe die Auseinandersetzung mit dem Potential der Sache verloren, die letztlich nur für den Kompetenzaufbau funktionalisiert werde (Schröder, 2014, 189).

Schröder folgt mit seiner Kritik Spuren, die bereits Kritiker des früheren lernzielorientierten und problemorientierten Religionsunterrichts gelegt haben. Im Hintergrund dürfte ein traditionelles Vermittlungsparadigma stehen, das von einer vorgegebenen Dignität theologisch vorab bestimmter „Lerngegenstände“ ausgeht und den Schülerinnen und Schülern – vermittelt durch die Lehrkraft – die Aufgabe zuweist, sich an der Fremdheit dieser Gegenstände abzuarbeiten. Im Unterschied dazu besteht kompetenzorientierter Religionsunterricht darauf, dass gerade die Auseinandersetzung mit Anforderungssituationen hilft, die Lebensbedeutung der kontextualisierten „Sache“ zu erschließen und das für diesen Erschließungsprozess notwendige Wissen und Können zu erwerben.

Husmann (Husmann, 2012, 252; dazu Obst, 2015, 181-184) weist den Anforderungssituationen zwar einen legitimen Ort „im tatsächlichen Leben“ zu, weil sich erst hier herausstelle, ob die in der Schule erworbenen Kompetenzen sich auch im Ernstfall bewähren. Wir überheben uns theologisch, so Husmann, „wenn wir meinen, Situationen, Herausforderungen und Problemlagen unserer Schülerinnen und Schüler sowohl in der Jetzt-Zeit, insbesondere aber für die Zukunft, kennen und in vorausschauender Planung durch bestimmte Aufgabentypen und Lernarrangements begegnen zu können. [...] Das Leben hält – Gott sei Dank – andere Herausforderungen bereit, als wie unsere Lehrerinnen und Lehrer es sich zu Schulzeiten jemals hätten ausmalen können. [...] Das wirkliche Leben kommt erst noch“ (Husmann, 2012, 256).

So sehr Husmanns Einschätzung der Unmöglichkeit, lebensbedeutsame Ereignisse vorherzusehen und zu antizipieren, ein Grundproblem von Schule und Unterricht überhaupt benennt, so sehr käme es einer Kapitulation aller unterrichtlichen Bemühungen gleich, wollte der Unterricht darauf verzichten, die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung seiner Themen so sorgfältig wie möglich zu erheben. Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten werden eben nicht für singuläre Situationen und Gegenstände erworben oder als zeitloser Vorrat angehäuft, sondern um sie „in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Klieme, 2003, 72). Und deshalb dürfen Anforderungssituationen nicht erst in der Performanz gelebten Lebens eine Rolle spielen, sondern müssen bereits im Unterricht inszeniert und modelliert werden.

Fricke befasst sich in seiner ausführlichen Kritik am kompetenzorientierten Religionsunterricht, die sich in zentralen Punkten mit der Schröders deckt, auch mit Anforderungssituationen (Fricke, 2015, 384-387). Zwar konzediert Fricke, dass „das Arbeiten mit Anforderungssituationen in bestimmten Fällen zu sehr guten Arrangements und Ergebnissen führt“ (Fricke, 2015, 399), aber er lehnt das didaktische Modell als „Norm“ für den Religionsunterricht ab: „Je weiter das zu behandelnde Thema von den Schülern entfernt ist, desto größer die Gefahr, dass ihr ‚Herbeiholen‘ mittels Anforderungssituationen die Gegenstände verzerrt und religiöses Lernen verunmöglicht“ (Fricke, 2015, 399f.). Auch das Kriterium der Alltagsrelevanz“ könne nicht von allen Anforderungssituationen eingelöst werden (Fricke, 2015, 384). Zudem deckten Anforderungssituationen nur einen kleinen Bereich des Lebens ab, während „große Bereiche des menschlichen Lebens ohne Zutun einer erworbenen Kompetenz ablaufen“ (Fricke, 2015, 385). Schließlich werde die Elementarisierungsleistung der Lehrperson unterbewertet, da deren didaktische Verantwortung „in den Hintergrund gedrängt oder als selbstverständlich vorausgesetzt“ werde (Fricke, 2015, 387).

Dass nicht alle Unterrichtsprozesse im Religionsunterricht unter dem didaktischen Dach von Anforderungssituationen erfolgen, dürfte einleuchtend sein. Dazu gehören einerseits Gegenstände, die dem Erwerb „instrumenteller Kompetenzen“ dienen (Obst, 2015, 212), wie etwa die Namen der biblischen Bücher auswendig wiederzugeben, Bibelstellen nachzuschlagen, Jahreszahlen von Brennpunkten der Kirchengeschichte zu memorieren etc. Andererseits zeichnet sich der Religionsunterricht dadurch aus, dass er einen „Raum der Freiheit“ für die individuelle Begegnung mit christlichem Glauben und Leben offen hält, der nicht planbar ist (Obst, 2015, 265-268). Insofern sind Anforderungssituationen nicht die Norm für alles und jedes, was im Religionsunterricht geschieht. Es kann auch keine Rede davon sein, dass es ausschließlich um Alltagsrelevanz geht. Lebensbedeutsamkeit erschöpft sich nicht im pragmatischen Nutzen, sondern greift tiefer. Allerdings beanspruchen Anforderungssituationen, solche religiös relevanten Themen aufzugreifen, deren Gewicht und Tragweite für das eigene Leben in kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten plausibel gemacht werden kann, auch wenn die Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler zunächst keinen oder nur einen geringen Bezug dazu haben. Die Lehr-Leistung, komplexe Anforderungssituationen zu identifizieren, ihren Stellenwert für die Schülerinnen und Schüler zu bestimmen, sie theologisch zu analysieren und didaktisch zu inszenieren dürfte indes erheblich anspruchsvoller sein als die herkömmliche Art der Unterrichtsplanung (Obst, 2015, 160-164).

5. Offene Fragen

Die Metastruktur „Kompetenzorientierung“ hat eine produktive Dynamik ausgelöst, die dazu ermutigt, den Religionsunterricht neu zu denken (Grümme/Lenhard/Pirner, 2012). Unverkennbar gleicht aber die unterrichtliche Konkretisierung von Anforderungssituationen noch einem Experimentierfeld. Ob und inwieweit sich der didaktische Widerhaken als tragfähig erweist, wird sich auch daran entscheiden, ob es gelingt, auf spezifische Anfragen in der Praxis überzeugende Antworten zu finden, z.B:

  • „Wie stark ist der durch die Anforderungssituation ausgelöste Impuls, etwas zu erforschen, zu formulieren, zu diskutieren, zu gestalten, zu untersuchen oder können zu wollen?“ (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 12)
  • Können Anforderungssituationen zu einer vertieften und theologisch anspruchsvollen inhaltlichen Auseinandersetzung beitragen? (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 11)
  • Müssen Anforderungssituationen notwendig lebensweltlich authentisch sein oder können sie auch als fiktive, wenngleich real mögliche Situationen inszeniert werden?
  • „Gibt es Unterrichtsbezüge, in denen (besser) keine Anforderungssituationen zu finden sind?“ (Bürig-Heinze/Rösener/Schaper/Stoebe/Wenzel, 2014, 7)
  • Wie lassen sich Kompetenzen im Zusammenhang mit Anforderungssituationen möglichst valide, reliabel und nachvollziehbar, aber mit schulischen erfahrungsgestützten Mitteln überprüfen?
  • Was tragen Anforderungssituationen zu einem den Schülerinnen und Schüler einleuchtenden Bibelverständnis bei? (dazu Lenhard/Obst, 2013).

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Planungsaspekte des kompetenzorientierten Religionsunterrichts Obst, Gabriele, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 4. Auflage 2015, 168

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